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Full text of "Neue Bündel: Unkraut, Knospen und Blüten aus dem blumigen Reiche der Mitte"

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Nene Bündel 

Unkraut, Knospen und Blüten 

aus dem 

blumigen Reiche der Mitte 



Si<J«? 



Gepflückt und zusammengebunden 



* t Rudolph Pieper S. V. D. $ * 

Missionar 



Mit Illustrationen 



Jentschoufu 

Druck und Verlag der katholischen Mission 

1908 



C-L- 

t/</fj&c.'JJLe£ diu 



Aufklärung. 



Ein langatmiger Titel von mittelalterligem Beigeschmack, 
denkt zweifelsohne der freundliche Leser ; dahinter steckt sicher 
ein langweiliger Inhalt. Und soll mir doch das Lesen die 
Langeweile vertreiben, oder will ich als Mann der Wissenschaft 
Belehrung dabei suchen über chinesische Verhältnisse : also fort 
mit dem Buche; denn zum Schlafeinlullen gebrauche ich alle- 
weil noch keines. 

Gemach, mein Freund, nicht so eilig. Weißt doch wohl, 
der Titel ist nur so ein Aushängeschild ähnlich der Orden, die 
manche Herren tragen mit langen Titulaturen. Wer aber wollte 
sich erkühnen, zu behaupten, daß hinter den Ordens- und Titels- 
führern nicht viel stecke. Hiermit soll nun aber keineswegs 
gesagt sein, in meinem Buche finde sich nichts Langweiliges und 
Mancherlei, an dem der Leser weniger Interesse hat. Immer 
interessant zu sein, ist nicht jedem gegeben und auch nicht immer 
gut. Gehören ja zum Unkraut auch Disteln und Dornen, und selbst 
die Rose trägt noch ihre Stacheln. Dag ich mich im Titel aber 
wieder mit der Botanikschachtel vorstelle, kommt daher, weil der 
geehrte Leser mich bereits als Unkrautsammler kennt. Das da- 
mals Gebotene ist so ziemlich vergriffen und ich wurde zu neuem 
Sammeln angespornt von jemanden, dessen Wunsch mir Befehl 
sein muß. Das Sammeln geschah so nebenbei, wie es der Wan- 
derer tut, wenn er sich ein Veilchen pflückt oder Gänseblümchen 
oder ein Zweiglein vom Ginsterstrauch, wie es bescheiden am 
Wege wächst. Gerade wie die Hauptsache für den Wanderer 
ist, fortzueilen seines Weges, damit er weiter komme, hat der 
Missionar im Allgemeinen genug zu tun mit andern Arbeiten am 
Seelenheile, und das Schreiben ist nicht sein Fach. Zudem wird 
heutzutage genug geschrieben, daß schier alle Gänse auf Gottes 
weiter Welt nicht Federn genug liefern könnten, wenn man deren 
noch benötigte. Der Missionar hat nun allerdings den Vorteil 
für sich, daß sein „Unkraut" exotisches ist und weit herkommt; 
man sich heutzutage aber recht interessiert für das Unbekannte. 



- IV - 

Dann aber soll das Buch vor allem als Erinnerungszeichen 
dienen, als Ausdruck der Dankbarkeit. So ein Missionar ist 
Bettler in höchster Potenz. Zunächst beim lieben Gott und da 
muß er oft recht stürmisch anklopfen für die verrosteten Heiden- 
herzen und Gnade für sie erbitten und Erbarmen. Dann bei den 
zu bekehrenden Sündern, und die lassen sich meistens lange ge- 
nug bitten, ehe sie Miene machen, abzulassen von ihrem Sünden- 
tun ; und endlich klopft er an die lieben Christenherzen daheim, 
damit sie mithelfen durch Gebet und Almosen das Werk der 
Christianisierung im Heidenlande zu unterstützen. Und da bin ich 
manchem verehrten Leser bekannt genug, dermaßen, daß man 
mir bereits das Zeugnis eines „ Musterbettlers " ausgestellt. Nun 
ist es aber ein süßes Bewußtsein für den Bettler, sich in etwa 
dankbar zu bezeigen und etwas wieder geben zu können. So 
möge man denn das Gebotene als Gegenpräsent aufnehmen und 
ansehen und auch beim Lesen des Buches verfahren nach dem 
Sprüchlein vom geschenkten Gaul. Der Verleger freilich wird 
das Buch wohl nicht schenken wollen, so gerne ich auch mei- 
nerseits dazu bereit wäre. Möge sich denn der verehrte Leser 
mit dem guten Willen abfinden lassen und meinen nochmaligen 
Dankesbezeugungen. 

NB. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweise ich auf ver- 
wandte Gegenstände, über die ich bereits in meinem „Unkraute u 
geschrieben, mit einem U. nebst Seitenzahl hin. Manches in diesem 
Buche wird als Ergänzung dienen zu dem dort Gebotenen. 

Puoly, den 18. Januar 1907. 

Der Verfasser. 



Inhaltsverzeichnis. 



Seite 
Aufklärung III 

Erster Teil. 



Die vier Jahreszeiten 1 

Der Frühling 3 

Chinesische Wetterregeln . , . 6 

Der Sommer 10 

Die Hundstage 15 

Der Ursprung der Hacke 16 

Die Weizenernte 17 

Summerfäden 20 

Wassermelonenfest iu Puoly 21 

Der Herbst 27 

Wachteln in China 31 

Hasentreibjagd . . . . 37 

Der Winter .39 

Uen-pa-chi-ti 45 

Schul denmachen und Schuldenein treiben 46 

Schlau angelegt 50 

Wie die Chinesen ihre Götzen betrügen 55 

Wie die Chinesen mit Wasser die Lebensmittel fälschen .... 57 

Der Winkeladvokat Wen 61 

Papa Tschou 64 

Kuriose Heiraten . . .72 

Hochzeits- und Begränisfeierlichkeit an einem Tage 76 

Leben sverlängerungs- und Stärkungsmittel der Chinesen .... 78 
Die Prügelheilmethode . . . . . . . . . .82 

Wunderbare Allopathie 85 

Das Nationalgericht der Chinesen 87 

Immer nobel 90 

Chinesischer Gernegroß . . .92 

Ratten und Mäuse 94 

Eine eigentümliche Geschichte 98 

Die Stiefmutter in China 100 

Die Witwe und ihre Ehrung 103 

Ein chinesischer Pantoffelheld 108. 

Brunnen in China 109 

Ahnentempel und -Tafeln 114 

Der „heiligste Wald tt 121 

Brfrfwesen . . . . 124 

Markt und Messe 129 

Reklame 133 

Der chinesische Wagen und sein Lenker 137 

Der Kompaß . 142 



— VI — 

Di^ Blinden in China 145 

8chmuckgegenstände 150 

Die Ziegelbrennerei 154 

Der Chinesenköter 157 

Das Pferd 159 

Das verflixte Chinesisch 165 

Zweiter Teil: Erinnerungen aus Peking. 

Spaziergang auf die Mauer der Haopstadt des himmlischen Reiches 172 

Von Pnoly nach Peking 191 

Eis und Blumen in Peking 197 

Chinesischer Zellenschmelz 201 

Zwei Wachtturme 204 

Das „heilige 11 Ackerland des Kaisers von China 209 

Durch die Straßen Pekings 214 

Ma-ngau-schen, das Sommerqnartier der deutschen Trappen in Peking • 222 

Beförderungsmittel in Peking 230 

Die Eunuchen am Kaiserhofe 232 

Pekinger Mohren und Wohltätigkeitseinrichtungen 236 

Etwas oher chinesische Nasen nnd den Pekinger Schnupftabak und Staub 240 

Theaterspiel 242 

In den Pagoden Pekings 246 

Das Hauptheiligtum in Peking 259 

Pekinger Tagebuch 267 

Von Peking nach Puoly 277 

Dritter Teil: Aus dem Missionsleben. 

Geächtet und vertrieben 286 

Von Tsingtau nach Kiautschou 292 

Erste Stimmungsbilder nach den Boxerunrahen 296 

Kur Mut! immer weiter! 309 

Maria Helferin der Christen 311 

Zwei Tage Aufenthalt 315 

Auf der Reise nach Tjü fu ....,*... 319 

Des Missionars Festtagswohnung und seine Stubengenossen 325 

Bischofsweihe in Yentsch'oufn 332 

Der „kostbare Turm* Ton Tenfu 334 

Des Teufels letzter Versach 338 

Auffallende Bekehrung zweier Heiden S39 

Nebenbei 344 

Bestrafte Sonntagsentheiligung 347 

Ein Licht in der Finsternis 349 

Böse Heidin — gute Christin 352 

Muster eines guten Hausvaters 355 

Ein bejahrtes Ehepaar 357 

Ein gutes Wort 360 

Puolj Ton einst 362 

Puoly Ton jetzt 386 

Typen aus dem Waisenhaus in Puolj 373 

Tagebuch und Gedankenschnitzel auf apostolischen Reisen 388 



Erster Teil. 



Die vier Jahreszeiten in China. 




„Der Frühling öffnet uns duftende Gefilde 
Es ergötzt der Sommer mit grünen Teppichen und Seen. 
Im Herbst trinkt man goldenen Blumenwein 
Des Winters glänzender Schnee begeistert den singenden 

[Dichter." 
(Schen-tung-sche Lied vom Wunderknabe; letzte Strophe). 

Zeit, als des unbezopften Mannes Urahnen ihre „Nesten- 
wohnungen" (ts'ao-sche) im Laube der Bäume aufgeschlagen 
hatten, gab es für sie noch keine vier Jahreszeiten. Das Dach 
Jf 1 if L^ES ll ^ er dem Haupte war immer grün und reparierte sich so lange, 
als der Baum am Leben blieb. Wohl fühlte man den Unterschied 
der Witterung und wußte, ob es heiß oder kalt war ; aber der 
gestrenge Winter mit eisbepanzerter Faust und einem dicken 
Schneemantel war noch ein unbekannter Herr. Erst als die süd- 
lichen Wohnsitze zu enge wurden und die Yölkerwelle stetig mehr 
zum Norden drängte, begriff man, daß nicht überall auf der Welt 
ewiger Frühling sei. Jetzt muß schon seit mehr denn tausend 
Jahren der Chinesenbub in seiner Fibel lernen: „Den Himmel be- 
grenzen vier Gegenden: Osten, Westen, Süden, Norden. Das Jahr 
hat vier Zeiten, Frühling, Sommer, Herbst und Winter". (San tze 
tjing; z. Z. der Sung-Dynastie 420 nach Chr. verfaßt). Somit ent- 
spricht, chinesischer Anschauung gemäß, jeder Jahreszeit eine Him- 
melsgegend. Dem Osten entsteigt der junge Tag ; er ist das Bild 
des Frühlings, des neuen Jahres. Ihre Mittagshöhe erreicht die 
Sonne im Süden und dann ist der Tag am wärmsten ; somit hat der 
Sommer im Süden seinen Wohnsitz. Der Herbst aber wohnt im 
Westen; dorthin rückt allmählich die untergehende Sonne, immer 

R. Pieper, „Neue Bündel", 1 



— 2 — 

sparsamer Licht und Wärme spendend. Und ist sie entschwunden, 
hört des Tages Schaffen und Arbeiten auf. Der Herbst bringt des 
Sommers Früchte vollends zur Reife und lohnt der Arbeit Schweiß. 
Wenn aber die Felder kahl und öde geworden und die Bäume ihres 
Blütenmantels beraubt sind, hält der Winter seinen Einzug: ey 
kommt aus dem kalten Norden. 

Ferner entspricht jeder Jahreszeit ein Ministerium. Der Präsi- 
dent des Zeremonienamtes heißt „ Frühlingsminister u (tsch'uin-tj'in) 
und sein Ressort „Frühlingsbehörde u (tsch'uin-pu). Der Frühling klei- 
det die Natur mit Blättern und Blüten ; was diese aber für die Erde 
sind, das bedeutet Anstand und gute Sitte für die Menschen. Der 
Geschäftskreis des Kriegsministers wird „ Sommerbehörde u (chia-pu) 
benannt; er aber ist der „Soinmermi nister " (chia-tj'in). Wie man 
nämlich von Sommerhitze spricht, spricht man auch von der Hitze 
des Krieges ; und wie die Früchte des Feldes im Schweiße des Ange- 
sichtes eingeheimst werden müssen, darf ein echter Krieger keine 
Mühe und Anstrengung scheuen, will er Siegeslorbeeren ernten. 

Der Herbst entspricht dem Justizministerium und der Präsident 
heißt „Herbstminister" (t'siu-tj'in). Wie nämlich der Herbst die Saat 
zur Reife bringt, soll das Ressort des Justizministers der Gerechtig- 
keit zu ihrem Rechte verhelfen und die Verbrechen nach Gebühr 
bestrafen ; mit anderen Worten : Der Verbrecher soll die Frucht 
seiner bösen Tat ernten. 

Der Winter endlich versinnbildet das Ministerium für öffent- 
liche Arbeiten (kung-pu). Der Präsident derselben wird „Winter- 
minister" (tung-tj'in) benannt. Während der anderen Jahreszeiten 
hält sich das Volk meistens im Freien, in der Natur auf. Im 
Winter aber zieht es sich in die Wohnungen zurück und verbirgt 
sich hinter den vier Wänden. Der Behörde nun, welche für 
öffentliche Arbeiten zu sorgen hat, liegt es ob, schadhafte Woh- 
nungen zu reparieren und neue zu bauen. Zudem ist im Winter 
das Volk durch keine Feldarbeiten in Auspruch genommen und hat 
Zeit bei Wege-, Kanal- und Dammarbeiten seine Kräfte einzusetzen. 

Bekanntlich gibt es aber in China (sowohl in Peking im Großen 
als in den Bezirksstädten im Kleinen) in Ganzen sechs Behörden 
(liu-pu). Es wäre also noch das Ministerium für Civilämter (li-pu) 
und jenes für Finanzwesen in Beziehung zu bringen. Ersteres wird 
als des „Himmels-Ressort" (t'ien-pu) bezeichnet. Wie nämlich der 
Himmel seinen Einfluß auf die ganze Erde äußert, hat dieses wich- 
tige Ministerium (in Peking) welches die Anstellung der höchsten 
Beamten überwacht, Einfluß auf das ganze Reich. Die Abteilung 



— 3 — 

für das Finanzwesen wird „Erdministerium" (ti-pu) benannt. Die 
Erde bringt Früchte hervor, daß das Yolk zu leben hat ; das Volk 
aber hat Abgaben zu entrichten für den Säckel des Kaisers. Auf- 
gabe des Ressorts für die Finanzen ist es, solche einzutreiben. 

^ Die chinesische Phantasie kleidet den Frühling in violet. Der 

Sommer erscheint in rotem Gewände; die Farbe des Herbstes ist 
weiß: der Winter aber hüllt sich in schwarz, die Farbe der Nacht 
und des Todes. Freilich schneit es in China verhältnismäßig nur 
sehr selten, und ist die Grundfarbe des Winters fahl und grau. 
Zudem hat der Winter ja im „schwarzen Norden u seinen Wohnsitz, 
wohin die Sonne niemals ihren Weg nimmt. 



Der Frühling. 




„Freu dich des Kreuzes, das am Wege dich grüßet, 
Der Linde, die dich schirmt mit breiten Blättern, 
Der Lerchenlieder, die vom Himmel schmettern, 
Der bunten Blume, die am Bache sprießet". 

J. W. Weber. 

geblich mahnt der Dichter uns Bewohner des „Blumen- 
reiches" zur Freude über Dinge, nach denen hier das Auge 
^ umsonst ausluggt. Kein Kreuz grüßt am Wege ; die Linde aber 
E$5öjSlffi w iU s i cn hi er nimmer heimisch fühlen. Weit entfernt, ein Dach 
zu spannen, hängen die Zweiglein müde hernieder und ehe der Krüppel 
zum Baum geworden, stirbt er ab. Vereinzelt läßt die Lerche ihr Früh- 
lingslied ertönen, doch will kein schmetternder Jubel der kleinen 
Brust entquillen. Einen Bach aber, an dem bunte Blumen sprießen, 
sucht der freundliche Wanderer vergebens im „blumigen Reiche", 
es sei denn, du pilgertest in die Berge oder fändest neue Gefilde. 
Aber trotzdem ist auch in China der Frühling ein gern gesehener 
Gast, so zwar, daß ihn schon sehr früh die Spitzen der Regierung 
abholen müssen, nämlich am 5. Februar, also zu einer Zeit, da bei 
uns daheim der Winter noch fest im Sattel sitzt. Er kommt von 
Osten her und als sein Genius gilt der „grüne Kaiser " (Fuhi). Als 
Hauptsymbol erscheint bei dieser Feierlichkeit der „Frühlingsochse". 
Überhaupt hat der „gehörnte Genosse" für den ackerbautreibenden 
Bauer mehr Interesse als Pferd und Esel. Bauer und Ochs haben 
es während des Winters gemütlich gehabt, beide haben das süße 
Nichtstun gepflegt; jetzt heißt es wieder auf der Bildfläche erschei- 
nen, jetzt muß wieder gearbeitet und geschwitzt werden. 



— 4 — 

In China, wo von Alters her der Bauer mehr gilt als Kauf- 
mann und Handwerker, wird er als jene Persönlichkeit betrachtet, 
„von der die Allgemeinheit zehrt a . Dieser Gedanke kommt dadurch 
zum Ausdruck, daß der Frühlingsochse, nachdem man ihn mit Kom- 
plimenten bedacht hat, zerschlagen wird. Das Innere ist angefüllt 
mit eßbaren Sachen, um die sich dann die Zuschauer balgen. Wer 
ein Stück erhascht, hebt es sorgfältig auf als Talisman, der ihn das 
Jahr hindurch beschützen soll. 

Tags vor der Ochsenzeremonie kommt der Frühlingsherold 
angeritten, als Mandarin verkleidet. Schnurstracks nimmt er seinen 
Weg in die Tribunale der hohen Beamten und ruft mit lauter 
Stimme: „Kunde! Kunde! Kunde! einen neuen Frühling kündige ich 
an!" Darauf erhält er eine Belohnung. Nachdem er Kehrt gemacht 
und einige Schritte weit geritten ist, schwenkt er nochmals um und 
wünscht dem Beamten eine höhere Stelle und ein fetteres Einkom- 
men, worauf dieser eine zweite und dritte Belohnung zahlt. Der 
Frühlingsochse wechselt alljährlich seine Farbe. Je nachdem er 
in schwarzer, weißer oder roter Farbe erscheint, weiß das Yolk, 
wie das kommende Jahr sich gestalten wird. Ein schwarzer Ochs 
zeigt Trockenheit an, während der rote Überschwemmung im Ge- 
folge hat. Freilich bedeutet die schwarze Farbe Wasser und die 
rote Trockenheit (Feuer), aber der Ochs ist gerade so verkehrten 
Sinnes wie sein Treiber Jao-ma, der immer das Gegenteil von dem 
tut, was man ihm befohlen. (U. Seite 256). Die Sitte des Frühlings- 
abholens soll nach dem Liking aus der Zeit der Tschoudynastie 
(1122 — 255 v. Chr.) stammen, also ins hohe Altertum hinüberreichen. 

Am Ende der ersten Hälfte des Frühlings, dem 5. März, feiert 
man das Erwachen der Insekten. Allerdings wagen sich an der 
Südseite von Häusern und Wällen in der warmen Mittagssonne schon 
einige Fliegen und Mücken heraus, im übrigen ist es aber um diese 
Zeit noch recht empfindlich kalt. Für den Imker gilt dieser Tag 
als Honigernte. Mag es stürmen oder regnen, heute muß „der Bien" 
daran glauben ; unbarmherzig wird ihm genommen, was er im Win- 
ter übrig gelassen. Und das ist nach der chinesischen Methode oft 
recht viel, obschon der chinesische Imker die Bienenwirtschaft nicht 
„rationell u betreibt. 

Auch der Chinese verbindet mit dem Frühling den Begriff 
des Schönen und Angenehmen. Statt eines „glückseligen neuen 
Jahres" wünscht er „neuen Frühling, neue Freude". Und doch 
entbehrt der chinesische Frühling in der Regel des lieblichen Rei- 
zes, den uns daheim der Lenz bringt. Statt Blütenstaub bringt er 



— 5 — 

Staub aus dem Norden, ganze Wolken, die bisweilen selbst die 
Sonne verdunkeln, einen Staub der in die entlegensten Winkel von 
Nase und Ohren dringt, auch wenn wir im Zimmer sitzen. Die 
Singvögelwelt vertritt Herr Spatz, der im Frühling sein freches 
Geschrei noch lauter zum Besten gibt und sich mit seinen Genossen 
herumbalgt, wenn es sich um die Wahl einer Sommergefährtin han- 
delt oder um die Gründung eines Heims. Kein Schneeglöcklein 
läutet den chinesischen Frühling ein, kein Veilchen spendet süßen Duft 
im verborgenen Heckengrün. Der gewöhnliche Mann hat übrigens 
auch wenig Sinn für Vogelkonzert und Blumen duft, seine Sorgen 
sind auf den Erwerb gerichtet. Wer aber Zeit und Geld genug 
hat und die Annehmlichkeiten des Frühlings genießen will, hält 
sich vor allem einen Vogel im Käfig, den er mit sich spazieren führt 
ins Feld, und an dessen Gesang er sich ergötzt. Das Fenster wird 
mit Frühlingsblumen belebt oder durch einige Rüben, die darin auf- 
gehängt sind. Diese entwickeln sich mit der Zeit zu wahren Wunder- 
gebilden, wie sie unsere Kunstgärtner daheim noch nicht erfunden. 
Die Rübe wird nämlich in der Mitte durchgeschnitten und dann 
ausgehöhlt. In diese Höhlung schüttet man Wasser, das öfter er- 
neuert werden muß. Das nach unten hängende Kopfende schlägt 
aus, bekommt Blätter und Blüthen, die nach oben streben und 
somit die Rübe überdecken. Auch werden noch einige Knoblauch- 
knollen in das Wasser gelegt, die gleichfalls treiben, so das aus 
dem Ganzen ein ebenso zierliches wie merkwürdiges Gebilde entsteht. 

Der bezopften Dichterphantasie bot der Frühling von jeher 
nicht weniger Motive blütenreicher Gedanken als anderswo: Ein 
Schüler, dessen Lehrer ein vortrefflicher Mann ist, wird vom Früh- 
lingswinde umsäuselt. — Wer gutes tut, läßt überall Frühlingsspu- 
ren zurück. — Eine gut besetzte Tafel nennt man Frühlingsmahlzeit 
Spricht man von Frühlingswinden, so versteht man darunter freu- 
dige Ereignisse. — Wer sich mit Heiratsgedanken abgibt, dem liegt 
der Frühling im Magen. — Wer ein freundliches Gesicht macht, 
setzt die Frühlingsmiene auf. — Jünglingsjahre werden als die Früh- 
lingsjahre des Lebens bezeichnet, und will man wissen, wie alt ein 
junger Mann sei, so fragt man nach der Zahl seiner Frühlinge. 

Als Probe aber, wie der chinesische Poet den Frühling 
beschreibt, mögen einige Zeilen aus „dem Liede vom Wunder- 
knaben" (Schen-tung sehe) dienen. 

„Aufgeweckt werden die Erdadern durch den milden Früh- 
lingshauch; saftiges Grün erneuert die Gegend, soweit das Auge 
reicht. Ein Aprikosenzweig bricht die Kälte des letzten Winter- 



— 6 — 

monates, das ganze Naturgebilde gestaltet sich zum neuen Frühling. 
Des Weidenbaumes Farbenpracht strahlt aus dem Kleide grünlich 
wieder; die Pfirsichblüte macht den Wein rötlich glänzen. In der 
kaiserlichen Metropole gehen die Würdenträger lustwandeln und 
berauschen sich täglich an Frühlingslüften. Reizend ist der Lenz 
zur Zeit des «klaren Lichtes* (5. April), es deckt ihn ein arzur- 
ner Himmel mit buntdurchwirkten F ranzen. Warum ergießen 
sich Jahr für Jahr um diese Zeit Regenschauer in so mächtigen 
Fluten?* 

Unter bejahrten Leuten und Schwindsüchtigen räumt auch 
hier zu Lande der Frühling auf. Das stärkere Geschlecht aber soll 
eher daran glauben müssen als das schwache. Ein Sprichwort 
besagt, daß Männer den Frühlingsanfang (5. Februar) fürchten, die 
Frauen aberdas „Erwachen der Insekten" (5. März). 



Chinesische Wetterregeln. 

„Brüllt der Tiger in den Klüften 
Saust der Sturmwind durch das Tal 
Tanzt der Draeho in den Lüften 
Rollt daher der Donnerschwall ! tt 
(Dichter Jang-fang>. 

der chinesische Bauer hat seine Wetterregeln und 
^krittischen Tage", die im allgemeinen wohl nicht weniger 
zutreffend sind, als wie sie der hundertjährige Kalender 
rhersagt oder unser Wetterprophet Falb. Recht gewissen- 
haft richtet man sich nach diesen Kegeln zumal bei der Aussaat 
auf dem Felde oder zur Zeit der Ernte, und nicht minder wenn 
man auf Reisen gehen will oder wenn es sich um eine Heirat 
handelt. 

Morgenrot ist ein Yorbote von Regen gerade wie daheim : 
„Wenn sich der Morgen kleidet in Rot — Liegt am Abend 
der Hanf im Kot." 

Abendrot aber wird als Verkünder von gutem AVetter begrüßt : 
„Wenn Feuerwolken am Abende ziehen — werden am näch- 
sten Tage die Leute vor Hitze vergehen." 

Eine andere Regel hat den nämlichen Sinn: 
„Strahlt Abendrot, darfst du einen tausend Li langen Weg wagen 
— Beim Morgendrot aber hloib zu Haine. u 




— 7 — 

Besondere Aufmerksamkeit schenkt man der Morgensonne und 
beobachtet, was sie für ein Gesicht macht ; es wird daraus geschlossen, 
wie der kommende Tag sich benimmt: 

„Die Frühsonne mit einem Mondgesicht — Läßt den wilden 
Nord frei toben. " 

„In der Frühe habe Acht auf den Südost — Gegen Abend 
nimm den Nordwest in Augenschein. " 

„Erwacht die Sonne früh am Morgen, wäscht der Eegen dir 
den Kopf. — Kommt sie aber erst später hervor, stirbt vor Hitze 
der Kranich. " 

„Wenn die Sonne mit einem Ohr emporsteigt, gibt es Wind. 

— Hat sie aber zwei Ohren, steht Regen in Aussicht. " 

„Später Regen setzt während der Nacht nicht aus ; — Beim 
Morgendämmern hört er aber von selber auf." 

„Ostwind in der Früh, zieht Regen herab." 

„Der Südwind geht dem Regen entgegen, gleichwie die eigene 
Mutter ihr Mädchen abholt." 

„Wenn sich Abends der Westwind nach sieben noch nicht 
legt — Bläst er die ganze Nacht hindurch." 

„Geht der Südwind über den Mittag hinaus, — kommt er auch 
am Abend nicht zur Ruhe." 

„Zu Sommeranfang erstirbt der Wind ; bleibt er aber am Leben, 
dann faucht er noch vierzig Tage lang." 

„Bringt der Herbst keinen kalten Wind, zieht der Winter 
ohne Schnee vorbei." 

„Viel Frülingswind läßt auf einen nassen Herbst schließen". 

„Dichter Frühlingsnebel macht den Sommer heiß." 

„Hängt der Mond wie ein Bogen, gibts wenig Regen aber 
viel Wind. — Sieht er aus wie ein Unterziegel auf dem Dach, 
mach dich auf Regen gefaßt." 

„Ist um den Mond ein geschlossener Kreis gelegt, gibt es 
Nebel. Hat der Kreis aber eine Öffnung, ist Regen zu erwarten." 

Als weitere Wetterpropheten gelten Wolken und Regenbogen : 

„Gehen die Wolken zum Süden, gibts anhaltender Regen. 

— Gehen sie nach Norden, kommt nur ein Schauer nieder. — Zie- 
hen die Wolken gen Osten, ist ein Sturm im Gefolge. Ziehen sie 
zum Westen, rieselt ständig feiner Nebel nieder" (wörtlich: "legen 
die Schäfer ihren Blättermantel an zum Schutze gegen den Regen"). 

„Ein Regenbogen im Osten bedeutet Wind. Ein Bogen im We- 
sten bringt Regen. Erscheint aber ein Regenbogen im Süden, steht 
eine Teurung bevor" (wörtlich: „dann werden die Kinder verkauft"). 



- 8 — 

„Ein Regenbogen im Osten gibt Gewitter; ein Bogen im Westen 
bringt Nässe; der östliche Bogen deutet auf Messer hin und Soldaten; 
der nördliche aber bringt Frieden ins Land." 

„Ein halber Regenbogen am Abende läßt das AVetter sich 
wechseln; ein halber Bogen in der Frühe bringt höchstens Wind 
herbei; aber keinen Regen." 

Auch der Reiher soll „anderes Wetter - in den Knochen fühlen 
und aus der Zeit, wenn er sich hören läßt, schließt man, welcher 
Witterungwechsel im Anzüge steht: 

„Schreit der Reiher in der Frühe, gibt's bewölkter Himmel. — 
Ruft er am Abend, ist der nächste Tag ein klarer. — Fängt er 
nach Mitternacht zu schreien an gibt es Regen, bevor es noch Tag 
geworden. " 

Von den übrigen Tieren sind nur wenige als Wetterpropheten 
bekannt, nämlich die Frösche, Ameisen und der Hund. „Quaken 
die Frösche gibt es Regen, ebenso wenn die Ameisen sich einen 
Turm bauen. Wenn ein Hund aber nießen muß, wird der nächste 
Tag ein nebliger sein." 

„Wenn die Flußschweine über den Himmelstrom setzen (££ j|f 
JA fif) gibt es Regen" (d. h. wenn während der Nacht schwarze 
Wolken, die das Aussehen von Schweinen haben, über die Milchstraße 
ziehen). 

Desgleichen, wenn der schwarze Drache am Himmelsstrome 
einen Damm aufwirft (J| f| ff Jg) (wenn sich langgestreifte Wolken 
in der Nähe der Milchstraße aufhalten). 

Endlich zieht man im gewöhnlichen Leben die kritischen Tage 
und Monate noch besonders zu Rate. 

„Der Wanderer habe Acht zumal auf den 3. u. 9. Monat". 

In diesen zwei Monaten schlägt die Witterung oft unerwartet 
schnell um, und wer dann nicht auf der Hut ist, kann sich leicht 
eine Erkältung zuziehen. 

„Soll guter Weizen eingeheimst werden, muß es im dritten 
Monate regnen und überdies noch im zweiten." 

„Führt sich der Sommer (5. Mai) ein mit Wind, blüht nach 
18 Tagen der Fischer Geschäft", (gibt es eine Überschwemmung). 

„Wenn am Erntefeste (15. 8.) Wolken den Mond bedecken, 
— wird das Laternenfest (15. 1.) im Schnee gefeiert." 

„Trockenheit im 5. Monat ist mit Geld nicht zu bezahlen". 

„Wenn im 6. Monate der Hummel stets bewölkt ist, gibt es 
satt zu essen." 



„Vom 9. im 9. hoffe bis zum 13.; wenns am 13. nicht regnet 
gibts einen trockenen Winter. u 

„Wenn am 1. im 10. Monate der Nord bläst — Fordern die 
Pelzverkäufer hohe Preise u (wörtlich: dann spannen sie einen straf- 
fen Bogen). 

Auch dem 9. im 9. Monate schenken die Pelzverkäufer be- 
sondere Aufmerksamkeit. Ist der Himmel an diesem Tage bewölkt, 
dann machen sie gute Geschäfte. Zeigt das Wetter ein freundliches 
Gesicht, ist das Krämervolk weniger rosig gelaunt ; denn nun ist 
oin gelinder Winter zu erwarten in dem mancher auf ein Pelzkleid 
verzichten wird. 

„Herbstnebel hat kalten Wind im Gefolge ; Winternebel führt 
Schnee herbei. 

Frühlingsnebel gibt ständig Kegen; Sommernebel läßt die 
Hitze entbrennen. u 

Als ein schlimmes Zeichen gilt es, wenn in ein Jahr zwei 
Frühlinge fallen. 

„Gibt es in einem Jahre ein doppelter Frühling (im chinesischen 
Kalender, der eine andere Zeitrechnung einhält als der unsrige, er- 
eignet sich das zuweilen), — werden die Bohnen teurer wie Gold". 

Der chinesische Bauer hält auch darauf, daß es zur rechten 
Zeit sommert und wintert, d. h. daß Kälte und Hitze in gleichem 
Maße abwechseln. 

„Zur Zeit wenn es kalt sein soll und es wird nicht kalt, steht 
ein schlechtes Jahr bevor, (oder die Menschen werden krank. u ) 

„Zur Zeit wo es heiß sein soll und die Hitze bleibt aus, setzt 
das Getreide keine Ähren an." 

Tugend und gute Sitten sollen auf die Witterung und somit 
auf das Wohlergehen des Volkes einen sehr großen Einfluß haben. 
Laster der Regenten aber sollen Unwetter und Elend über das Land 
bringen. Im Schu-tjing IY. 4. ist darüber zu lesen: 

„Anstand schenkt Regen zur rechten Zeit; gute Regierung 
stimmt heiteres Wetter; kluge Verwaltung gibt die nötige Hitze 
und wo ein Heiliger ist, fehlt es nicht am rechten" Winde." 

„Wenn aber Laster herrscht, regnet es beständig; leichtfer- 
tiges Betragen hat Dürre im Gefolge und allzugroßer Eifer erzeugt 
ständige Kälte ; Selbstverblendung endlich, läßt den Wind nicht zur 
Ruhe kommen." 



— 10 — 

Der Sommer. 

„A.uf luftigen Terassen, nachdem das Abendrot 
verglüht und die weiten Hallen geöffnet, genießt 
man die frische Abendluft. Der glänzende Mond 
versilbert Türen und Fenster. Woher denn dieser 
Wohlgeruch — ausgehaucht von Wasserkastanien 
und Seerosen ? a 

(Schen-tung sehe). 

Bg£ chinesische Sommer hält seinen Einzug zu Anfang unseres 
Wonnemonats (5. Mai), wo der Frühling daheim erst so 
iJBSBSÜ B rec h* beginnt Knospen zu öffnen und Blüten zu streuen. 
&i&V&v ^ m diese Zeit sind hierzulande die zarten Frühlingskinder 
längst von den Bäumen verjagt, bei dem Frühlingsobste hat die 
Frucht sogar schon eine ziemliche Dicke erreicht. Nur der knorrige 
Zisyphus läßt sich lange von der Sonne bescheinen, ehe er aufzu- 
atmen beginnt. Erst ganz allmählich zeigen sich zarte Blütenspitzen; 
wenn aber die unscheinbare Blüte ihr Aroma verbreitet, ist es fast 
Mitte Sommer geworden. Der Baum hat das Eigentümliche, daß 
die Früchte an eigenen Zweiglein sitzen, die jeden Herbst mitsamt 
den Blättern abfallen. 

Auch die Felder bekommen allmählich ein sommerliches Aus- 
sehen. Weizen und Gerste recken die Ähren empor und der Mohn 
spreizt grellfarbige, zum Himmel gekehrte Krinolinen. Die Herbst- 
früchte werden bestellt, falls der Boden genug Feuchtigkeit hat, 
sonst harrt man auf den Regen, und der läßt um diese Zeit nicht 
selten lange auf sich warten. Wenn sich dann aber einmal die 
Schleusen des Himmels geöffnet haben, sind in kurzer Zeit Tümpel 
und Teiche angefüllt, die Bächlein verwandeln sich in Flüsse und 
das Feld ist durch und durch getränkt. Dann beginnt die Zeit des 
Schaffens und der Sorgen, wie auch die Natur emsig schafft, und 
es muß für den Winter mitgearbeitet werden, falls man die Folgen 
seiner Trägheit nicht zu spät bereuen will. Die Sommerzeit gilt 
deshalb als die „Man sehe", die viel beschäftigte Zeit. „Die eine 
Hälfte im Schweiße des Angesichtes, die andere auf der faulen 
Haut",*) sagt ein Sprichwort, und teilt damit das Jahr in zwei 
entsprechende Abschnitte, von denen der zweite am willkommensten 
ist. Nichtsdestoweniger läßt man sich doch auch jetzt die Arbeit 
nicht verdrießen. 



*; Tschuang-tja-jen paen nien sin-k'u, paen nien chien. 



— 11 — 

Zu Neujahr kommen Bilder in den Handel, auf welchen zehn 
Geschäfte der Männer und zehn Arbeiten der Frauen dargestellt 
sind. Die Geschäfte des Mannes beziehen sich auf die Bestellung 
seines Ackers und das Einheimsen der Früchte. Die Frau hat im 
Sommer für die Winterkleidung zu sorgen, und deshalb sehen wir 
sie auf dem Bilde spinnen, haspeln, weben, nähen u.s.w. Durch 
diese Darstellungen soll das Volk zum fleißigen Arbeiten angespornt 
werden. Zudem mahnt um diese Zeit noch eine Kuckucksart zu 
unverdrossenem Schaffen, indem der Vogel von morgens früh bis 
abends spät ruft: Kuan kuöl tuo tschu, kuan kuöl tuo tschu, „Hage- 
stolz, fleißig an die Hacke". Vom guten Behacken der Saaten hängt 
nämlich zum größten Teile der Ertrag ab. Das Korn wird mit 
einer Maschine auf Reihen gesät; sobald es dann einen Fingerlang 
herausgewachsen ist wird alles überflüssige fortgehackt; man läßt 
nur die kräftigsten Sprossen stehen und lockert den Boden rund 
um die Wurzel auf. Gewöhnlich wird jedes Stück zwei- bis drei- 
mal mit der Hacke durchwühlt und ausgejätet. Um diese Zeit 
sind dann die Arbeitslöhne recht hoch; Hagestolze und Bettler begeben 
sich auf die Märkte und die Bauern holen sich von dort die nötigen 
Arbeitskräfte. 

Im Sommer herrscht nicht nur „ Hemdsärmelfreiheit ", sondern 
jedermann darf sich en neglige erblicken lassen und über die Straße 
gehen „wie ein Bettler", d. h. nur mit der Hose bekleidet. Sprich- 
wörtlich drückt der Chinese das aus, indem er sagt: „Der Winter 
wird verlacht, den Sommer verlacht niemand". Deshalb macht es 
sich denn* auch die bezopfte Hautevolee überaus gemütlich und 
findet absolut nichts darin, sich bei der Mahlzeit bis aufs Hemd aus- 
zuziehen ; höchstens daß man den Gast animiert, ein gleiches zu tun. 
Und erst die chinesische Jugend tut es den Fröschen gleich, indem 
sie den Sommer teils zu Wasser teils zu Lande verlebt. 

Die Amtskleider der hohen Herren aber, wenn sie in Gala zu 
repräsentieren haben, sind überaus fadenscheinig. Da gibt es die 
reinen Spinnengewebe in Seide und Hanf, welche jeden Luftzug 
ungehindert durchlassen. Zudem werden eigene Schwitzjacken an- 
gefertigt aus Bambusstäbchen, Perlen oder Knotengeflecht. Man 
trägt dieselben auf der Haut und sie sollen verhindern, daß die an- 
dern Kleider nicht zu nahe aufliegen und vom Schweiße durchnäßt 
werden. Wenn in den Tribunalen die Sommeruniform zu wechseln 
ist, wird alljährlich im Staatskalender bekannt gegeben und an 
diesem Tage muß das Personal halt im sommerlichen Anzüge erschei- 
nen, mag der Himmel auch ein winterliches Gesicht dazu machen. 



— 12 — 

Kleinverkäufer ziehen zur Zeit der „großen Wärme" in Städten 
und sogar auf dem platten Lande umher und verkaufen „ gefro- 
renes ", nicht in Gestalt von Limonade oder Zuckerwasser sondern 
sie bieten Eis feil, so wie die Natur es geschaffen hat. Ein Stück 
von der Größe einer Wallnuß kostet l j 2 Pfennig. Nicht selten ist ein 
Hähnchen Gras oder ein loses Blättchen hineingefroren, weil das 
Eis fast immer aus Teichen stammt ; aber trotzdem ist es gut kalt im 
Munde und das ist die Hauptsache. Was nicht hineingehört, spuckt 
man aus, das eisiche Wasser aber kühlt den Magen. Auch verkauft 
der „Wintermann u da3 bereits geschmolzene Eis und zwar kostet 
jeder „ Schluck u davon 7 4 Pfennig. Einen großen Schluck zu tun 
ist nicht möglich, denn das kalte Wasser zieht den Mund zusammen. 
Was vom Schluck in der Tasse übrig bleibt, wandert wieder in den 
Kübel zu fernerem Gebrauch. Kleinlich wäre es in den Augen der 
Chinesen sich an so etwas zu ekeln. In Peking hat das Ministerium 
für öffentliche Arbeiten dafür zu sorgen, daß während der heißen 
Zeit in den Haupttribunalen genügend Eis vorhanden ist. Ein 
großer, mit Blech ausgeschlagener Kasten, der in Mitte der 
Amtsgebäude steht, nimmt dasselbe auf, und jeder, dem es zu heiß 
wird, kann sich daran „ erkälten u . 

Ein tüchtiger aber stenger Minister wird, nebenbei, bemerkt, 
mit der Sommersonne verglichen, die zwar brennt, aber auch reift. 

In früheren Jahren, als noch eine Anzahl Elefanten zum kai- 
serlichen Hofstaate in Peking gehörte, wurden die Tiere am 6. im 
sechsten Monate im Stadtgraben gewaschen und gebadet und an 
dieser Kühlung hatten sie genug für das ganze Jahr. Am nämlichen 
Tage ist in manchen Pagoden „Bücherlüftung" (lian-tjing), was um 
so notwendiger scheint, je weniger die Bonzen ihre Bücher im Laufe 
der Jahres zur Hand nehmen. 

Der Fächer ist die Hauptwaffe, mit der man dem glühenden 
Sommer zu Leibe geht und deßhalb spaziert derselbe von der Rechten 
in die Linke und muß Wind machen beim Teetrinken und Rauchen, 
ja sogar während der Mahlzeit, einerlei, ob man schwitzt oder 
nicht. Das Fächeln der heißen Luft auf die schweißlose Haut 
bewirkt das Gefühl als ob uns eine mit Flaum besezte Hand sanft 
streichele. Ist die Haut aber mit Schweiß bedeckt verursacht das 
Fächern eine angenehme Kühlung. Mit dem Fächer in der Hand 
legt sich der Hitzegeplagte zur Ruhe; der arme Windmacher aber 
kommt erst zur Ruhe, wenn er der Hand des Entschlummerten 
in unbewachtem Augenblicke entgleitet. Will man jemanden ein 



— 13 — 

Kombliment machen, so vergleicht man ihn mit einem Sommerfä- 
cher: „Der Fächer im Sommer hat ein großes Gesicht. u Und als 
ein besonderer Liebesdienst und ein Freundschaftszeichen wird es 
betrachtet, wenn man im Sommer einem Gaste beim Bewillkommen 
sogleich seinen Fächer anbietet. Sagt doch das Sprüchwort: „Im 
sechsten Monat wird kein Fächer verliehen, u Ein anderer in der 
Glühhitze des Sommers viel beanspruchter Freund ist die Teekanne. 
Je heißer das goldene Naß hinuntergeschlürft wird, um so bekömm- 
licher ist es ; dann wird die Hitze von außen neutralisiert, die Schweiß- 
poren öffnen sich und „frische Luft umsäuselt das Haupt. u 

Hoch im Sommer, wenn so ziemlich alle Sinne unter den 
Beschwerden der Hundstagshitze zu leiden haben, bleiben auch die 
Ohren nicht verschont. Die Zikaden sind es, welche Konzerte ver- 
anstalten, die ein feinbenervtes Menschenkind rein aus der Haut 
bringen könnten. Wer zum ersten Male in das Bereich dieser Ohren- 
zerreißer gelangt, meint, in der Nähe müsse eine Fabrik sein, 
worin hunderte von Instrumenten gewetzt oder eine Unzahl von 
Töpfen mit scharfen Messerklingen ausgekratzt würden. Das Ge- 
schrill wirkt geradezu betäubend und schneidend, und ich begreife 
es sehr wohl, wie ein Europäer aus lauter Verzweiflung einstmals 
zwischen die' Zweige eines Baumes schoß. Derselbe stand in der 
Nähe seiner Wohnung, und im Laube desselben machten die sonnen- 
frohen „ Götterlieblinge u ihre Musik. Wer an so etwas nicht gewöhnt 
ist, kann unmöglich seine Gedanken zusammenhalten, und jede 
Geistesarbeit ist da vergeblich. Gewiß haben die Zikaden an der 
nervenstarken Erziehung der Chinesen auch ihren Anteil und deshalb 
sind ihnen die Bezopften durchaus nicht abhold. Zumal stellt ihnen 
die Jugend nach ; allerdings nicht des Gesanges halber als vielmehr, 
weil sie für deren Gaumen ein Leckerbissen sind. 

Zu der Hitzeplage am Tage kommen die Plagegeister während 
der Nacht. Und da sind es zumal die Moskitos, welche dem Ruhe- 
bedürftigen arg zusetzen. Wer es sich leisten kann, kauft sich ein 
Mückennetz, aber die meisten können sich diesen „ Luxus u nicht 
erlauben. Ist in der Nähe ein Tümpel dann machen noch die Frö- 
sche ihr Konzert und vertreiben den Schlaf vollends von den müden 
Augen. Solchen Plagen gegenüber halten nur chinesische Nerven 
und eine Chinesenhaut stand. Freilich werden beide nicht ange- 
boren, sondern im Laufe der Jahre hineingestählt und angedrillt. 
Die Natur selber ist dabei die beste Lehrmeisterin. Wer ihren 
Einflüssen nicht standhält, unterliegt einfach, d. h. er stirbt; die 
lebenskräftige „ Rasse u aber hält sich oben. Sieht man wie die kleinen 



— 14 — 

Knirpse im Sommer von den heißen Sonnenstrahlen ohne irgend 
welchen Schutz stundenlang durchgerbt worden, begreift man, wie sie 
in späteren Jahren so widerstandsfähig sind. Wer übrigens in der Xacht 
nicht gut geschlafen hat, sucht bei Tage das Versäumte nachzuholen. 
Im Schatten der Bäume, einerlei ob an der Straße oder an öffentlichen 
Plätzen sind zu jeder Stunde solche Tagesschläfer anzutreffen und 
sie ruhen dort gerade so unbesorgt und friedlich, wie daheim im 
Bette. Überhaupt bilden die „kühlen Plätze" (Liank'uä tifan) das 
Stelldichein für Frauen und Kinder, und der Häupter des Dorfes, 
welche dort ihre Zeit verträumen, verplaudern oder verschlafen. 
Frauen nehmen meistens etwas Handarbeit mit oder führen eine 
Henne mit Küchlein spazieren. Die kühlen Plätze sind gewöhnlich 
etwas hoch gelegen und von einigen Bäumen umschattet. Wer einen 
Obstgarten besitzt, macht es sich dort unter den Bäumen gemütlich 
und bewacht zugleich die Früchte gegen die Gelüste der Buben. 
Wer sein Feld mit Kürbis oder Melonen bepflanzt hat, errichtet 
in der Mitte desselben eine Hütte, wo er mit Kind und Kegel 
während des Sommers wohnt. Bei den alten Juden muß es früher 
wohl ähnlich so gewesen sein; spricht ja schon der Prophet (1s. 1. 
8) von einer Hütte im Kürbisacker und vergleicht damit die Toch- 
ter Sion. 

In den Städten, wo an den Hauptstraßen meistens für Bäume 
kein Platz geblieben ist, werden auf Stangengerüsten Mattendächer 
ausgebreitet, welche für das Innere der Häuser ungemein kühlend 
wirken. Kein Sonnenstrahl findet dort Einlaß, weder auf die Straße 
noch an die Wände der Häuser. Oberhaupt gilt es als Prinzip, 
„nahe am Boden im Schatten, dort ist es am kühlsten' 4 . „Besteige 
im sechsten Monat keinen Turm (mehrstöckiges Haus) sagt ein 
Sprüchwort, noch wage dich auf ein Schiff." In den höheren Re- 
gionen ist Glühluft; die Etagen zur platten Erde aber ziehen noch 
Kühlung vom Boden. Das Reisen ist zu vermeiden; auf dem Meere 
kann dich plötzlich eine Taifun überraschen, die Regenzeit aber 
macht das Reisen zu Lande kaum möglich wegen Bodenlosigkeit 
der Wege. 



CNQJ^/O 



— 15 — 



Die Hundstage. 



Die Hundstage im Keiche der Mitte beginnen mit dem 19. 
Juli und finden am 19. August ihr Ende. Wie sich die Chinesen 
über die „kalte Zone" durch neun mal neun Abschnitte hinwegzuhof- 
fen wissen, so wird auch die Zeit des Schwitzens in drei verschie- 
dene Perioden abgeteilt: in die Zeit der mäßigen Wärme (*J> J§ 
19. Juli — 29. Juli), wo es sich noch ertragen läßt, in jene der 
großen Wärme (j$ H : 29. Juli — 9. [August), die zum Glück nur 
zehn Tage dauert, und in jene der absteigenden Wärme (^Jc % : 
9. August — 19. August), wo sie glücklich überstanden ist. In den 
letzten Abschnitt fällt bereits Herbstanfang (jjfc ^ 17. August). 

Die chinesischen Hundstage werden fu tien ({£ 5c) genannt. 
Der Ausdruck soll uralt und von einem Herzog Tei aus der Tsin- 
Dynastie (909 — 246) zuerst gebraucht worden sein. Fragt man aber 
einen Gelehrten, was die Bezeichnung fu tien zu bedeuten hat, so 
wird er höchst wahrscheinlich lächelnd sein weises Haupt schütteln 
und tief bedauern, keine Aufklärung geben zu können. „Man sagt 
halt so und tut es seit uralter Zeit." Aber trotzdem gibt es eine 
Erklärung und zwar eine doppelte. 

Die eine sagt, fu tien bedeute so viel als die Tage der Zu- 
rückgezogenheit. Man soll sich während der heißen Zeit in die in- 
neren Gemächer zurückziehen, nicht viel ausgehen und vor allem das 
Reisen vermeiden. Mit dieser Erklärung deckt sich das chinesische 
Sprüchwort: liu, la, pu tschu men: Im 6. und 12. Monat bleibe daheim. 

Tiefsinniger ist eine andere Yersion. Die Chinesen kennen 
fünf Elemente, von denen das Feuer (Jfc huo) den Sommer bezeich- 
net, das Metall (^ tjin) aber den Herbst. Das Metall muß trotz 
seiner Härte dem Feuer weichen, weil es sonst zum Schmelzen 
gebracht wird. Deshalb kann der Herbst nicht die Herrschaft begin- 
nen, es sei denn der Sommer trete sie freiwillig ab. 

Übrigens ist das Zeichen fu zusammengesetzt aus Mensch und 
Hund ({£ fu = \ Mensch, Ji Hund), und somit hat auch an den 
chinesischen Hundstagen der Hund seinen Anteil. 

Um uns die Hitze der Hundstage zu veranschaulichen sagt man 
sprichwörtlich : „Der Ochs aus dem Reiche U schnauft beim Anblick 
des Mondes.*) Bei Tage hat ihm die Sonne derart zugesetzt, daß 
er auch während der Nacht, beim hellen Scheine des Mondes, daran 
dachte und geängstigt zu schnaufen anfing. 

*TÄ * « % 



— 16 — 

Der Ursprung der Hacke. 

Dem Heiden ist es freilich unbekannt, daß die Erde verfluch! 
wurde uin der Sünde willen. Aber daß sie ohne Bebauung nui 
Disteln und Dornen trägt, weiß jeder Bauer, und es ist ihm auch 
nicht verborgen, daß es einstmals besser gewesen. Im chinesischen 
Yolksmunde läuft darüber folgende Legende um: 

Vor vielen 1000 Jahren gebrauchte man weder Hacke nocli 
Pflug; das Getreide wurde einfach aufs Land gesät und dann wuchs 
es bald üppig empor. Aber ein Sprüchlein mußte jeder sagen, 
damit die Saat schnell gut gedeihe und reichliche Ernte bringe. 
Die Bauern gingen darum jeden Tag einmal über das Land und 
sprachen : 

i %i is i s § 

Tao ssü, miao Amo, di fa chuen : 
Es sterbe das Unkraut, es gedeihe die Saat, locker sei die Erde. 
Allmählich aber wurde ihnen das Gehen etwas unbequem, zumal 
wenn die Sonne heiß schien, und sie fanden, daß es gemütlichei 
sei, im Schatten eines Baumes zu liegen. Das Sprüchlein wird seine 
Wirkung auch schon tun, wenn wir es im Liegen sprechen, dach- 
ten sie, weshalb sollen wir uns von der heißen Sonne bescheinen 
lassen, da es im Schatten doch gar so kühl ist? Sie stellten also 
sofort ihren Gang über den Acker ein und suchten dafür einen schat- 
tigen Platz auf und sagten ihr Sprüchlein her, während sie auf dein 
Rücken lagen. Allmählich aber stellte sich der Schlaf ein und beim 
Schlafen ist bekanntlich der Wille nicht immer Herr der Zunge. 
Da geschah es dann, daß sie die Worte der Zauberformel verkehrt 
stellten und den Himmel baten: 

m % m m n « *s 

Miao ssii, t'sao huo, di fa kan : 
Es sterbe die Saat, das Unkraut gedeihe, trocken sei die Erde. 
Und siehe da ! Nur allzubald zeigten sich die Folgen der Trägheit. 
Die Ähren ließen betrübt ihre Köpfe hängen, das Unkraut schoß 
weit darüber empor und bedeckte bald die gute Saat; die Erde 
aber war hart und trocken, wie eine Tenne. Da machten sich die 
Bauern bald wieder auf die Beine und gingen über ihre Ackei, 
wobei sie das gewohnte Sprüchlein in richtiger Reihenfolge dei 
Worte und mit vieler Aufmerksamkeit hersagten. Aber es war zu 
spät. Üppig wuchs das Unkraut weiter, und immer härter wurde 
die Scholle ; alles Beten und Wünschen war umsonst. Da nahmer 



— 17 — 

die Bauern ihr Topfmesser 1 ) und begannen damit die Erde zu 
lockern und das Unkraut auszujäten. Das aber kostete noch viel 
mehr Schweiß, und man wurde zum Erbarmen müde. Verdrießlich 
streckten sich einige in den Schatten einer Akazie nieder, die am 
Wege stand. Das Messer, mit dem sie die Erde gelockert hatten, 
legten sie neben sich. Der Schlaf kam jetzt noch schneller als früher, 
weil sie sehr ermattet waren. Sie merkten es nicht einmal, daß 
ein Wagen an ihnen vorbeifuhr und ein Rad gerade über das Messer 
fortging. Dieses wurde dadurch an der Spitze umgebogen, und 
es stellte sich heraus, daß es in dieser Form noch bequemer zu 
handhaben sei. Da benützte man sofort nur noch umgebogene 
Messer, die Hacke, um das Unkraut auszujäten und den Boden 
des Ackers zu lokern. 




Die Weizenernte. 

jjännfcen die Chinesen ein Hurrah, 2 ) so ging es sicher mit 
Hurnih in die Weizenernte. Kein Winzer zieht so wohl- 
gemut in seinen Weinberg, wie der chinesische Bauer in 
sein Ährenfeld. Freilich „von der Stirne heiß, rinnen muß 
der Schweiß," soll der Weizen nicht ausfallen oder vom Felde geraubt 
werden. Da heißt es denn sich sputen von morgens früh bis abends 
spät und kaum wird die nötige Zeit zum Schlafen gefunden. Aber alle 
die Mühe läßt man gerne über sich ergehen. Man kann sich ja jetzt 
gütlich tun an Weißbrot und kalter Küche und selbst der Schnaps fehlt 
bei manchem nicht. Auch verdient oder sammelt man sich etwas für 
die Zukunft und bringt die Weizenernte einigermaßen Linderung 
und Erlösung aus den Drangsalen und Hungerkuren des gestrengen 
Winters. An der Weizenernte nimmt denn auch in der Regel jeder- 
man teil, alt und jung, reich und arm. Die Schulen werden für 
diese Zeit geschlossen, und auch der Freund der Wissenschaft ver- 
läßt einstweilen seine Bücher, um sich auf dem Felde zu beschäftigen. 
Wer keinen Weizen schneidet, geht Weizen sammeln, auch wenn 
er dessen nicht bedarf. Sogar das Frauengeschlecht darf sich in der 
Weizenernte aus den Häusern aufs freie Feld wagen. Selbst bejahrte 
Matronen wollen frische Luft schöpfen und gehen mit ihren Töchtern 

*) Das Topfmesser hat eine spartenartige Form und man entfernt damit 
die Mahlreste, die sich im Topfe festgesetzt haben. 

2 ) Und doch sollen wir besagten „Schlachtruf 4 von den Chinesen (Tataren) 
gelernt haben. — 

R. Pieper, „Neue Bündel* 4 . 2 



— 18 — 

Aliren sammeln; das ist eine gute Gelegenheit, Projekte zu machen 
für zukünftige Verbindungen, und grade für den Heiratsvermittler 
reift in diesen Tagen das beste Korn. 

Arme Familien, die selbst keinen Weizen zu schneiden haben, 
ziehen schon beizeiten mit den Kindern fort in eine Gegend, wo die 
Ernteaussichten besonders günstig sind. Bei uns hier in Süd-Schan- 
tung ist es vor allem das Überschwemmungsgebiet des gelben 
Flusses, wo alljährlich der beste Weizen wächst und das zur Zeit 
der Ernte überflutet wird von einem Menschenstrom. Selbst aus 
weiter Ferne kommt man herangepilgert. Die Männer vermieten 
sich als Schnitter, Weiber und Kinder aber gehen Ähren sammeln. 
Begreiflicherweise kommt es da oft genug zu Reibereien, und nicht 
selten wird dem Eigentümer aller Weizen fortgeraubt, weil er den 
Sammlern zu wenig gegönnt hat. Ja, schon förmliche Schlachten 
sind geliefert worden, weil man sich nicht einigen konnte über den 
rechtmäßigen Besitz des Feldes, so daß die Sichel als Schwert 
gebraucht wurde und der Mandarin mit seinen Soldaten gegen die 
Kämpfer ins Feld ziehen mußte. 

Der Weizen reift ungemein schnell, weshalb die ganze Ernte 
innerhalb weniger Tage beendet sein muß. Um diese Zeit werden 
sehr hohe Löhne gezahlt, und doch fehlt es noch bisweilen an 
Schnittern. Wenn sich dann ein Sturm erhebt, werden die Halme 
geknickt und das überreife Korn fällt aus den Ähren. Wenn aber 
die Regenzeit gar zu früh einsetzt, oder ein starkes Gewitter nieder- 
geht, werden die Felder oft überschwemmt; falls der Weizen noch 
seine Aehren über Wasser hält, wird er dann ausgerupft. 

Die Schnitter bedienen sich einer schmalen, langgestielten 
Sichel, und die Arbeit würde jemanden, der nicht daran gewöhnt 
ist, recht mühsam vorkommen. Nichtsdestoweniger kann ein tüchti- 
ger Schnitter in einem Tage über vier chinesische Morgen zum Falle 
bringen. Allerdings stehen die Reihen in der Regel ziemlich weit 
auseinander und sind die Halme auch weniger fest und kräftig als 
bei uns. Schon Jahrtausende säen die Chinesen ihren Weizen reihen- 
förmig mit Maschinen ; das Abernten desselben aber geschieht noch 
gerade so wie zur Zeit, als die gute Schwiegertochter Ruth ihre Ähren . 
sammelte. 

Die Garben werden mit Stricken aus Hirsenstroh gebunden, 
oder man verladet das Getreide ungebunden auf die Wägen. Das 
Feld muß sofort geräumt werden, und kaum ist die letzte Garbe 
verladen, dann stürzen sich die Aehrensammler, welche dasselbe in 
dichten Scharen umstehen, darüber her, und in wenigen Minuten ist 



— 19 — 

auch die letzte Aehre verschwunden. Selbst die Stoppeln bleiben 
nicht verschont, sondern werden als Brennmaterial ausgehackt und 
gerupft. Es ist nur ein weniges, was der Einzelne bekommt, und 
man sucht deshalb auch dort zu rupfen und zu sammeln, wo es 
nicht erlaubt ist. Jeder Weizenwagen, der nach Hause gefahren 
wird, muß eskortiert werden, weil er sonst unterwegs schon abge- 
laden würde. Und auch auf der Tenne ist das vielbegehrte Korn 
noch nicht in Sicherheit. Wenn die Tenne nicht mit einer Mauer 
umgeben ist, muß sie während der Nacht bewacht werden, denn 
auch in der Dunkelheit wird Weizen gesammelt. Wer aber einen 
Weizen sammler beleidigt hat, oder aus Geiz das Korn zu rein 
geschnitten hat, darf sich darauf gefaßt halten, daß man ihm wäh- 
rend der Nacht den roten Hahn in seine Haufen zu setzen sucht. 
Jedermann ist deshalb bestrebt, die Tenne möglichst bald rein zu 
dreschen; und erst wenn er das goldene Korn im Speicher oder 
in den Getreidekörben gesichert weiß, darf er aufatmen und sich 
etwas ruhiger zum Schlafe niederlegen. Eecht hart war die Zeit 
für ihn; länger als einen Monat mußte er um seinen Weizen in Sorge 
leben. Kaum hatte sich etwas Mehlmilch in den Ähren gesammelt, 
mußte er ins Feld zur Wache ziehen; denn das arme Volk wartet 
nicht mit dem Sammeln, bis der Weizen reif ist, sondern kann ihn 
schon gebrauchen, wenn kaum die Blüte abgefallen ist. Die Ähren 
werden ausgedrückt und der Saft wird zu Brei gekocht. 

Das Dreschen des Weizens geschieht mit Steinwalzen, welche 
über die ausgestreuten Halme von Tieren im Kreise gezogen wer- 
den. Das Stroh wird infolge dessen sehr zerkleinert und ist nun 
als Futter und Brennmaterial mehr tauglich. Will man die Halme 
benutzen, müssen die Aehre n vorher abgeschnitten werden. In 
einigen Gegenden, z. B. bei uns hier in Kuen-tsch'öng, gebraucht 
man die ungedroschenen Weizenhalme besonders um Strohborden 
daraus zu flechten. Diese Arbeit, welche hauptsächlich von Frauen 
verrichtet wird, brachte früher den armen Leuten ein gutes Verdienst, 
in den letzten Jahren ist der Wettbewerb aber bereits derart gewach- 
sen, daß sie ihre Strohflechten nur mehr um den halben Preis 
verkaufen können. 

Das Korn wird von der Spreu gereinigt, indem man es gegen den 
Wind wirft; die Spreu ist ein beliebtes Pferde- und Ochsenfutter. 
Das zerkleinerte Stroh wird in Haufen gesetzt, die dann oben mit 
Erde beschmiert werden, zum Schutze gegen Regen und Feuer. Ehe 
der Weizen seinen endgültigen Platz bekommt, muß er noch öfter 
an der Sonne gedörrt werden, weil ihn sonst der Kornkäfer frißt. 



— 20 — 

Gleich nach der Ernte fällt der Preis des Kornes meistern* 
um die Hälfte. Jetzt heißt es alte Schulden tilgen, und wer Weizen 
geerntet hat, wird von seinen Gläubigern so lange gedrängt, bis 
entweder der Weizen alle verkauft oder die Schuld bezahlt ist. 
Wer aber sein Geld bei Zeiten auf die hohe Kante gelegt hat, 
benutzt diese Gelegenheit, einen guten Vorrat Getreide einzukaufen, 
denn nach einigen Monaten hat dasselbe den doppelten Wert. Zu 
Neujahr, bei Hochzeits- und Begräbnisfeierlichkeiten, muß ja jeder 
„Weiß" essen, auch der Anne, selbst wenn er sich das Geld zum 
Kaufen erborgen muß und jetzt den doppelten Preis dafür zu 
zahlen hat gegenüber dem, zu welchem er ehemals seinen eigenen 
Weizen verkaufte. 

Der Reiche freut sich, wenn er sein Korn wohlverwahrt 
daheim aufgespeichert und das Stroh in Haufen zusammengebracht 
hat. Die Matronen führen wieder ihr Drohnenleben und bewachen 
ihre heiratsfähigen Töchter im wohlummauerten Heim. Der Arme 
aber, der zum Sammeln ausgegangen ist, zieht jetzt mit seinem 
Karren wieder nach Hause. Er hat viel geschafft bei Tag und 
Nacht und war nimmer müde, die goldkörnigen Halme zu lesen. 
All die Seinen haben fleißig mitgeholfen, selbst die Kleinsten, die 
noch nicht laufen konnten, sind auf den Ackern herumgekrochen 
und haben Ähren gesucht. Behäbig sind die armen Leute bei 
dieser aufreibenden Lebensweise nicht geworden, trotzdem sie besser 
gegessen haben, als gewöhnlich, ja sich zu Zeiten sogar eine Knob- 
lauchsknolle gegönnt haben. Noch sehen sie aus wie die sieben 
teuren Zeiten, womöglich noch ungewaschener als ehedem. Doch 
brauchen sie sich keine Sorge zu machen um den Unterhalt der 
nächsten Zukunft, weil sie zwei volle Säcke mit nach Hause führen. Sie 
haben jetzt genug zu essen bis zur Herbsternte. Der Herbst aber bringt 
Sorgho, Bohnen, Hirse und Mais; dann wird von neuem gesammelt 
und gestohlen, um das Nötige für den Winter zusammen zu hamstern. 



Sommerfäden. 

}|p«^r Herbst daheim hat den Altweibersommer im Gefolge. In 

0£M f hina ist es gerade so, nur mit dem Unterschiede, daß die 

ffi&WM ? s ommerfäden tien sä ^ $$ v Himmelsseide u genannt wer- 

&H0\&1i <' en - Selbige sollen der Himmels-Großmutter (3* •# Jj& J& 

wany mit tigern ngan) bei ihrer Arbeit entfallen sein. Den ganzen 



— 21 — 

Sommer hat sie fleißig gearbeitet, um wohlgerüstet in den Winter 
zugehen. Jetzt da die Kleider alle bereitet sind, wird der Himmels- 
saal ausgefegt und der Seidenabfall fliegt im Himmelsraum umher. 

Eine andere Version besagt, die Sommerfäden seien nichts 
anderes als die vermoderten Federn unzähliger Vögel, die am 7. 
des 7. Monats dem „göttlichen Kuhhirten" (ßp J[[) niu lang) eine 
Brücke über den „ Himmelsfluß u (Jiffi tien ho Milchstraße) geschla- 
gen haben und dabei zu gründe gegangen sind. Bekanntlich feiert 
an diesem Tage besagter Kuhhirt Wiedersehen mit seiner Frau 
Gemahlin, der „webenden Maid" (fflLiK tsche nü). Kein Vöglein 
soll dann auf dem Erdenrunde zu entdecken sein, mit Ausnahme 
jener, die in Käfigen eingeschlossen sind. 

Eine dritte Erklärung der Sommerfäden sagt, dieselben rühr- 
ten von Vögeln her, die im Fluge nach oben der Sonne zu nahe 
gekomnlen und dann verbrannt seien. Wenn sich nämlich ein 
Vogel von der Erde zu weit in die Höhe wage, verlasse ihn die 
Besinnung ; er vermöge nur mehr die Flügel auseinander zu breiten, 
könne sie aber nicht mehr schwingen. Die Luft trage ihn 
schließlich in die höchsten Regionen empor, wo er der Sonnenhitze 
zum Opfer falle. Die versengten Federn schweben dann allmählich 
als „Himmelsseide" zur Erde nieder. Mit dieser Erklärung wäre 
ja der Wissenschaft ein Dienst erwiesen, die das Verbleiben der 
Vogelleichen nicht recht zu deuten weiß. 

Hat die Himinels-Großmutter wacker gesponnen, d. h. fliegen 
die Sommerfäden sehr zahlreich umher, so bedeutet das nach chinesi- 
scher Auslegung einen fruchtbringenden Herbst im nächsten Jahr. 
Übrigens erinnert die Himmels- Großmutter auffallend an Holda, die 
Göttin der alten Germanen, welche gleichfalls als sorgsame Mutter 
der Natur betrachtet und verehrt wurde. Sie spann und webte 
nicht nur den Teppich der Flur — auch die Fäden, welche das 
Leben der Sterblichen verknüpft, glitten durch ihre Finger. 

Wassermelonenfest in Puoly. 

jprudelndcH Quellwasser ist bei uns in China fast ebenso rar 
wie Bier und Wein; das Wasser aus dem Brunnen aber 
ungekocht zu trinken, ist gefährlich, oder man muß ein 
i^jftY^säi gutes Stück Knoblauch dazu essen. Es bleibt also nichts 
übrig, als Tee zu trinken oder gekochtes Wasser. Doch um ehrlich 
zu sein, muß ich dem Leser verraten, daß uns der gütige Schöpfer 



22 

auch noch ein anderes Labsal bereitet hat, und zwar gerade dann, 
wenn die Natur desselben am meisten bedürftig ist. Das sind die 
Wassermelonen, die in der Hitze vortrefflicher und weit bekömmlicher 
sind als Bier, Wein, Quellwasser und dergleichen Dinge, wonach 
sonst der durstigen Menschheit gelüstet. 

Alljährlich führe ich unsere Waisenknaben einmal in ein Melo- 
nenfeld, um dort nach Herzenslust zu kosten. Will der Leser im Geiste 
den Genuli mitmachen, ist er freundlichst eingeladen. Wir wählen 
einen Sonntagnachmittag. Wenn Katechese und Segen beendet 
sind, ertönen füuf Schläge des Tamtam, ein Zeichen, daß Appell 
ist. Die Knirpse stellen sich in zwei langen Reihen der Größe 
nach geordnet auf. Die Altersstufe von 5 bis 15 Jahren ist vertre- 
ten. Sobald sie da stehen, darf sich keiner mehr mucksen. Doch 
sie wissen, daß diesmal weder revidiert noch inspiziert wird, und 
darum strahlt es auf allen Gesichtern. Wie wenn es daheim in die 
Waldbeeren geht oder zur Kirmes, ähnlich ist unsere Jugend erfreut, 
wenn sie ins Melonenfeld geführt wird. 

Wie sie da stehen, gehen sie auch in Reih und Glied, nicht 
im Schritt, aber zu zweien und zweien, vorauf die Größeren. Jetzt 
darf geplaudert werden; worüber sich das Thema verbreitet ist leicht 
zu erraten, natürlich über die Sikua (Wassermelone). Sikua heißt 
wörtlich: die westliche Melone oder Melone aus dem Westen. Dem- 
entsprechend gibt es auch Tungkua : Melone aus dem Osten; selbst 
Süd und Nord ist vertreten in Naeukua, Peikua. Überhaupt zählen 
die Chinesen eine ganze Reihe verschiedener Arten von Melonen, 
Gurken und Kürbissen auf. Der Sammelname dafür ist Kua. Fra- 
gen wir die Jungen, wie viele Sorten von Kua sie kennen, werden 
sie uns sicher einige Dutzend zu nennen wissen. Mehrere derselben 
haben verschiedene Namen. Auch wissen uns die Kinder über die 
Natur und das Aussehen der einzelnen Arten manches Interessante 
mitzuteilen. Weshalb die Wassermelone aber Sikua, Melone aus 
dem Westen genannt wird, ist auch dem begleitenden Lehrer, der 
übrigens einen ' Gelehrtenknopf trägt, ein Rätsel. Er meint, diese 
Melonenart entstamme wohl aus Sijan (Europa), da ja das Beste 
immer von dort komme, die Sikua aber die Königin aller Kua sei. 

Viel Rühmliches wissen die Buben auch über die Tienkua, 
die süße Melone, zu berichten. Sie ist vor allem so recht eine 
Kinderfrucht und tritt für die chinesischen Kleinen an Stelle der 
Erdbeeren und Kirschen ; süß von Geschmack und lieblich duftend, 
sagt sie dem jungen Volke vor allem zu. Eine Menge Kosenamen 
rühmen ihre guten Eigenschaften : -Die stundenweit Duftende** 



— 23 — 

(sehe li chiang); „Die im Feuer Gebratene* (huo li siu), eine rote 
Abart; „Die mit Kandiszucker Gefüllte" (pei fang kuen); „Ein 
Widderhorn voll Honig" ((jang tjüo mi); „Glänzende Laterne" 
(töng lou tsui). Das alles sind Bezeichnungen einer und derselben 
Melonenart. Aber trotz der Menge wohlklingender Namen fallen 
alljährlich viele Kinder ihrem Genüsse zum Opfer. Die Frucht 
disponiert zur Malaria, und besonders wer nüchtern davon ißt, muß 
es mit Krankheit büßen. Die Zeit der Melonenreife ist deshalb so 
recht die Zeit der Ernte für unsere Täufer von Heidenkindern. 
Die chinesischen Mütter sind unverzeihlich leichtsinnig in Behand- 
lung ihrer Kinder, und täglich kann man sehen, wie junge Wesen, 
die kaum ein Jahr alt sind, den ganzen lieben Tag an einem Stück 
Süßmelone lutschen. 

Nicht weniger gern werden Gurken gegessen, aber ihr Genuß 
ist für Kinder auch nicht minder schädlich. Übrigens gedeihen die 
Gurken (besonders eine Art Schlangengurken) zu wahren Pracht- 
exemplaren. Dieselben ranken ähnlich wie Erbsen an Stangen 
empor. Trotz sorgsamster Pflege in Mistbeeten und unter Glas 
würde man in Europa wohl niemals derartige Gebilde züchten können, 
wie sie hier im Freien wachsen. Ich sah schon Schlangengurken von 
einem Meter Länge tief grün wie das Meer und glänzend wie Marmor. 

Die Jungen wissen noch viele Vorzüge einer Tjinkua (Gold- 
melone) zu rühmen. Ihren Namen verdankt sie dem goldenen 
Aussehen, wodurch die reife Frucht in die Augen sticht. Im Som- 
mer ernähren sich manche Familien fast ausschließlich von ihrem 
Genuß. Gekocht wird dieselbe mehlig, hat einen angenehm süß- 
lichen Geschmack, ähnlich wie die Süßkartoffeln. Auch wir bestellen 
alljährlich viele Morgen mit dieser Melonenart, und die Kinder essen 
sie lieber als Weizenbrot oder sonstiges Gemüse. Zudem ist der 
Genuß vollständig unschädlich. Aehnlich wie die Goldmelone wird 
die Wintermelone (Tungkua) gezogen; sie hält sich den Winter 
hindurch und liefert in Fleischbrühe gekocht ein beliebtes Gericht, 
das sogar auf dem Tische der Reichen geschätzt wird. Als Eigen- 
tümlichkeit dieser Melone ist ein reifartiger grauer Niederschlag 
zu nennen, welcher die Schale überzieht. 

Der kleine Peter weiß eine Nudelmelone (Tjaokua) zu prei- 
sen, die früher sein Vater gezogen, und er habe alljährlich viele 
davon verkauft. Sobald die Frucht gesotten ist, fällt das Fleisch 
nudelartig in langen Streifen auseinander. Kalt geworden und mit 
Zutaten versehen, dient es dann als Nachtisch bei Reichen, bei Armen 
aber, die sich satt daran essen, als Hauptgericht. 



— 24 — 

Doch wollten wir die kleinen Schwätzer alle zu Wort kommen 
lassen, sie hätten noch stundenlang zu kramen; das Melonenfeld 
ist aber sogleich erreicht. Es genüge zu bemerken, daß es außer 
den genannten noch eine ganze Reihe Gurken, Melonen und Kür- 
bisse gibt, die nicht genossen werden. Man zieht sie nur der Zierde 
halber oder weil sie, reif geworden, allerhand Gerätschaften abge- 
ben. Eine Art langstieliger Kalabassen braucht nur in der Mitte 
geteilt zu werden, und die Hausfrau hat ihren Löffel zum Suppe- 
schöpfen fertig; wer so einen Löffel voll Suppe bekommt, verlangt 
nicht nach einem zweiten, denn das Ding hat gewaltige Dimensionen. 
Andere, die stiellos sind, werden als Samenbehälter benutzt oder 
dienen zum Wasserschöpfen. Eine Zwergart dieser Kalabassen ver- 
ziert man mit allerhand Schnitzwerk, und sie werden dann als Unter- 
schlupf für Grillen und Heuschrecken benutzt. Im Winter, wenn 
die Natur erstorben, Zikaden, Grillen und Heuschrecken schon 
längst ihr Gezirpe eingestellt und sich in die Erde verkrochen haben, 
singt die Grille in ihrer Kalabassenwohnung vergnügt weiter. Sie 
verspürt noch nichts vom Winter, denn in den Achselhöhlen oder 
auf der Brust ihres liebevollen Beschützers ist es frühlings warm. 
Recht drollig hört es sich an, wenn so ein Grillenliebhaber sich in 
Gesellschaft befindet und das kleine Tierchen im Busen bei der 
Unterhaltung das größte Wort führt. Nimmt aber ein Schüler seinen 
Liebling (meistens eine Heuschrecke) mit in den Unterricht, ist er 
bald verraten, und die beiden Freunde müssen sich trennen. 

Mit Hurra geht es in den Wald hinein, in die Beeren ; doch 
so eilig haben es unsere Jungen nicht. Überhaupt verfügt die 
chinesische Jugend über viele Prozent weniger Lebhaftigkeit als die 
Rangen anders wo, und es ist verhältnismäßig sehr leicht, sie in 
Zucht zu halten. Zudem ist so ein Melonenfeld doch auch ganz 
anders geartet als ein deutscher Wald. Eine Umfriedigung finden 
wir nicht oder höchstens nur eine sehr dürftige, aus wenigen Sorgho- 
stengeln oder Dornen bestehend. Aber eine Hütte steht gleich 
am Wege, überschattet von einer Kürbisstaude. Das ist die provi- 
sorische Behausung des Besitzers ; dort wohnt er bei Tag und Nacht, 
sobald die Früchte zu reifen beginnen. Rufen ihn andere Geschäfte 
nach Hause oder geht er auf den Markt Melonen verkaufen, so 
lösen sich Weib und Kind im Bewachen ab. Als Gesellschaft hat 
er sich eine Schar Küken großgezogen, die sich selber Nahrung 
suchen und eine Xebeneinnahme bilden, wenn sie groß geworden. 

»Jetzt aber mal Melonen herbeigeholt, gut ausgereifte, bringt 
vorläufig zwanzig Stück. u Die Jungen kauern sich auf den Boden 



— 25 — 

nieder; alle sind durstig und der ersehnte Augenblick naht heran, 
wo es Wasser zu trinken gibt. Aber das ist kein Wasser aus hartem 
Felsen, sondern aus dem weichen Herzen einer Pflanzenfrucht. 
Der Mund zarter Wurzeln hat es aufgesogen ; in den langen Gängen 
der Ranken wurde es destilliert; im innern der Melone kochte 
es die heiße Julisonne gar und mischte Zucker hinzu und Aroma. 
Aus keiner Filter fließen so klare Tropfen, als die Melone sie birgt; 
Limonade, Brausepulver und dergleichen Durstlöscher haben mit- 
samt keinen so einfachnatürlichen Geschmack, wie diese Gottes- 
gabe im Felde. 

Nun wird nach Herzenslust gegessen und getrunken, denn 
Wassermelone verzehren, ist sowohl ein Essen wie ein Trinken. 
Ein Rausch stellt sich nicht ein ; auch sind sonst, im Gegensatz zu 
der Süßmelone, keine üblen Folgen zu fürchten. Die Pflanze unter- 
scheidet sich äußerlich von den anderen Melonenarten besonders 
durch ihre grauen, zerzackten Blätter. Es gibt viele Sorten, die 
von einander verschieden sind im Aeußern, im Innern und in der 
Farbe der Kerne. Saenpei, die „Dreiweißigen", sind solche, die 
weiße Haut, weißes Fleisch und weiße Kerne haben; diese Sorte 
soll die beste sein, besonders wenn das Fleisch, ähnlich wie Kandis- 
zucker, körnig geworden ist. Andere haben rotes Fleisch und 
schwarze Kerne; dieselben haben ein vorzüglich appetitliches Aus- 
sehen. Besonders durststillend ist die Frucht, wenn man sie vor 
dem Gebrauche erst einige Stunden in kaltes Brunnenwasser legt. 
Unsere Schantung-Melonen haben in ganz China einen guten Ruf, 
weshalb sie als Kaisergabe alljährlich nach Peking gehen. Ganze 
Schiffsladungen werden zum Süden befördert, um dort Durstige zu 
erquicken und Marode zu erfrischen. 

Auch Kerne und Schalen der Wassermelone werden benutzt. 
Man hebt die Kerne auf, trocknet sie, und während der langen 
Winterabende, oder wenn die Unterhaltung nicht fließen will, knab- 
bert man die „(Güte 1 )" heraus, die den Nüssen nicht unähnlich 
schmeckt. Die Schale wird als Schweinefutter benutzt, oder man 
legt sie in Salz, und nach einigen Monaten ist sie als Salzgemüse 
(Hien tsä) gebrauchsfähig. Das alles klingt recht appetitlich; wer 
aber einmal die Chinesen hat Melonen essen sehen, wird bei Leibe 



*j Das Zeichen für Güte, Milde (gin) ist das nämliche wie jedes, das Kern 
bedeutet (gin). Die Erklärung im Lexikon von Kaiser Khanchi sagt darüber 
folgendes: Die Güte gilt als Lebensprinzip; ähnlich wie das Herz Sitz der Milde 
ist und deshalb auch Lebensprinzip im Menschen, gilt der Kern als Herz und 
Lebensitz in der Schale. * 



— 26 — 

auf die Kerne verzichten, mögen sie auch noch so gut geröstet sein. 
Ebensowenig wird er von dem vielgepriesenen Salzgemüse nehmen, 
falls sich Melonenschalen darunter befinden. In Städten nämlich 
und an Plätzen, wo viele Melonen gegessen werden, halten sich immer 
Bettler auf, welche die ausgespuckten Kerne aufsammeln, desglei- 
chen die beiseite geworfenen Schalen. Beim Verzehren gebraucht 
man weder Messer noch Löffel, sondern die Stücke werden aus der 
Hand gegessen, weshalb an der Schale ganze Reihen von Zähnen 
abgebildet sind. Die Bettler verkaufen dann ihre Kerne und Schalen, 
erstere an Konditoren, die letzteren an Salzgemüsehandlungen. Die 
äußerste Haut der Schale soll zu Fleckenwasser verarbeitet werden 
können; doch findet sie dafür wenig Verwendung, da die Chinesen 
nicht viel auf Flecken geben. 

Unser „Wirt", ein von der Sonne braun gebrannter Chinese, 
weiß mancherlei zu erzählen über den Anbau der Melonen und ihre 
Pflege. Jede Pflanze trägt höchstens drei Früchte ; alle Neben- 
ranken werden abgebrochen, „damit die Hauptkraft sich in gerader 
Linie entwickele". Als Dung werden Bohnenkuchen hochgeschätzt; 
sie sollen besonders dazu beitragen, daß die Melonen süß werden. 
Für den Anbau ist sandiger Boden besser geeignet als lehmiger. 
Haupterfordernis für eine gute Melonenernte ist aber die warme Sonne; 
je heißer ihre Strahlen auf die Frucht herniederbrennen, um so 
vorzüglicher ist ihre Qualität. Als Spezialität gilt die sogenannte 
Ta-kua, die große Melone. Sie wird hauptsächlich der Kerne halber 
gezogen. Geht ein Wanderer am Melonenfelde vorbei, wird er zum 
Essen eingeladen; er kann nehmen, so viel er nur will. Aber er 
erhält „große Melonen" vorgesetzt und bekommt davon wenig in den 
Magen ; dem Verkäufer ist es nur um Reinigung der Kerne zu tun. 

Um zu erfahren, ob eine Melone reif ist, wird sie durch Anschla- 
gen mit der flachen Hand geprüft. Es gehört Übung dazu, um recht 
zu hören und gut zu fühlen ; unser Gewährsmann aber hat in der 
Sache ziemlich viel Sicherheit und geht selten fehl. Eine ausge- 
wachsene Melone kann 40 bis 50 Pfund schwer werden. Gut aus- 
gereift halten sie sich noch wochenlang. Ln Eiskeller gelegt 
bewahrt man sie für Kranke und Gourmands, die auch im Winter 
bisweilen gerne ein Labsal des Sommers verkosten. Kranke, 
die an Dysenterie leiden, sind oft durch einige Schnittchen Wasser- 
melonen wieder hergestellt. 

Wenn jemand einem Melonenbauer schaden will, wickelt er 
etwas Moschus in seinen Gürtel und geht (juer über dessen Feld. 
Der Mosch iisgeruch ist (wie die Chinesen behaupten) ein großer 



— 27 — 

Feind der Melonen und sie sollen allsogleich absterben, wenn er 
in ihre Nähe kommt. 

Heute war ein Glückstag für unsern Verkäufer; so gute 
Geschäfte hat er an einem Tage lange nicht mehr gemacht. Sonst 
muß er meistens stundenlang schreien, ehe er eine Melone an den 
Mann bringt, denn für gewöhnlich geht sie nur stückweise ab. Ein 
gutes Exemplar kann in 20 bis 30 Stücke geschnitten werden, von 
denen jedes einen Käsch kostet. Die Stücke sind gerade nicht groß, 
aber Sache des Verkäufers ist es, sie anzupreisen. „Leute kauft! 
Stücke so groß wie ein Schiff! Zucker ist bitter im Vergleich zu 
meinen Melonen \ u — Derartige Lügen schreit er unzählige an einem 
Tage in die Welt hinaus. 



Der Herbst. 

„Bund sind schon die Wälder, 
Gelb die Stoppelfelder, 
Kühler weht der Wind." 

^B|yÄci unserm Schantungsherbst gilt allerdings nur die letzte 
|Ksj| Zeile: „Kühler weh( der Wind". Von bunten Wäldern 
^WtS~M kann keine Rede sein, weil es hier zu Lande nichts gibt, 
i^MWSp^i ** as einem Walde ähnlich sieht. Und mit den Früchten 
verschwinden auch die Stoppeln von den Feldern, freilich einige 
Tage später. Gewöhnlich überläßt man es den Armen, dieselben 
auszurupfen, die sie dann verkaufen oder selbst als Brennmaterial 
benutzen. 

Gestern hat es fast den ganzen Tag geregnet, heute abcu* 
vertreibt der Nordwest die noch hängenden Wolken und spendet 
Kühlung und klaren Himmel. „Glücklich überstanden", spricht mit 
sonnigem Speckgesichte ein Epikureerfreund mit gewaltiger „Weis- 
heitstonne" (d. h. mit großem Leibesumfänge), der sich eben im 
Schatten eines Baumes in seinen Sorgenstuhl niederläßt. Die 
Sommerhitze hat ihn in eine Entfettungskur genommen, und er ist 
sichtlich um einige Pfund leichter geworden. Er hat sich auf alle 
nur mögliche Weise gegen die sengenden Sonnenstrahlen zu schützen 
gesucht, aber die schmorige Wärme driügt allmählich überall hin, 
und der Sommer läßt sich nicht so leicht aus dem Felde schlagen 
wie der Winter. Darum ist letzterer denn auch zumeist von armen 
Leuten gehaßt, während die Reichen dem Sommer mehr abhold sind. 



— 28 — 

Ein von Beiden gern gesehener Gast ist dagegen der Herbst. 
Dem Reichen füllt er Tennen und Scheuern; der Arme aber hat 
von dem zu leben, was er sich öffentlich und im Geheimen sammelt. 

Auch in China gilt der Herbst vor Allem als die Zeit der 
Ernte. Das Schriftzeichen, das Herbst bedeutet, ist aus fc Feuer 
huo und 5|c Frucht huo zusammengesetzt. Damit ist angedeutet, 
daß die Hitze des Sommers jetzt Früchte und Getreide gar gesotten 
hat und das Einheimsen beginnen kann. Die Weizeneinte fällt aller- 
dings in den Sommer; weshalb auch der vierte Monat Mei-tsiu 
„Weizenherbst" genannt wird. Als den „Bambusherbst" bezeichnet 
man den dritten Monat, weil um diese Zeit der vorjährige Bambus 
abgeholzt wird. Der siebente Monat endlich gilt als der „Orchideen- 
herbst". Damit die Bauern auf den Feldern nicht von bösen Geistern 
und Kobolden behelligt werden, werden diese am fünfzehnten Tage 
des siebten Monats eingefangen und dem Stadtgott (Tsch'önghuan) in 
Verwahrung gegeben, der sie für die Zeit der Ernte beaufsichtigen soll. 

Am fünfzehnten Tage des achten Monats ist dann das Erntefest, 
das nächst dem Neujahr als eine der größten Feiertage des Jahres 
gilt. Mit Essen und Trinken tut man sich gütlich ; Trauben und 
andere Früchte und vor allem die „Mondkuchen" (Jüo-ping), ein 
Spezialgebäck für das Erntefest, werden an Freunde und Bekannte 
geschickt. Mit Bezug hierauf heißt es „Herbstwind machen", wenn 
man sich die Gunst eines andern mit Geschenken verschaffen will. 
Gedenkt aber ein Gelehrter seine Lizenziatsprüfung zu bestehen, 
so muß er sich „in die Herbsthecke verschließen lassen". Ehemals 
wurden nämlich die Prüfungshallen mit scharfem Dorngehege um- 
zäunt, um jede Verbindung mit der Außenwelt fern zu halten. 
„Herbstreif" bezeichnet die Tugend einer ehrsamen Witwe, die ihren 
ersten Gatten betrauert und in Enthaltsamkeit lebt. Eine „Gurke, die 
spät im Herbste am Stecken emporrankt", ist das Bild einer alten 
Jungfer, die erst in bejahrten Tagen unter die Haube gekommen ist. 

Der Hase ist bekannt unter dem poetischen Namen „Herbst- 
jubel" (Tsiu-li-chuan). Und in der Tat hat Meister Lampe allen 
Grund, sich gerade um diese Zeit zu freuen. Seine Nachkommen- 
schaft ist herangewachsen und kann sich selbst helfen; das Feld 
liefert Futter in Fülle, zumal die leckeren Bohnen, sein Leibgericht. 
Gefahr aber hat er nicht zu fürchten, da die Bauern sonst vollauf 
zu tun haben und den „Herbst ruhig jubeln" lassen. Sobald aber 
die Felder abgeerntet sind, muß er einige Zeit warten, bis die 
Weizensprossen neues Futter bieten. Auch ist es nicht mehr leicht, 
sich auf dem kahlen Felde zu verstecken; was ihm dann beim 



— 29 — 

Herannahen der Gefahr rettet, sind seine flinken Beine. Vielleicht 
hat der Hase auch dem Umstände seinen Namen zu verdanken, 
weil sich die ganze Welt auf das Erntefest freut und dabei seiner 
besonders gedacht wird. In die Mondkuchen ist vielfach sein Bild 
geprägt, im Monde aber soll ein leibhaftiger Hase am Erntefeste sein 
Spiel treiben. Wer sich hinter einen Pfirsichbaum versteckt und gut 
Obacht gibt, kann sich selbst davon überzeugen, sagen die Chinesen. 

Mit Bezug auf das Erntefest singt der Dichter im Schi-king: 
„Im sechsten Monat (gemäß der Jahreseinteilung zur Zeit der 
Tschou- Dynastie), ißt man Pflaumen und Trauben, im siebten Monat 
erntet man den Reis und macht daraus für den nächsten Frühjahr 
Wein, die Augenbrauen der Greise aufzufrischen. Im siebten Monat 
ißt man Melonen. Im achten Monat bricht man Flaschenkürbisse. 
Im neunten liest man Samen von Sesam, pflückt Gänsedistel und 
sucht Ailantenholz und bereitet den Ackerleuten Speisen. " 

Auch der Chinese betrachtet den Herbst als die Zeit, wo die 
fertige Natur zu trauern beginnt. „Im Herbst sind die Tage kalt, 
und alles Grün wird welk und alt." Er will damit den trostlosen 
Zustand des Reiches besingen, wo Parteiungen und Zwistigkeiten 
dem Einzelnen das Leben verbittern und den Staatskörper an den 
Rand des Grabes führen (Schi-king II. 5. 10). Ferner spricht er 
von „fallenden Blättern, die das Herz betrüben". In dem vom 
Winde fortgetriebenen Laube erblickt er das Bild des Wanderers, 
der fern von der Heimat weilt und dem es öde und einsam ums 
Herz wird. Der klare Herbsthimmel erinnert ihn an die frisch 
sprudelnde Quelle, die sein eigenes Bild wiederspiegelt. Flüsse 
und Ströme mahnen ihn an das abgeklärte Greisenalter; sie haben 
es nicht mehr halb so eilig wie zur Zeit der Überschwemmungen, 
auch' ist ihre Kraft gebrochen; „das Wasser ist klar, weil es nichts 
mehr tragen kann und daher ist auch sein Rauschen verstummt". 

Im „Liede vom Wunderknaben" (Schi-tung-schi) schreibt der 
Dichter über den Herbst: „Schon beginnen sich die Regenschauer 
zu mäßigen, und der Himmel schüttelt vollends die Wolken ab. 
Ein goldener Wind (Westwind, in China gilt der Westen als die 
Goldecke) führt reichliche Kühlung herbei. Die Studierhallen erstrah- 
len im Freudenglanze (im Herbst ist gut studieren) und beim Lichte 
der Lampe erscheinen die Nächte verlängert". 

Nach chinesischer Anschauung giebt es im menschlichen 
Handeln auch einen Herbst, den Herbst der Vergeltung. Mit Bezug 
hierauf wird das Straftribunal Tsiu-tsan genannt, „Herbsforum", und 
sein erster Beamte heißt Tsiu-kuan, „Herbstmandarin". Wenn die 



— m — 

Untaten der Verbrecher zur Reife gelangt sind, wird die strafende 
Nemesis sie erreichen, sie mögen wollen oder nicht. 

Auch für uns Europäer ist in China der Herbst von allen 
Jahreszeiten die willkommenste. Man lebt ordentlich wieder auf, 
wenn nach überstandener Sommerhitze die Sonne ihre freundlichen 
Strahlen vom kristallklaren Himmel sendet, ohne uns mehr zu 
brennen. Cnd setzt auch einmal ein Wind ein, so belästigt uns 
nicht mehr der leidige Staub, der die Wonnen des Frühlings vollends 
verdirbt. Dem europäischen (feinüse geht es aber ähnlich wie den 
Menschen. Kohl und Kappus vor allem haben im Sommer nur ein 
kümmerliches Dasein gefristet, ohne zu wachsen ; jetzt aber holen 
sie das Versäumte nach, und wenn der Herbst nur einigermaßen 
trocken ist, gibt es im Winter auch Sauerkraut, Blumenkohl und 
die „Jungfer im Grünen* (Mettwurst im Kohl) vorausgesetzt natür- 
lich, daß europäische Küche und Keller vertreten sind. Möhren 
und Kuben werden von den Chinesen erst im Spätsommer gesät, 
ebenso der bekannte Schantunger Kohl (Pci-tsä). Überhaupt gewährt 
es im Herbste besonderes Vergnügen, einen gut bestellten Blumen- oder 
Gemüsegarten zu durchwandeln. Namentlich sind es Herbstastern 
und Chrysanthemum, die jetzt ihre Pracht entfalten und, in Töpfe 
verpflanzt, verkauft und verschenkt werden ; viele blühen bis spät 
in den Winter. 

Aber auch die Herbstfluren machen in China bei Weitem nicht 
den öden Eindruck wie drüben in Europa. Als zweite Ernte» werden 
auf die Weizenfelder Bohnen gesät, vielfach auch Späthirse, Buch- 
weizen und Mais. Die Bohnen in ihrem grünen Blätterkleide, das 
sich zur Zeit der Keife golden färbt, machen einen schmucken 
Eindruck. Die süße Kartoffel hat ganze Felder mit ihren dunkel- 
grünen Kanken überwuchert, die erst bei Nachtfrösten absterben. 
Überdies werden Felder und Gärten durch das traute Zirpen großer 
Grillen lieblich belebt, die besonders gegen Abend und während der 
Nacht ihr Konzert zum Besten geben. Das ist eine ganz andere 
Musik als wie sie im heißen Sommer bei Tage die Zikaden in den 
Bäumen und während der Nacht die Frösche in den Tümpeln 
machen. Überhaupt wirkt die herbstliche Natur beruhigend auf die 
von den Plagen der heißen Zeit erregten Nerven. Die Kinder 
bekommen mit der Zeit wieder ein blühendes Aussehen, und den 
Alten schmeckt das Essen besser als zuvor. 

Was dem Herbste daheim besonders den Charakter der Schwer- 
mut und des Trübsinns aufdrückt, fehlt in China fast gänzlich. 
Feucht nasse Nebel läßt die Sonne nicht aufkommen. Ihr Licht 



— 31 — 

durchflutet wochenlang mit wohliger Wärme die Natur und lockt 
noch im November die Mücken zum fröhlichen Reigen hervor. 
Fällt es aber gar einem langlebigen Moskito noch ein zu stechen, 
so tut das allerdings besonders weh: „Am fünfzehnten Tage im 
siebten Monat sticht die Schnake mit stählernem Stachel", sagt ein 
chinesisches Sprichwort. So lange kein Nachtfrost einsetzt, behalten 
die Bäume ihr Laub, ohne es zuvor rot oder gelb abzutönen. 
Meistens setzt eines guten Tages plötzlich der scharfe Nordwind 
ein; wenn dann am anderen Tage die gute Sonne wiederum ihre 
milden Strahlen sendet, rieseln die Blätter von den Bäumen herunter; 
der Nachtfrost hat es ihnen angetan. Und auch die Blumen lassen 
ihre Köpfe hängen, und das Laub färbt sich schwarz. Jetzt ist es 
Zeit, Möhren, Rüben, Kohl, süße Kartoffeln und Erdnüsse ein- 
zuheimsen. Dann allerdings bewahrheitet sich nach wenigen Tagen 
des Dichters Wort: „Herbstlich alle Fluren rings verwildern, und 
unkenntlich wird die Welt". Aber dann hat auch nach chinesischer 
Zeitrechnung schon längst der Winter sein Regiment angetreten. 



Wachteln in China. 

Um 6. Januar d. J. wurde in Tsinanfu „eine Himmelslaterne 
angezündet" (tien t'ien töng). Zwar war es heller Tag, 
aber es galt ja auch nicht das Dunkel der Nacht zu ver- 
X3SS 1re ib en ? a ls vielmehr Schrecken und Abscheu zu erregen * 
in der Menge, die sich zu Tausenden eingefunden hatte. Ei n grau- 
siges Schauspiel fürwahr, denn die „Laterne" war nichts anderes als 
ein lebender Mensch, der in Tuch eingewickelt, mit Ol übergössen 
und dann, an einen hohen Pfahl gebunden, angezündet wurde. Ein 
Unmensch war es allerdings, ein Muttermörder, der sich nicht nur 
an ihrem Leben vergriffen, sondern sogar von ihrem Fleische — 
gefressen hatte. Und die ganze Veranlassung war nichts weiteres, 
als ein armseliger Vogel, eine Wachtel. Während sich der Sohn 
darin verliebt hatte, war das Tier der Mutter ein Dorn im Auge, 
und eines guten Tages, als der Sprosse nicht daheim war, wurde 
der Vogel kurzerhand erdrosselt, gebraten und dem kleinen Enkel 
gegeben, der sich ihn gut schmecken ließ. Heimgekehrt fand der 
Sohn seinen Liebling nicht mehr, und als er erfahren, was damit 
geschehen sei, geriet er dermaßen in Zorn, daß er tat, was wir 
bereits wissen. 




— 32 — 

Solche Verbrochen ahnt das chinesische Gesetzbuch hart, und 
wir finden es kaum erklärlich, wie sie unter einem Volke, wo die 
Liebe zu den Eltern dermaßen ausgeprägt ist, überhaupt möglich 
sind. Doch hat eine Wachtel in China schon manchem das Leben 
gekostet, wenn auch nicht in dem Maße, wie den alten Juden, die 
sich zu Tode daran aßen. Die Wachtel ist für unzählige Chinesen 
ein Spielzeug, an dem sie mit ganzer Seele und leidenschaftlicher 
Liebe hängen, das ihnen lieber ist als Hab und Gut, lieber als 
Eltern und Verwandte. Noch dieser Tage starb hier in der Nähe 
ein Wachtelliebhaber aus Gram darüber, daß ihm die Katze in 
einer Nacht ein Dutzend dieser Tiere verzehrt hatte. Es war zeit- 
lebens seine Hanptbeschäftigung gewesen, jeden Herbst wochenlang 
mit dem Wachtelfang sich abzugeben. Jetzt zählte er bereits 70 
Jahre, aber noch immer konnte er sein „Lieblingsvergnügen" nicht 
aufgeben. Mit vieler Mühe hatte er eine Anzahl Vögel zusammen- 
gebracht, und nun räumte die mörderische Katze in einer Nacht 
damit auf. Dem Alten schmeckte von der Zeit kein Essen mehr; 
seine Lebensfreude war dahin ; es dauerte nicht lange, da starb auch er. 

Der Wachtelfang hat für den Chinesen etwas Verführerisches, 
wie anders wo das Wilddieben. Wachtelfänger und Wilddiebe betrei- 
ben ihr Geschäft in der Finsternis und scheuen weder die Dunkel- 
heit der Nacht, noch das Ungemach der Witterung. Aber während 
der Wilddieb seinen Weg nimmt in das Dickicht der Wälder, zieht 
der andere auf das flache Land, wo er sich mit Hirsenstroh ein 
künstliches Saatfeld eingerichtet hat. In einem Versteck hockt er 
dort stundenlang, ohne sich auch nur zu rühren. Unverdrossen aber 
läßt er vermittelst einer kleinen Bambusflöte seinen Lockruf erschal- 
len, der dem Rufe der Vögel ähnlich klingt. An einer Stange hat er 
einen Käfig befestigt, in dem sich ein oder mehrere Wachtelhähn- 
chen befinden, die auf den Hennenruf des Fängers jedesmal ant- 
worten. Sind nun Wachteln in der Nähe, so lassen sie sich her- 
beilocken und verbergen sich in dem Hirsenstroh. Darüber ist ein 
Netz ausgebreitet, welches nur an der Seite offen gelassen ist, wo 
der Fänger sich versteckt hat. Sobald die Morgensonne den Himmel 
zu röten beginnt, kann er sich hineinwagen; es ist eine Eigentüm- 
lichkeit der Tiere, daß sie dann nicht mehr so leicht davonfliegen. 
Mit einem langen Stecken werden sie in eine Ecke des Netzes 
zusammengetrieben und gefangen. Nicht selten hat der Wachtel- 
freund eine halbe Nacht umsonst gelockt und gewartet und sich 
müde gekauert; am Morgen kann er unverrichteter Sache wieder 
nach Hause zurückkehren. Er verschläft dann den Aerger, um 



— 33 — 

gegen Mitternacht mit neuem Mute auf die Jagd zu gehen. So 
treibt er's fort, bis die Wachtelzüge aufhören; diese dauern meistens 
einen bis zwei Monate. 

Hat ihm das Glück Wachteln in das Netz getrieben, freut er 
sich königlich, zumal wenn recht viele Männchen darunter sind. Die 
Weibchen wandern in die Bratpfanne, die Männchen aber werden 
zu Kämpfen abgerichtet. Gute Freunde erhalten das eine oder 
andere Tier zum Geschenk, mit den andern zieht man zum Markte. 
Die Preise sind sehr verschieden. Für gewöhnlich wird ein eben 
gefangenes Männchen mit 100 Käsch bezahlt, während gut dressierte 
überhaupt „unbezahlbar" (mu ju tja) sind. Es ist schon vorge- 
kommen, daß reiche Käuze für ein Exemplar mehrere 100 Lot 
Silber, also ein kleines Vermögen zahlten. 

Eine gute Wachtel kaufen bedeutet für den Chinesen ein 
Geschäft von großer Wichtigkeit. Es gibt verschiedene Bücher 
(z. B. Ngan-tschuin luin), in denen des langen und breiten über 
die Wachteln gehandelt wird. In denselben befindet sich eine 
genaue Beschreibung der zum Kämpfen geeigneten Elemente. Da 
kommt alles in Betracht: Größe, Kopf, Schnabel, Nase, Gesicht, 
Füße, Brust, Schwanz, Farbe usw. Unsere Rekruten werden bei 
der Aushebung keiner so genauen Besichtigung unterworfen, als ein 
echter Wachtelkenner allseitig sein Kaufobjekt betrachtet, um ja 
einen tüchtigen Kämpen zu erstehen. Aber trotz allem sind auch 
hier Lug und List an der Tagesordnung. 

So verstand sich ein alter Wachtelfänger darauf, seine Tiere 
in der Weise abzurichten, daß sie nur einem bestimmten Gegner 
gegenüber (den er immer bei sich führte) wahren Heldenmut an 
den Tag legten, vor unbekannten Feinden aber in der Regel Reiß- 
aus nahmen. Einst ließ er sich im Mandarinat ein Wachtelhähn- 
chen gegen hohen Preis abhandeln und wollte sich eben mit dem 
Gelde davonmachen. Doch die Häscher kamen ihm zuvor und 
schleppten ihn vors Tribunal ; dort sollte er büßen für seine Betrüge- 
reien. Abends besuchte ihn sein Freund. Diesem flüsterte er leise 
ins Ohr, doch so, daß die Wächter abseits es hören konnten : „ Aber 
nimm ja meinen Wachtelkönig gut in acht ; käme der mir abhan- 
den, wäre ich ein ruinierter Mann." Dem Mandarine wurde nun 
hinterbracht, er habe eine sehr kostbare Wachtel. Sofort ließ 
er den Gefangenen vor sich kommen und versprach ihm 50 Lot 
Silber, falls er die Wachtel abtreten wolle. Der Häftling tat, 
als gelte es ein großes Opfer zu bringen, aber schließlich verstand 
er sich doch zu dem Verkaufe. Frei auf den Füßen und auch 

K. Pieper, „Neue Bündel 14 . 3 



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schon das Geld in der Tasche machte er sich dann eilends aus dein 
Staube; die List war das zweite Mal gelungen, denn der „König* 
war um kein Haar besser, als sein Vorgänger. 

Nicht minder mühevoll und beschwerlich als das Fangen der 
Vögel ist auch das Dressieren derselben. Für die arme kleine 
Kreatur beginnt ein wahres Martyre rieben. Zunächst muß sie in 
den Käfig wandern; aber das ist kein geräumiger Bauer, sondern 
ein Ding wie ein Tabaksbeutel mit dem Unterschiede, daß es einen 
hölzernen Boden hat. Darin ist es arg dunkel, und das holde 
Tageslicht bekommt der arme Gefangene nur zu sehen, wenn er 
die Körperrecktur (pa ngan tsch'uin) mit durchmachen muß. Die- 
selbe besteht darin, daß der Dresseur den Vogel in die linke Hand 
nimmt und den Kopf zwischen Mittel- und Zeigefinger haltend, die 
Füße stramm nach unten biegt. In dieser Stellung muß der 
Vogel wenigstens drei bis vier Stunden verharren. Dadurch sollen 
die Beinmuskeln kräftig werden, was für ihn beim Gefechte von 
großem Vorteil ist. 

Das Füttern geschieht während der Nacht beim Lampenlicht. 
Die Wachtel wird aus dem Beutel hervorgeholt; auf einem Tische 
ist Hirsekorn in bestimmter Menge ausgestreut. Dasselbe wird zu- 
vor mit Teewasser angefeuchtet und ist auch zeitweilig mit Gurken- 
stückchen untermischt. Das geschieht zum Zwecke der Entfettung. 
Damit das Tier „ seine Gedanken" nicht zu sehr auf das Fressen 
richte, wird es bisweilen gereizt. 

Ungefähr alle fünf Tage muß der Rekrut eine Waschkur 
durchmachen. Auch hierzu wird Teewasser genommen und zwar 
recht warmes. Der ganze Körper wird damit so lange gewaschen, 
bis er trieft. Dann werden dem Tiere sechs Stückchen Kohl in den 
Schnabel gezwängt, und nachdem es abgetrocknet ist, werden ihm 
die Windeln angelegt. In solchem Zustand wird es in den Busen 
gesteckt und bleibt solange darin, bis die Federn trocken sind. Zur 
Vorbereitung auf die Waschkur ist ein halber Fasttag erforderlich, 
und nach der Waschung muß wiederum ein halber Tag gefastet wer- 
den. Das überflüssige Fett bleibt an den Kohlstückchen hängen, und 
erst wenn der Magen rein ist, bekommt der Geplagte seine Portion. 

Ferner wird nach jedem Kampfe ein Teebad verabreicht; da- 
durch sollen die wunden Stellen schnell wieder geheilt und die 
Haut abgehärtet werden. Ist der Vogel so lange gedrillt, daß man 
glaubt, er könne den Kampf mit einem Gegner aufnehmen, wird 
er zuvor „taub geschrien". Aber auch darauf muß er sich durch 
eintägiges Fasten vorbereiten, denn bei einem vollen Magen sollen 



— 35 — 

die Ohren gegen Geräusch weniger emfindlich sein. Die Prozedur 
wird mit einem Bade eingeleitet, wobei dem Tiere zuvor die Ohren 
ausgewaschen werden. Nachdem die kleinen Federchen sorgsam 
von den Ohrenöffnungen fortgestrichen sind, nimmt der Dresseur 
den Kopf des Patienten in den Mund und stößt ein wahres Indianer- 
geheul aus. Das kleine Ding erzittert am ganzen Leibe, aber 
nun ist es auch ein für allemal gegen jedes Geräusch gefeit. Mag 
man ihm später beim Kampfe auch noch so sehr Beifall klatschen, 
es hört nichts davon und bleibt deshalb schön bei der Sache. 

Jetzt ist unser Rekrut Soldat geworden; begleiten wir ihn 
auf den Kampfplatz. Bevor er sich aber ins eigentliche Treffen 
wagen darf, muß er einige Tüchtigkeitsproben ablegen. Man stellt 
ihn einem schwächeren Feinde gegenüber, den er voraussichtlich mit 
wenigen Hieben in die Flucht jagt. Ist der Ausgang des Kampfes 
aber zweifelhaft, werden die Tiere von einander getrennt, ehe es 
zur Entscheidung kommt. Auf diese Weise wird der Mut belebt 
und die Stärke erprobt. 

Der glückliche Besitzer geht dann auf Gegnersuche; alle 
Türen stehen ihm offen. Mag er selber ein armer Schlucker von 
der Straße sein mit zerlumpten Kleidern und schäbigem Hute : selbst 
bei Mandarinen und Leuten von Rang darf er vorsprechen, falls 
die Herren eine tüchtige Wachtel haben. Geht es zur Probe, ver- 
sammelt sich alsogleich eine Anzahl Neugieriger, die dem Schauspiel 
beiwohnen wollen. Viele machen Wetten und bezeichnen zum 
voraus den Sieger. Als „Arena" dient der Reif eines Siebes. 
Darin wird ein Häufchen, Hirse gestreut; nachdem eine Wachtel 
hineingelassen ist und sich über das Futter hergemacht hat, wird 
auch die zweite hineingesetzt. Sofort beginnt der Kampf. Jetzt 
kommt es darauf an, welche am geschicktesten Hiebe zu versetzen 
und dem Gegner auszuweichen versteht. Während der Schnabel 
zum Angriff dient, werden die Füße zur Verteidigung benutzt; sie 
müssen die Hiebe des Gegners parieren. Als Helden gelten jene 
Tiere, die schon nach drei Hieben dem Gegner eine Wunde bei- 
bringen. „Nach dem dritten Schlage den Feind mit Blut bedecken 
ist besser als unbesiegbar in hundert Schlachten" gilt als Wahl- 
spruch bei den Wachtelkämpfen. 

Der Sieg ist in kurzer Zeit entschieden. Es ist eine Eigen- 
tümlichkeit der Wachteln, daß die Besiegte es mit dem Gegner 
nie mehr ein zweites Mal aufnimmt. Und auch anderen Gegnern 
gegenüber zeigt sie sich in der ersten Zeit sehr furchtsam. Man 
muß einige Wochen warten, bis eine neue Kampfesprobe versucht 

a* 



— 36 — 

werden kann. Im Gefechte kommt es hauptsächlich auf die Zahl 
der Schnäbelhiebe an; je zahlreicher und schneller dieselben aus- 
geteilt werden, um so sicherer ist der Sieg. „Eine Wachtel, die 
hundert Hiebe nacheinander versetzt, ohne mit der Wimper zu 
zucken, braucht keinen Feind mehr zu fürchten." 

Es gibt, wie bereits erwähnt wurde, eine eigene „Wachtel- 
Literatur". Dieselbe enthält genaue Beschreibung der Tiere, des- 
gleichen wird darin gehandelt über ihre Pflege, Dressur und dergl. 
Dort marschieren die Tiere unter zwtmzig verschiedenen Namen 
auf, die meistens Bezug nehmen auf das verschiedene Aussehen 
derselben. Öchslein von Stahl, wilder Bär, edler Phönix, Panzer- 
träger, Feldherr ohne Feind (er hat alle Gegner besiegt) sind Bezeich- 
nungen für Wachteln der besten Gattung. Weiter werden Beleh- 
rungen gegeben über die Krankheiten der Tiere und deren Heilung, 
Ermahnungen zum Mitleid, wenn dieselben schwach oder alt gewor- 
den, Warnungen vor Feinden, die dem Sieger hinterlistig schaden 
möchten. Man wird deshalb auch nie seine Wachtel von jenen 
berühren lassen, dessen eigene Wachtel besiegt wurde. Durch Nadel- 
spitzen, die unter den langen Fingernägeln verborgen sind, oder auf 
sonst eine Weise sucht der in seiner Wachtel Besiegte seinen Groll an 
dem siegreichen Vogel auszulassen, indem er ihm Wunden beibringt 
oder sonst schadet. Wir erfahren darin auch, daß die ersten Kampf- 
wachteln zur Zeit der Tang-Dynastie von Kaufleuten aus Liliangtjü (?) 
zur Landeshauptstadt gebracht worden sind. Dieselben waren so 
abgerichtet, daß sie nach den Schlägen einer kleinen goldenen 
Trommel den Kampf gleich wie im Takt betrieben. Der Kaiser 
war von dem Anblicke derart entzückt, daß er Befehl gab, vortan 
die Zucht und Pflege der Wachteln im Lande zu betreiben, da der 
Anblick der kämpfenden Vögel geeignet sei, den Mut und die 
Tapferkeit der Untertanen zu beleben. Freilich, wenn sich die 
Chinesen bisheran von den Wachteln ihren Kriegsmut und die 
Todesverachtung geholt haben, ist nicht zu verwundern, daß sie in 
den Schlachten so gern Reißaus nehmen. Wie gesagt, nimmt es die 
besiegte Wachtel nie mehr mit dem Gegner ein anderes Mal wieder auf. 

Wachteldresseure sind meistens Leute ohne ernste Lebens- 
beschäftigung. Woher sollten sie sonst auch die viele Zeit her- 
nehmen, die zum Fangen und Abrichten erforderlich ist. Es gilt 
sprüchwörtlich: „Wer zum Bettelstabe greifen will, braucht sich 
nur mit Vögeln und Pferden abzugeben." Jao schou tj'ung, uen 
mao tschung huo lung (Pferde- oder Maultierliebhaber geben oft 
ihr ganzes Vermögen daran, um in den Besitz eines guten Tieres 



- 37 — 

zu gelangen). Darum trägt der Besitzer auch nicht selten seinen 
ganzen Reichtum im Beutel bei sich. Sorgsam ist derselbe am 
Gurte befestigt und gerne leidet der Beutelträger selber Hunger, 
wenn der Liebling nur nicht zu darben braucht. Nur ungern ver- 
steht er sich zum Verkaufe. Erst noch kürzlich wurde einem Bettler 
ein ganzer Wagen voll Hirse zum Tausche angeboten für seine 
Wachtel. Aber er verzichtete auf das Getreide und wollte lieber 
für sich und den Vogel weiter betteln. 

Die Wachtel selber ist ohne Anhänglichkeit und Zuneigung 
gegen ihren Herrn. Mag sich derselbe jahrelang mit ihr geplagt 
haben, wird sie dennoch die erste Gelegenheit ergreifen, um auf 
und davon zu fliegen. „Theaterspieler, Wachteln und Affen sind 
niemals zahm zu füttern" 1 ) sagt das Sprichwort. 



Hasentreibjagd. 




Ijasontreibjagd — das Wort hat auch in China seine volle 
jj Kxi i nzberechtigung, obschon es den Leser auf eine falsche 
Fährte führt. Denkt er sich nämlich eine Treibjagd, wie 
8ig in der Heimat auf Meister Lampe veranstaltet wird, 
schießt er weit vom Ziele. Unsere Chinesen machen sich nur einmal 
im Jahre dieses Vergnügen und zwar an einem bestimmten Tage. 
Es geschieht am Feste der „Wintersuppe u (Lapatschou), welche 
am achten im letzten Monate bereitet und getrunken wird. (cf. U. 
S. 262.) Eine solche Suppe bildet eine solide Unterlage für die 
Anstrengungen des Tages. Es tun sich immer einige Dörfer zu- 
sammen, und die Zahl der Hasentreiber zählt oft nach Tausenden. 
Jedermann bewaffnet sich mit einem Knüppel, den er dem aufge- 
scheuchten Tiere zwischen die Beine wirft. Feuerwaffen werden 
nicht gebraucht, und deshalb ist auch keine Gefahr vorhanden, statt 
eines Hasen falsches Wild zu treffen. Auch kommt es vor allem 
darauf an, die Hasen lebendig zu ergreifen. Gilt es ja nicht, 
einen Pfeffer daraus zu bereiten als vielmehr ein „Wundermittel" 
von unfehlbarer Wirkung. Es kommen dafür Gehirn, Herz und 
Blut in Anwendung. Die Hauptfiguren bei besagter Treibjagd sind 
deshalb einige berühmte Schüler Äskulaps; zu diesen wird das 
gefangene Tier im Laufschritte gebracht. Sofort breitet man ein 
großes Tuch zeltartig über die Medizinfabrikanten aus. „Weder 

{ ) Ui pu schu-ti, chi-tze, ngan-tsch'uin. 



-- :w -- 

Luft noch Licht darf von außen hineindringen." Während nun 
einer den Kopf des Hasen spaltet und das Gehirn herausnimmt, 
muß ein zweiter dem Tiere das Herz aus dorn Leihe reißen und 
sorgfältig das Blut auffangen. Alle drei Dinge» werden mit anderen 
Geheimmitteln untermischt und zu Pillen geknetet. Die Arbeit 
muß dermaßen schnell vonstatten gehen, daß die fertigen Pillen noch 
die Blutwärme des erlegten Hasen haben. 

•Fertig!" schreit dann einer unter dem Zelttuche hervor, und 
sofort werden die Enden desselben, welche am Boden festgehalten 
werden mußten, losgelassen. «Fertig!- wiederholen die Treiber; 
„ jetzt einen zweiten Hasen gefangen - . Ist es aber unterdessen 
Mittag geworden, so wird zuvor ein kalter Imbiß genommen. Mehrere 
Säcke Dampfbrotehen werden mit aufs Feld getragen nebst einigen 
Salzrüben. Jeder bekommt seine Portion, denn jeder hat etwas 
beisteuern müssen, die Sachen zu kaufen. Nachdem man sich 
gestärkt, wird noch ein zweiter und dritter Hase gefangen, bis ea 
Abend geworden. Nach jedem Fange werden schleunigst die Pillen 
gemacht, die am Abende in den Besitz eines Dorfältesten wandern. 
Dieser muß sie sorgsam aufheben. Die Wundermedizin wird dann 
an Kranke verkauft und zwar für schweres Geld. Zum mindesten 
kostet die Pille einen Dio (1 M.) Im Falle sich viele Liebhaber 
darum bewerben, werden sie noch teurer bezahlt. Nur in bestimmten 
Krankheitsfällen kommen sie zur Anwendung, dann sollen sie aber 
unfehlbar helfen. Der Erlös für die verkauften Pillen wird teils 
als Honorar unter die r Doktoren" verteilt, teils dient er mit zur 
Deckung der Kosten, welche so eine Treibjagd verursacht. Fleisch 
und Fell der Hasen bleibt Eigentum jener, die ihn zuerst gefangen. 

Droht man in Peking jemanden, man wolle ihn mit einer kleinen 
Peitsche verhauen (na sio pien tse ta ni), so fühlt er sich stark 
beleidigt. Nicht so sehr mit Rücksicht auf die Peitsche als auf den 
moralischen Beigeschmack, den solche Prügel verursachen. Mit 
einer Peitsche werden nämlich in Peking am Wintersuppenfeste 
einige Hasen herumgehetzt, die man eigens für diesen Zweck gezüchtet 
hat. Da eine Treibjagd auf dem Felde mit zu vielen Umständen ver- 
bunden wäre, stellen Wunderpillenfabrikanten sie innerhalb der vier 
Wände ihres Hofes an. Wenn das Tier ungefähr zu Tode gehetzt 
ist, wird auch ihm der Garaus gemacht in oben beschriebener Weise. 

Die Hetzjagd auf Hasen erinnert mich an eine andere Tier- 
hetze, welche gleichfalls zum Zwecke der Heilung von Krankheiten 
unternommen wird. Das gehetzte Tier ist ein Huhn. Es wird 
demselben eine bestimmte Medizin eingegeben, die sonst der Kranke 



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nehmen müßte. Hat es dieselbe glücklich hinuntergeschluckt, geht 
das Hetzen los und dauert so lange, bis das Tier ganz in Schweiß 
gebadet ist und nicht mehr laufen kann. So wie es da ist, „mit 
Haut und Haaren u und Eingeweiden, geht's dann mit ihm in einen 
Topf voll brodelnden Wassers; darin wird es eine Stunde lang gekocht. 
„Steh auf und iß", wird dann der Kranke kommandiert. Zuerst 
muß er die Suppe trinken und schließlich das Fleisch verzehren. 
Erwähnt sei noch, daß weder Salz noch sonstige Würzmittel in den 
Topf dürfen, denn der Kranke ist ein Wassersüchtiger, dem der 
Gebrauch solcher Reizmittel (an erster Stelle des Salzes) strengstens 
verboten ist. Der Kranke, um den es sich diesmal handelte, war 
niemand anders als unser hochw. P. Provikar Freinademetz. Er 
hatte die Wassersucht in solch hohem Grade, daß ein dieserhalb 
konsultierter europäischer Arzt nur wenig Hoffnung hatte auf Erhal- 
tung seines Lebens. Mancherlei Arzneimittel, europäische sowohl 
als chinesische, waren ohne Erfolg gewesen. Zwei Medizinhühner 
aber, die ihm ein berühmter Chinesen-Doktor verordnete, haben ihn 
innerhalb weniger Tage glücklich durchgebracht. Das war vor acht 
Jahren; der Kranke ist aber seitdem nie mehr rückfällig geworden. 



a oceoeeec *»" - 



Der Winter. 

„Dem Schweine friert zunächst der Bauch, 
Dem Hunde seine Schnauze; 
Beim Menschen beginnt die Kälte bei den 

[Füßen. tt 
(Chines. Sprüchwort.) 
Tschu long tu p'i, 
Kou long zui; 
Yin long, sit'ii ts'ung tjüo chia tj'i. 

S?|^IPSm ! t Winter m it seinem Schrecken steht vor der Tür. Anzu- 
^Ij'^SB klopfen braucht er nicht lange, denn die meisten Türen 
^ÄSsi^S °^ nen 8 * cn mm von 8e lber. Nur ein leiser Windhauch 
&IÖV& 11 genügt, und sie fliegen offen, da Schloß und Klinke fehlt. 
Und selbst wenn ein Riegel von innen vorgeschoben wird, gibt es 
spannenweite Fugen und handbreite Fensterlöcher, durch die der 
kalte Nord nach Herzenslust hineinbläst. Kein Zimmerofen schlägt 
ihn aus dem Felde; unbehindert dringt er ein, in die Hütten der 
Armen sowohl, als auch in die Wohnungen der Reichen. Machen 
letztere auch mal ein Feuerchen an im Kohlenbecken, so sind doch 



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meistens an Fenstern und Türen Spalten genug, aus denen die 
Wärme bald wieder entweicht. Das ist auch ein Glück, denn sonst 
würden die giftigen Kohlenoxyde sicherlich mehr Opfer fordern. 

Den besten Ofen trägt der Chinese am eigenen Leib, sein 
Fellkleid nämlich, das ihn von der Außenwelt fast hermetisch ab- 
schließt. Darin fühlt er sich denn auch sicher wie in einer Burg, 
und läßt Wind und Wetter in gedeckter Stellung an sich vorüber- 
ziehen. Für Gesicht und Hände aber steht das Feuerbecken in 
Bereitschaft, das er gar auf Ausgängen mit sich führt, wie daheim 
die Fauen ihren Muff. Feuerbecken dieser Art haben die Form 
eines Körbchens und sind mit einem durchlöcherten Deckel geschützt. 
Selbst auf Reisen werden in Sänften und Karren solche Dinge mit- 
geführt, und raffinierte Verzärtelungskunst verbirgt sie in Ärmel 
und Busen. Wenn dann ein Heimchen im Versteck (in der Achsel- 
höhle) nebenan traulich zirpt, läßt man sich's wohl sein und genießt 
Sommerfreuden im kalten Winter. Ebenso wie die Häuser von 
einander verschieden sind, sind es auch die Felle. Während sich die 
Reichen in Häute hüllen, die kaum gegen Silber aufzuwiegen sind, 
und von denen ein einziges Kleidungsstück oft ein ganzes Kapital 
kostet, nimmt der Arme mit einem schäbigen Hundefelle vorlieb, 
das er sich um die Schultern schlägt. In Schafs- und Ziegenfelle 
aber kleidet sich der Herdenmensch, der Mittelstand, falls er sich 
nicht mit wattierten Kleidern allein schon begnügt. Und schließlich 
sind gut wattierte Hosen mit einer Jacke ganz vorzügliche Kältepan- 
zer. Wenn die Füße dann noch in wattierten Strümpfen stecken und 
diese in Schuhen von Bast oder Binsen und der Kopf bedeckt ist mit 
einer Pelzmütze, kann der Kampf mit den Elementen gewagt werden. 

Hat der Chinese seine Leibesbehausung hergerichtet, was für 
manchen jedes Jahr eine wahre Lebensfrage bedeutet, gibt er sich 
daran, auch seine Familienwohnung zum Einzüge des gestrengen 
Herrn Winters zuzurüsten. Es scheint das schon Jahrtausend alter 
Brauch zu sein. Schon im Buche der Lieder singt der Dichter: 

Im zehnten Monat geht das Heimchen unter minor Bett. 
Man stopft die Hitzen, räuchert nus die Mäuse, 
Verschließt die Fenster, übertüncht die Türen. 
Voll Mitleid spreche ich zu Frau und Kind : 
Angekommen ist ein neuer Wind : 
In diesem Heim da wollen wir wohnen. 

(Pin, 15. 1. 1114 v. ehr.) 

Die Mäuse haben es sich während des Sommers unter dem 
Familienbett (Khang) gut sein lassen. Jetzt wird Feuer darunter 
angemacht, und sie müssen Reißaus nehmen. Ritzen und Locher 



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aber werden mit Lehm zugeschniiert, desgleichen die Türe aus 
Röhricht oder Sorghostengel, wie sie auch heutzutage noch vielfach 
Brauch ist bei armen Bauten. Vor die Fensterlöcher wird ein Stück 
alte Matte gehängt, oder man verklebt sie mit Papier. Das gibt 
von Innen der Wohnung ein ungemein frostiges Aussehen; dem 
chinesischen Winter aber ist es versagt, Blumen auf die Scheiben 
zu malen. Doch für solche Poesie haben unsere Bezopften wenig 
Sinn. Die größte Anziehungskraft für sie hat das oben genannte 
Familienbett. Was für unsere Vorfahren daheim früher der Herd 
bedeutete, das ist für den Chinesen annoch der Khang. Das gewal- 
tige „Möbel" aus Luftziegeln gebaut und meistens ein Viertel der 
ganzen Stube einnehmend, hat für chinesische Verhältnisse viele 
Vorzüge und entbehrt auch des Reizes nicht. Bei uns im West- 
falenlande benutzte früher das Bauernvolk vielfach so ein Mittelding, 
das halb Herd halb Ofen sein sollte, und das in Mitte der Wand 
gesetzt zur Küche hin die Kochtöpfe aufnehmen, auf der andern 
Seite aber die „beste Stube" heizen mußte. Der Chinesische Khang 
versieht gleichfalls ein Doppelgeschäft. Mit seinem Kopfende ist er 
Kochmaschine, die Verlängerung davon aber wird als Familienbett 
benutzt und dient als „Plauderstübchen", so lange man nicht darauf 
schläft. Dann sitzt alt und jung in trautem Kreise versammelt, und 
wir finden dort ein Stück Familienfrieden und Feierabend nach 
chinesischem Begriffe. 

So ein Kommunistenbett ist auch nicht selten mit einer General- 
decke versehen, unter die sich alt und jung während der Nacht ver- 
kriechen. Es dauert meistens eine Weile, bis unter allen Zipfeln 
Ruhe herrscht, denn jeder zieht und zupft, um ein recht großes 
Stück zu ergattern ; darüber gerät er bisweilen mit seinem Nachbar 
in Kontakt und Konflikt, bis schließlich der Gescheidteste nachgibt 
und das ganze Nest in Morpheus Armen friedlich schnarcht. 

Kürzlich erzählte mir ein Pfiffikus, wie er es einmal im Wirts- 
haus gemacht, als die Decke gar so klein, der Genossen aber so 
viele gewesen. Er habe sich anfange ganz ruhig verhalten, bis 
man ihn schließlich auf die Seite gedrängt. Dann habe er angefan- 
gen sich zu kratzen aus Leibeskräften. Dem Nachbar sei das 
verdächtig vorgekommen, und dieser habe ihn gefragt, ob er denn 
bei der kalten Jahreszeit noch voll Ungeziefer stecke. Das nicht, 
lispelte unser Pfiffikus, aber, fügte er leiser hinzu — ich habe so 
arg die Krätze. Der Nachbar habe sich dann schnell auf die Seite 
gedrückt und ihm Bewegungsfreiheit gelassen nach Belieben. In 
„besseren" Wirtshäusern worden die Decken für eine Nacht an 



— 42 — 

Gäste vermietet, meistens zu 10 — 20 Käsch für eine Nacht. Die 
am meisten beschmutzten und von Fett glänzenden gebraucht man 
als Unterbett, in die anderen hüllt man sich ein. 

Spät in der Nacht klopft da neulich ein Wirt an die Türe 
unseres Nachbars. Er möchte gern eine Decke leihen, denn eben 
ist noch ein Gast gekommen, der gern 20 Käsch dafür zahlen will. 
Kaum hört der Nachbar die 20 Käsch nennen, springt er hurtig 
aus seiner Decke, rollt sie auf und überläßt sie dem Wirte; für 20 
Käsch will er sich gern eine Nacht behelfen und frieren. 

Unter den Bergbewohnern gibt es übrigens Unzählige, die 
selbst bei der größten Kälte keine Decken gebrauchen. Statt der- 
selben ziehen sie ihre Kleider aus und decken sich damit zu. Wenn 
es dann während der Nacht nicht mehr will und die Kälte sie nicht 
schlafen läßt, stehen sie auf, hängen sich die Kleider lose um die 
Schultern und machen von dürrem Bergstroh ein Feuerchen an. 
Daran wärmen sie sich nach Herzenslust; schließlich hält man die 
Kleider über das Feuer, wodurch das Ungeziefer hinaus geräuchert 
werden soll, und begibt sich wieder zur Ruhe. Wenn es recht kalt 
ist, werden derartige Erwärmungskuren während der Nacht mehrere 
Male vorgenommen. 

Kommt bei Tage ein Gast, so ist die erste Frage, ob es ihm 
kalt sei. Er behauptet natürlich das Gegenteil, aber trotzdem wird 
sofort in der Mitte des Zimmers ein Feuer angezündet. Um das- 
selbe hockt man sich im Kreise ; wenn der Rauch zu sehr die Augen 
zerbeißt, tritt man eben hinaus und trocknet sich die Tränen. Die 
Hauptbeschäftigung vieler Bergbewohner besteht im Winter darin, 
daß sie während des Tages Brennmaterial suchen, wenigstens soviel, 
um sich glücklich durch die nächste Nacht zu wärmen. Kleider 
und Leute bekommen durch das beständige K'ao chuo (sich am 
Feuer erwärmen) allmählich das Aussehen rußiger Schornsteinfeger 
aus alter Zeit (neueren Datums sind ja nicht mehr so schwarz). 
Zudem sind die Chinesen keine sonderlichen Freunde von Wasser, 
zumal nicht von kaltem. Das Waschen wird deshalb auf wärmere 
Zeit verschoben, oder man überläßt es dem Barbier, wenn er das 
Haupt rasiert. Und riechen tun unsere Bergbewohner wie geräucherte 
Bückinge, will sagen wie der Rauchfang bei regnerischem Wetter. 

An einer Brücke in Luzern ist zu lesen: 

Was trachtest du nach hohem Gcbäu — 
Du wirst nicht machen alles neu. 
Grab eine Elle die Erde au» 
Dann hast du schon ein gemauert Haus. 



— 43 — 

Nach diesem Rezepte bauen im Winter viele Chinesen, beson- 
ders solche, die mit Kleidung und Wohnung schlecht bestellt sind. 
Diese Erdwohnungen, Ti-jin-tse genannt, stellen oft einen beträchtlichen 
Raum dar, in dem sich mehrere Dutzend Personen bequem aufhalten 
können. Die Höhe ist für Leute mittleren Schlages berechnet; wem 
der Kopf zu hoch gewachsen ist, stößt ihu sich an den Balken in 
der Mitte des Zimmers. Über dem Balken liegen dünnere Quer- 
hölzer; diese tragen Sorghostengel. Das Ganze ist dann mit einer 
dicken Schicht Erde überdeckt. Am südlichen Ende wird ein Loch 
gelassen; durch dasselbe steigt man vermittelst einer Leiter hinab. 
Diese Erdwohnungen finden im Winter eine ausgiebige Verwendung. 
Arme Leute wohnen darin mit Kind und Kegel ; der Gärtner bewahrt 
darin sein Gemüse auf, sowie Blumen, welche die Kälte nicht ver- 
tragen können. Wer im Winter etwas verdienen will, steigt in die 
Ti-jin-tse hinab, um Matten zu flechten oder Feuerwerk herzustellen 
für Neujahr. Töpfer arbeiten an ihrer Drehscheibe ; Frauen spinnen 
und weben oft bis tief in die Nacht hinein. Zweifelhafte Elemente 
aber, die ihren Beruf darin suchen, Zeit und Geld zu vergeuden, 
finden in der Ti-jin-tse einen beliebten Schlupfwinkel, um verbotenen 
Spielen obzuliegen. 

Die Chinesen teilen den Winter in eine Kälteperiode von 
neun mal neun Tagen ein, welche mit dem 22. Dezember beginnt. 
Jede Neun hat ihren eigenen Charakter, und wenn das eine über- 
standen ist, hofft man auf das folgende, bis schließlich mit dem 
letzten Neun „Weiden und Pappeln die Nase zu fließen beginnt". 
(Anspielung auf die baumelnden Kätzchen.) Das Ganze ist so eine 
Art „Reserve-Kalender" und soll mithelfen, sich durch das strenge 
Regiment des Winters hindurchzuhoffen : 

Erste und zweite Neun, hält die Hände im Ärmel ; 
Dritte und vierte Neun, führt aufs Eis; 

Die Hälfte der fünften Neun reißt die Eisdecke auseinander; 
Am Ende der sechsten Neun ist Frühlingsanfang; 
Das Ende der letzten Neun läßt die Pappeln erblühn. 
Am kältesten ist es in der dritten Neun, wie es am heißesten ist in der 
Mitte der Hunds tage. 

In seiner äußeren Gestalt betrachtet, hat der chinesische Winter 
ein viel prosaischeres Gesicht als unser Winter daheim. Nur äußerst 
selten trägt er um seinen Schultern den Hermelin des Schnees, so 
sehr auch die Bauern für ihren Weizen darnach verlangen. Sein 
Bart ist wegen der trockenen Kälte nur höchst selten mit wenigen 
Eiszapfen geziert und im Rucksacke finden sich weder Apfel noch 



— 44 — 

Nüsse. Die chinesische Jugend kennt nichts von Schneeballworfen, 
und Schlittschuhlaufen ist ihr gleichfalls ein unbekanntes Vergnügen. 
Ist gut Vorrat eingesammelt, dann läßt's sich noch leidlich leben; 
geht es aber in den Winter mit leeren Kornkörben, dann muß man 
sich anstrengen, möglichst wenige Kräfte zu verbrauchen, und man 
nimmt zum Schlafe seine Zuflucht. Mancher begnügt sich mit ein- 
maliger Mahlzeit im Tage, die er gegen Mittag verzehrt. Wenig 
arbeiten, denken und träumen hält die Kräfte zusammen, läßt den 
Hunger vergessen und führt unvermerkt in bessere Zeiten. Somit 
ist mancher Hungerkünstler, nicht aus Liebhaberei, oder Geld damit 
zu verdienen, sondern um Kräfte und Brot zu sparen. 

Besonders hart aber packt der rauhe Winter die armen Bettler 
an auf offener Straße und die Eingekerkerten in ihren Gefängnissen. 
Notdürftig nur mit einem Stück Sackleinen oder einem haarlosen 
Hundefelle um die Lenden bekleidet, eilen die Jammergestalten vom 
kalten Nord gepeitscht durch die Straßen. Wer sie einmal gesehen, 
wird ihren Anblick so leicht nicht mehr los. Bei Tage suchen und 
stehlen sie sich etwas Brennmaterial zusammen; am Abende ver- 
sammeln sie sich dann meistens in einer Pagode, machen in einem 
Winkel derselben ein Feuerchen an und kochen sich etwas Wasser, 
worin sie die erbettelten Brotstückclien tunken ; in die warme Asche 
aber kauern sie sich während der Nacht zusammen. Ungewaschen 
und ungekämmt stehen sie dann am Morgen auf, das Jammerleben 
beginnt von neuem. Wohl niemand harrt dem Frühlinge sehnsuchts- 
voller entgegen, wie diese Armen. Und wenn sie dann einmal 
gründlich gewaschen und rasiert werden und die warme Sonne scheint 
auf den glatt polierten Schädel, fühlen sie sich wie neugeboren, 
und alles Winterelend ist vergessen. 

Was die Gefangenen betrifft, so werden gegen Ende des 
Herbstes die Listen von solchen, die ihr Leben verwirkt haben, an 
den Kaiser geschickt. Dieser bezeichnet eine Anzahl derjenigen, 
welche enthauptet werden sollen. Es geschieht das zur Zeit des 
„großen Schnees" (am 7. Dezember). Die anderen bekommen wär- 
mere Kleider für den Winter und müssen im Gefängnisse verbleiben* 
Wenn sie während mehrerer Jahre der kaiserliche Befehl verschont 
hat, avancieren sie mit der Zeit zu Gefängniswärtern empor, oder 
man schickt sie in die Verbannung. 

Den Glanzpunkt für uns Christen im Winterzenith bedeutet 
das h. Weihnachtsfest mit seinem Himmelsfrieden und seinen Kinder- 
freuden. Chinas Millionen wissen nur zum kleinsten Teil von den 
Segnungen der h. Weihnacht, und die meisten schmachten noch in 




— 45 — 

den Finsternissen des Heidentums. Für sie ist der ]N*eujahrstag das 
Nationalfest, an dem sich Freund und Feind neuen Frühling, neue 
Freunde wünscht. 



£c « m w 

Uen-pa-chi-ti. 

Jnser abgelegenes Dorf Puoly wird zu Beginn der kalten 
Jahreszeit alljährlich von einigen Theatergesellschaften 
.^besucht, die, aus der Provinz Chili kommend, auf dem 
^/(©LföV® Woge zum wärmeren Süden gerne hier vorsprechen. 
Gewöhnliches Landvolk ist es, das in den Sommermonaten auf dem 
Felde seine Arbeit tut, während des Winters aber Akrobaten- und 
Kasperlekünste zum Besten gibt. Man nennt sie Uen-pa-chi-ti 
„Faust-Theaterspieler", weil ihre Künste hauptsächlich durch die 
Geschicklichkeit der Hände verrichtet werden. Die Arbeit hat natür- 
lich die Leute etwas ungelenkig gemacht und deshalb fallen Anfangs 
die Aufführungen nicht immer, zum Besten aus. 

Kommt da vor einigen Tagen wiederum eine fünf Köpfe starke 
Bande und meldet mit lauten Tamtamschlägen ihre Ankunft an. 
Die Hauptmitglieder gehören wie gewöhnlich dem jungen Volke an. 
Elternlose Kinder sind es meistens, von der Strasse aufgelesen oder 
von Verwandten an Theaterspieler um ein Geringes verkauft. Auch 
soll es vorkommen, daß kleine; Knaben von Akrobatenkünstlern 
aufgeschnappt und gestohlen werden. 

Es ist ein saures Brod, das die Leute sich verdienen, obschon 
sie immer guten Humor erheucheln müssen und die Zuschauer ins 
lustige Lachen bringen. Die Gliederverrenkungen, die die Knaben 
machen, können nur durch langjährige Übungen erlernt werden, 
und sie müssen damit beginnen, wenn die Glieder noch zart und 
geschmeidig sind. Radschlagen von vorne herüber und hinten 
hinüber; Radschlagen ohne jeden Anlauf; auf einem Beine stehen, 
während das andere senkrecht in die Höhe gestreckt wird; sich 
beim Gehen mit der Fußspitze vor die Stirne schlagen; auf Stelz- 
füßen tanzen und sich wie ein Kreisel herumdrehen: das sind so 
die gewöhnlichen Übungen. Besonders aufregend sieht es aus, wenn 
ein kleiner Knirps von höchstens zehn Jahren sich rücklings hin- 
überbiegt, daß er mit Händen und Füßen die Erde berührt, der 
Leib aber eine Brücke bildet. Auf diese stellt sich dann ein erwach- 



— 46 — 

sener Mann, ohne sich sonst irgendwo anzurühren. Einem andern 
Knahen legt man eine Stange über den Rücken ; auf diese werden 
die Hacken des Jungen gebogen, so daß er gleichsam seine eige- 
nen Füße auf den Schultern trägt. 

Recht geschickt ist unsere Gesellschaft auch in Aufführung 
von Taschenspielerkünsten. Da werden Mäuse, Fische, Hühner und 
dergleichen „aus der Luft" hervorgezaubert und zwar mit einer 
Schnelligkeit und Gewandtheit, daß der Zuschauer rein nichts von 
den gemachten Kunstgriffen merkt. 

In einen Rahmen werden Messer gesteckt, die eine runde 
Öffnung scharf abgrenzen. Ein Akrobat wirft sein Oberkleid ab, 
schnürt die wattierte Hose fest um die Hüfte, nimmt einen Anlauf 
und futsch — ist er durch den Messerkreis gesprungen, ohne sich 
auch nur geritzt zu haben. Im vorigen Jahre aber blieb einer bei 
dem Sprunge hängen, fiel mit dem Messerrahmen um und verletzte 
sich dabei nicht wenig. 

Grausig ist es anzusehen, wenn einer der Künstler in einen 
Beutel greift, in dem sich ein Nest Schlangen zu einem Knäuel 
verwickelt. Er zieht ein meterlanges Exemplar daraus hervor, 
nimmt dessen Kopf und zwängt ihn durch eines seiner Nasenlöcher. 
Das Tier kriecht in der Nase empor, findet im Munde einen Aus- 
weg; der Bändiger aber ergreift den Schwanz des Reptils und 
bindet ihn mit seinem Zopfe zusammen. Die Schlange krümmt 
sich im Gesichte herum, züngelt gegen die Zuschauer; aus dem 
Munde des Akrobaten aber läuft der Speichel herunter. 



Schuldenmachen und Schuldeneintreiben. 

|& HR- Afl 3< Wfc Borgen ist soviel als verlieren. 

(Sprüchwort) 
I 

Jchuldenmachen und Schuldeneintreiben — das ist ein lang- 
beiniges Wort; die Chinesen wissen sich kürzer zu fassen, 

^ inrioni sie ;#£ gg, |g fjg la tschan, yao tschan sagen. Das 
#/iftV^i l* 1 tschan (Schuldenmachen) tut man im Laufe des Jahres, 
das yao tschan (Schuldeneintreiben) aber beginnt im flfifcü la yüo, 
im letzten Monate des Jahres, und so kurz das Wort auch ist, so 
ließe sich doch eine ganze Jeremiade darüber schreiben. Schulden- 
eintreiben ist ja auf der ganzen Welt kein angenehmes Geschäft; 
in China aber, wo das Herz mit dem Gelde verwachsen zu sein 




— 47 — 

scheint, macht es noch viel mehr Schwierigkeiten zu seinem Eechte 
zu kommen als anderswo. Es gehört dazu des Chinesen ganze 
Beredsamkeit und zähe Ausdauer, und wenn es ihm an dem einen 
oder andern fehlt, kann er jahrelang die nähmlichen Forderungen 
stellen, ohne jemals etwas zu bekommen, und obendrein bleibt er 
der Geprellte. Wollte er seinen Schuldner verklagen, so käme er 
nur vom Regen in die Traufe, und die vielen Auslagen, welche der 
Prozeß ihm verursachte, würden sich wo möglich noch höher belaufen 
als seine Forderung. Gründe zum Nichtzahlen hält der Schuldner 
feil wie Brombeeren, und wenn auch kein einziger stichhaltig ist, 
so sind sie doch geeignet die Geduld des Fordernden auf harte 
Proben zu stellen und seine Redekunst zu prüfen. Fragen wir einen 
Bedauernswerten, welcher das Schuldeneintreiben besorgt: $J ^ #J 
hao pu hau (wie geht's), so zeigt er stumm (er ist schon heiser 
geworden von all den guten und bösen Worten, die er bei seinem 
Geschäft hat an den Mann bringen müssen) auf seine verschlissenen 
Schuhe und versichert, demnächst lieber mit Betteln sein Brot ver- 
dienen zu wollen, als sich von einem hartnäckigen Schuldner nas- 
führen zu lassen. Doch folgen wir ihm auf seinem stillen Gange; 
Schuldeneintreiben ist auch eine Kunst — am Ende können wir da 
von den Chinesen noch etwas lernen. 

Frühmorgens macht er sich auf den Weg; er ist noch nüch- 
tern, nur ein Pfeifchen Taback hat ihn etwas belebt und kregel 
gemacht. Er hofft bei seinen Schuldnern zu speisen und in diesem 
Vertrauen hat er auch keinen einzigen Käsch in seinen Ranzen 
(!£ iF ta-tse) gesteckt, der schlapp wie ein Schmachtlappen über 
seinen Schultern hängt. Rüstig schreitet er fürbaß, denn die rauhe 
Luft bläst ihm recht unsanft um die Nase, die dünnen Beinkleider 
aber bieten der Kälte nur wenig Widerstand. Zu Hause hat er 
wohl eine wattierte Hose, doch darin läßt sich's schlecht marschie- 
ren, auch ist es nicht empfehlenswert schöne Kleider anzulegen, 
wenn man von den Leuten Geld einfordern will. Da muß das 
ärmliche Äußere mitsprechen und falls es ein wenig zerlumpt ist, 
kann das auf keinen Fall schaden; dann merkt der Schuldner ja 
sogleich, daß es die Not ist, welche den lästigen Besucher so ein- 
dringlich reden macht, so unbarmherzig fordern läßt. 

Unser Besucher hat seinen Mann getroffen; der ist eben aus den 
Schlafdecken gekrochen, das Haus ist voll Rauch, man hat Feuer ange- 
macht die Morgensuppe zu kochen. Was die beiden da zusammen 
reden, entnehme ich einem chinesischen Geschichtenbuche, worin ein 
Stückchen steht mit der Überschrift „ein hartnäckiger Schuldner u . 



— 48 — 

„Ach, endlich einmal" — redet X den Y an — „treffe ich dich! 
Zu Hause warst du nimmer zu finden und draußen scheinst du mir 
geflissentlich aus dem Wege zu gehen. Bezahle doch endlich deine 
Schulden, denn es ist schon der letzte Monat im Jahre und ich 
brauche das Geld notwendig." — „Ganz recht" — erwidert Y — 
„schon längst hätte ich meine Schlden abtragen sollen. Aber denke 
dir einmal, hätte ich dich vor Jahren ausgezahlt, dann würdest du 
fetzt keinen Käsch mehr zu fordern haben, geschweige denn die 
Zinsen, auf welche du alle Jahre Anspruch machst." „Unsinn" — 
entgegnet X — „ich würde das Geld längst anderswo verliehen 
haben und ich hätte mehr Zinsen bekommen als bei dir." „Aber 
denke dir" — antwortet Y — „ich sei ins Ausland gereist, würdest 
du mir dann folgen und dein Geld von mir fordern?" „Nein, dann 
würde ich halt warten, bis du heimkehrtest." „Aber wenn ich 
niemals zurückkehrte, dann müßtest du doch auf deine Forderung 
verzichten!" „Rede keinen Unsinn mehr" — entgegnet X — „wie 
kannst du mir ins Gesicht sagen, ich müßte auf meine Forderung 
verzichten!" — Y aber läßt sich nicht aus der Fassung bringen und 
mit einer Abrahain'schen Beharrlichkeit beginnt er von neuem: 
„Nun denke dir aber einmal, ich sei vollends außer Stande deine 
Forderung zu begleichen, und wir gerieten darob in Streit; würdest 
du mich dann etwa niederhauen? Und wenn du mich aus Versehen 
gar totschlügest, dann ginge es dir auch an den Kragen. Wenn 
ich dich aber umbrächte, dann könnte dir das Geld auch nicht mehr 
nützen. Da ist es für uns beide vorteilhafter, als friedliche Leute 
weiter zu leben." Schließlich wird es dem X doch zu toll und 
erzürnt ruft er nun: „Jetzt aber genug! Ich will mein Geld haben 
und damit basta!" Euhig entgegnet Y: „Mit dem Gelde mußt 
du dich noch etwas gedulden, und dabei bleibt es! 1 ) — Doch laß 
uns vernünftiger von Anderem reden. Frau, bring eine Schüssel 
Suppe her. Komm Freund, erwärme dich ; es ist heute bitter kalt, 
aber so ein Mehlbrei (hu tu) erwärmt Herz und Gemüt. Um aber 
noch einmal auf meine Schuld zurückzukommen, so verspreche ich 
dir selbige noch vor dem 25. in diesem Monat auszahlen zu wollen." 
Der geprellte X ist nicht gerade besonders zum Breiessen aufgelegt, 
aber er denkt sich : das Geld bekomme ich diesmal doch nicht, da 
will ich wenigstens eine Schüssel Brei mitnehmen. — Nachdem er 
sich gestärkt hat, scheiden Schuldner und Schuldeneintreiber unter 
vielen Komplimenten von einander. Der eine schmunzelt bei sich: 
nächstens kriege ich dich schon — der andere überlegt still in seinem 

] ) Soweit aus dem chinesischen Qeschiclitenbuche. 



— 49 — 

Innern, wie er sich beim nächsten Besuche am besten und zeitig 
genug aus dem Staube machen kann. 

Und weiter macht sich unser Freund auf den Weg ; sein Magen 
ist leidlich gestärkt, aber der Ranzen hängt noch schlapp wie zuvor 
über den Schultern. Er hat es eilig, denn er muß noch mehreren 
dutzend Schuldnern seinen Besuch abstatten, und wir dürfen ihm 
ruhig prophezeien, daß er mehr oder weniger das nämliche Schicksal 
erleiden wird, wie soeben bei Y. Jetzt glauben wir ihm auch 
gerne, daß er demnächst lieber mit Betteln sein Brod verdienen 
will, als sich mit hartnäckigen Schuldnern streiten. Nicht selten 
kommt er abends heim mit geschundenen Gliedern und durchbläuter 
Haut; denn auch Prügel muß er bei seinem Geschäft bisweilen 
einstecken, aber er tut es gerne, wenn er nur die Käsch mit- 
einstecken kann. — 

Begreiflich, daß man für ein so mühevolles und oft so wenig 
einträgliches Amt des Schuldeneintreibens „geriebene Kunden" sucht, 
die sattsam findig, pfiffig und abgefeimt sind. Sie müssen ein gutes 
Mundstück haben und dürfen doch Niemanden beleidigen. Sie 
müssen es verstehen, dem flüchtigen Schuldner auch in den entle- 
gensten Winkeln nachzuspüren und immer neue Finessen ersinnen, 
um den säumigen Zahler zu packen. Für ihre Mühen erhalten sie 
als Belohnung von den beigetriebenen Geldern eine bestimmte Rate; 
je mehr sie also einheimsen, um so höher beläuft sich ihr Verdienst. 

In fast allen Geschäften ist das Krcditgeben gang und gäbe. 
Sofortige Zahlung wird aber niemals geleistet bei Färbern und 
Apothekern. Für erstere ist es ganz besonders schwierig zu ihrem 
Rechte zu gelangen, da sich das Verdienst der Färber ziemlich 
hoch beläuft und man es deshalb mit der Zahlung weniger eilig hat. 
Zudem ist der gefärbte Rock vielleicht schon bald wieder verschlissen, 
für den nächsten hat man aber noch nicht einmal das notwendige 
Zeug, geschweige denn Geld den Färber zu bezahlen. Der Apo- 
theker hat leichtes Spiel seine Forderungen einzutreiben, wenn die 
Medizin geholfen hat; ist der Patient aber gestorben, dann finden 
es die Nachkommen höchst ungereimt, Medizin bezahlen zu sollen, 
die der Kranke vergeblich gebraucht. Wenn das Geld aber den- 
noch teilweise gezahlt wird, so geschieht es nicht ohne viele Schwierig- 
keiten und Umstände. 

Handelt es sich um größere Beträge, die der Schuldner nicht 
zahlen will, so nimmt man wohl seine Zuflucht zum Mandarin. 
Ist der Schuldner aber wirklich außer Stande die Zahlung zu leisten, 
dann hat der Forderer auch sein Recht verloren und muß sich mit 

K. Pieper, „Neue Bündel**. 4 



— 50 — 

wenigem oder nichts zufrieden geben. Schuldknechtschaft oder 
derartiges gibt es in China nicht. Wohl wird der Schuldner eine 
Zeitlang eingekerkert und vielleicht auch gezüchtigt, und seine Habe 
wird unbarmherzig verkauft. Hat er reiche Verwandte, so müssen 
diese sich seiner annehmen, und ein Kompromiß zwischen* dem 
Forderungstellenden und dem Zahlungleistenden bringt die Sache 
meistens zu einem zufriedenstellenden Abschluß. 

Mit Vorliebe wird den Mandarinen geborgt, denn diese sollen 
gute Zahler sein. Wenn ein Mandarinen -Aspirant seiner Anstellung 
harrt, hat es deshalb meistens keine Schwierigkeit für ihn, die nöti- 
gen Gelder zum Unterhalte zu bekommen. Hat er aber erst die 
Anstellungsurkunde in Händen, so leiht man ihm gerne die not- 
wendigen Moneten zum Schmieren und Repräsentieren. Der Leiher 
geht dann auch in der Regel mit dem Mandarin zu seinem neuen 
Posten über und erhält, wenn eben möglich, auch eine Anstellung; 
andernfalls aber zahlt der Mandarin bald das geliehene Geld zurück, 
denn nun sind ja Quellen genug geöffnet, aus denen Silber fließt 
für seine Kasse. 

Großkaufleute, besonders jene die mit Europäern in Verbin- 
dung stehen, werden als gute Zahler gerühmt. Übrigens gibt es 
— das möge schließlich noch zur Entschuldigung der Chinesen 
gesagt sein — auf der ganzen Welt säumige, ja bisweilen recht 
böse Zahler. Davon könnten Schneider und Schuster und sonst 
gar mancher ein langes Lied singen. Da bleiben Appell an Ehr- 
gefühl ebenso oft überhört als bei den Chinesen der Bambusappell. 
Und wenn der Schneiderjunge das wie vielte Mal mit guten Worten 
aus der Tür gedrückt worden ist und still bei sich denkt „noch 
ist nicht alle Tage Abend u hat sich der Musensohn unterdeß schon 
getröstet ad calandas graecas. 



Schlau angelegt. 




jich ^redlich* durch den Winter schlagen ist für manche 
Chinesen eine wahre Kunst. Arbeit ist nicht zu finden, 
und aus Feldern und arten gibt es nichts mehr zu sti- 
bitzen. Leute 1 von wenig Lebenslust, Kraft und Willensstärke 
suchen sich durch den Winter zu betteln oder verschlafen die meiste 
Zeit. Unternehmende Geister aber geraten nicht selten auf ganz 
seltsame Einfälle; sie treiben eine Art chinesisches Ilochstablerwesen 
und, falls es ihnen gelingt, spielen sie den Flotten. 



— 51 — 

Einer dieser Art, den wir X. taufen wollen, zog allwinterlich 
als verkleideter Mandarin umher. Gesinnungsgenossen machten ihm 
die Begleitung; Wagen und Pferde mußte man zur Leihe nehmen. 
Aber das Geschäft erwies sich rentabel genug, so daß man ihm 
nicht umsonst zu leihen und zu borgen brauchte. 

Diesen Winter nun nahm er seine Nichte mit, die als Köder 
dienen sollte, um neue Geschäfte zu machen. Onkel und Nichte 
saßen im Wagen zusammen bis zur nächsten Kreisstadt. Dort ließ 
man eine Anzahl Wagenvermieter kommen, wählte ein gutes Yehikel 
heraus, das die Nichte allein für sich in Anspruch nahm. Der 
Fuhrmann war ein hübscher Bursche, aber auch die Nichte unsers 
X. galt als Schönheit ersten Ranges. Wie ganz von selbst näherten 
sich da die Herzen und wunderbar genug, daß die netle „ Man- 
darinentochter u die Neigung des armen Kutscherschluckers zu erwidern 
schien. Es dauerte gar nicht lange, da war man sich einig, d. h. 
man wollte sich gegenseitig haben. Aber da bedurfte es noch zuvor 
der Einwilligung des gestrengen Oheims. 

Der tut denn auch freilich, als sei er aus dem Häuschen, da 
ihm die Nichte den Antrag stellte. Wie sie als Mandarin tochter 
aus den höheren Ständen doch nur daran denken könne einen Mann 
von der Straße zu heiraten, das verstoße gegen alle Etikette. Die 
Ansicht des Oheims wurde laut genug ausgesprochen, so daß unser 
Fuhrmann bei jedem Worte seine kühne Hoffnung immer mehr 
fahren ließ. Doch die Nichte benahm sich jetzt, als sei sie geknickt, 
und drohte, sie wolle sich selber das Leben nehmen, falls sie auf 
ihre Herzensneigung verzichten müsse. Darauf ließ sich dann der 
Alte endlich erweichen, er gab sein Jawort, und kurzer Hand warf 
sich das junge Paar auf den Boden und machte dem Himmel 
Kout'ou; die Heirat war geschlossen. 

Der arme Fuhrmann war somit auf einmal Gemahl einer 
Mandarinentocher geworden und wußte sein Glück kaum zu fassen. 
Jetzt mußte auch der äußere Mensch dementsprechend aufgebessert 
werden. Man schickte ihn selbst zu einem Großgeschäfte in Seiden- 
stoffen, wo er nach Bedarf einen neuen Anzug kaufen sollte. Der 
neue Gemahl hatte Grütze genug, sich keine schlechten Muster 
auszuwählen, und hocherfreut brachte er das Gekaufte der gnädigen 
Frau zur Ansicht. Auch diese fand den Stoff sehr kleidsam, und 
wohl vergnügt legten sich dann beide zur Ruhe. 

Der Glückliche mag dann wohl vom neuen Rock geträumt 
haben. Die Nichte des X. aber dachte über andere Dinge nach. 
Als um Mitternacht Alles in süßer Ruh lag, stand sie auf, nahm die 



— 52 — 

Rollen Seidenstoffe, legte sie auseinander und beschmutzte sie in- 
wendig mit Haarkämmen und Bürsten und öligen Händen. Dann 
wurde alles wieder schön zusammengerollt und auf den alten Platz 
gelegt. Am anderen Morgen ließ man einen Schneider kommen, 
um das Maß zu nehmen. Aber was war denn das ? Die Seide sah 
ja von innen aus wie der reinste Schüssellappen. Eine Mandarinen- 
familie durfte sich doch derartige Betrügereien nicht von einem 
„lumpigen Kaufmann" gefallen lassen. Sofort mußte der neuge- 
backene Gemahl wieder ins Geschäft, um sie gegen bessere Waren 
einzutauschen ; überdies beanspruchte X. noch einige hundert Taels 
als Strafgeld für den beabsichtigten Betrug. 

„Hier steht mein Laden offen, und ich erlaube alle Waren 
auf ihren Wert zu prüfen. Findet sich auch nur ein einziges Stück 
darin, das von innen oder außen beschmutzt wäre, so bin ich zu 
jedem Schadenersatz und zur Strafe bereit. " Doch es ist' nicht 
„Mandarinenart" sich auf lange Unterhandlungen einzulassen, wo 
es sich um den eigenen Vorteil handelt. Da heißt es einfach ent- 
weder oder; das entweder lautete diesmal auf Silber, das oder auf 
— den Strick. „Gebt ihr nicht gutwillig bessere Waren und das 
geforderte Strafgeld her, so hänge ich mich diese Nacht vor eurer 
Türe auf ; und dann kommt das dicke Ende für euch ganz von 
selbst." Doch der Kaufmann wußte sich unschuldig und prellen 
wollte er sich nicht lassen, sondern schlug dem Fuhrmann die Türe 
vor der Nase zu. 

Am Abende nun hieß es handeln. Auf ein wirkliches Auf- 
hängen sei es nicht abgesehen, wurde unserm weiland Herrn Karren- 
führer klar gemacht; denn dafür sei sein Leben doch zu kostbar. 
Es sollten deshalb auch zwei Bediente mitgehen, die ihm ihre 
Schultern unter die Füße stellten, wenn er am Stricke baumele. 
Aber der Kaufmann solle sehen, daß man nicht mit sich spotten 
lasse, und er werde dann noch mehr zahlen, als man zuerst gefor 
dert habe. So war die Sache abgesprochen, und als es dunkel 
geworden und die Straßen leer waren, machte man sich daran, den 
Plan auszuführen. Wohl noch Niemand hat den Strick so gerne 
um den Hals gelegt als unser Fuhrmannsheld, denn es sollte ihm 
ja seidene Kleider und ein gutes Sümmchen Geld einbringen. Doch 
der Arme! Kaum hing er da, hängten sich die zwei Spießgesellen 
anstatt ihn emporzuheben, an seine Beine, so daß der Unglückliche 
in wenigen Minuten regelrecht verschieden war. Als man sich 
davon überzeugt, erhoben die Zwei ein Zeter- und Mordgeschrei. 
„Schrecklich, schrecklich; es hat sich Jemand aufgehängt!" Der 



— 53 — 

Kaufmann stürzte aus seiner Tür, die Nachbarn liefen zusammen; 
Alle wollten sehen, was sich ereignet habe. Schnell wurde der 
Strick durchgeschnitten; man stellte Wiederbelebungsversuche an, 
aber es war zu spät. „Sofort zum Stadtmandarin!", schrien die 
beiden Bedienten, „und den Fall zur Anzeige gebracht". Der 
Kaufmann mit all seinen Leuten machten Kout'ou und erklärten 
sich bereit, jede Strafe zu zahlen, nur möge man dem Mandarin 
keine Mitteilung machen. Da ging es denn ans Feilschen und 
Unterhandeln, das fast die ganze Nacht hindurch dauerte. Der 
Kaufmann wurde um zweitausend Lot Silber und eine ganze Ladung 
der feinsten Seidenstoffe geprellt. Damit beschwert zog denn der 
fremde Lao-je am anderen Tage fort; solch ein fettes Geschäft 
hatte er lange nicht mehr gemacht. 

Nicht weniger schlau, aber nicht so grausam legte es ein an- 
derer Hochstabier an, den wir Y. nennen wollen. Er spielte nicht 
die Rolle eines Mandarinen, sondern trat als wohlbestellter Kaufmann 
auf, der „geschäftshalber" viele Reisen zu machen hatte. 

Trifft er eines Tages unterwegs eine Bettlerin mit ihrem Korbe 
und dem unentbehrlichen Hundeknüttel. Schade, denkt unser Y., 
daß so ein fesches Frauenbild sich mit Betteln ernähren muß, die 
wäre wohl für etwas anderes brauchbar. Schnell hat er seinen 
Plan zurechtgelegt und beginnt sogleich mit der Ausführung. „Lao 
t'et'e", redet er das Bettelweib an, „schämt ihr euch denn nicht, daß 
eine Frau wie euereiner mit dem Hundeprügel über die Straße 
zieht; es scheint mir doch, daß ihr zu Besserem geboren seit". 
„Was soll ich anfangen", erwiderte die Alte; „zum Essenkochen 
dingt mich Niemand, und ich stehe doch ganz allein auf der Welt". 
„Nun so will ich euer Sohn sein", sagt der „reiche Kaufmann", 
„dann ist euch geholfen und ihr braucht keinen Hunger mehr zu 
leiden. Zu Hause habe ich nur meine Frau und eine erwachsene 
Tochter, die sich demnächst verheiratet. Dann muß meine alte 
Hälfte (lao pöl) allein das Heim hüten, und so etwas mag ich doch 
nicht gerne zugeben, zumal ich fast das ganze Jahr hindurch auf 
Reisen bin. Ihr habt nichts weiter zu tun, als meiner Frau Gesell- 
schaft zu leisten ; auf diese Weise ist uns Allen drei ein Dienst 
erwiesen." 

Was die Bettlerin da hörte, klang fast wie Spott; und ungläu- 
big, ja unwillig richtete sie ihre Augen zu dem Sprecher empor. 
Doch der schaute recht ernst drein und sah gar nicht darnach aus, 
als wolle er Spaß machen. Ehe sich die Frau auf eine Antwort 
besonnen hatte, fuhr er fort: „Wenn ihr auf meinen Vorschlag 



— 54 - 

eingehen wollt, so werft eure Bettelgeräte auf die Seite und setzt 
euch mit auf den Wagen; denn ich muß weiter fahren". „Aber ist 
es euch denn wirklich Ernst, mit dem, was ihr da gesagt habt?", 
trug die Bettlerin noch einmal ungläubig. „Ja freilich, oder glaubt 
ihr denn ich wolle hier mitten auf dem Fehle Schabernack mit 
euch treiben; steigt schnell, auf den Wagen, daÜ wir weiter kom- 
men." Schnell flogen Korb und Ilundepriigel auf die Seite, und 
behende hüpfte die neugebackene Mutter zu ihrem vornehmen Sohne. 

Unterwegs fand sie etwcis Zeit, sich in ihr neues Glück hinein- 
zuleben und zu fragen, wohin es denn eigentlich gehe. „Zunächst 
in die nächste Stadt", antwortete Y. „Ihr müßt dort neue Kleider 
anlegen, ich dürfte euch ja sonst nicht Mutter nennen." Im Wirts- 
haus wurden dann vor der Hand die alten Lumpenkleider gegen 
bessere umgewechselt und dann ging es in das erste Manufaktur- 
geschäft. Der Sohn wurde als ein fein gekleideter Herr mit vielen 
Knixen empfangen, und da er die Alte als seine Mutter vorstellte, 
wurden auch dieser die» entsprechenden Ehrenbezeugungen erwiesen. 
Man wollte Einkäufe für den Winter machen, und der Kaufmann 
möge nur die besten Stoffe vorlegen. Das geschah auch, und nun 
begann das Aussuchen. Zuerst besah Y. die Waren, und wenn sie 
von der Mutter gut befunden waren, wurden sie auf die Seite 
geschoben. Schon lag ein ansehnlicher Haufen da, grade genug, 
daß ihn ein Mann noch eben forttragen konnte. 

„Packt diese Sachen erst zusammen", befahl Y. dem Kauf- 
mann. „Ihr könnt dann", sprach er zu seiner Mutter, „einmal 
nachdenken und sehen, was noch Gutes zu kaufen wäre. Ich will 
dieses Paket gleich mitnehmen und Silber holen. Komme icli 
zurück, machen wir die Rechnung fertig.* „Gut so", antwortete 
der Kaufmann; und während er der Mutter wieder neue Stoffe zur 
Auswahl vorlegte, nahm der Sohn sein Paket auf den Rücken und 
ging ins Wirtshaus zurück. 

Die Alte schien noch viele Wünsche zu haben, denn sie fand 
gar mancherlei, das ihr zusagte. Schon war ein neuer Haufen zum 
Einpacken aufgeschichtet, aber der Sohn war unterdes nicht zurück- 
gekehrt. Man trug also ein Tauchen Tee zur Stärkung auf und 
wartete auf den Sohn. Aber der wollte immer noch nicht heim- 
kehren, und das Wirtshaus war gar nicht so weit entfernt. »Der 
Herr, der da fortgegangen ist, ist doch euer Sohn?", fragte endlich 
gelangweilt der Kaufmann. „Ja freilich*' antwortete die gewesene 
Bettlerin; „ich begreife auch nur nicht, wo er sich so lange aufhalten 
mag." Von wo habt ihr eure Reise denn gemacht, forschte der 



— 55 — 

Kaufmann weiter. „Ja das — weiß ich selbst nicht", erklärte 
stotternd die Alte. Der Herr ist nicht mein leiblicher Sohn, er hat 
mich erst heute unterwegs zur Mutter erwählt. u — „Schnell ins 
Wirtshaus ", schrie erregt der Kaufmann seinem Gehülfen zu. Im 
Augenblick kam dieser mit der Meldung zurück, Herr Y. sei bereits 
vor einigen Stunden aufgebrochen und Niemand wisse wohin. Das 
war die zweite Überraschung an einem Tage für das arme Bettel- 
weib ; doch hatte es bei der Geschichte noch einen heilen Rock 
erobert, der mehr wert war, als ein Hundeprügel und der Bettelkorb. 
Der Kaufmann aber schallt sich einen Narren, weil er so glatt in 
die Falle gegangen war. 



Wie die Chinesen ihre Götzen betrügen. 

n 

~^as Bedürfnis hinterlistig zu sein und Schleichwege zu gehen 

;SB ist bei unsern Zopfträgern dermaßen ausgeprägt, daß sie 
'* bei Lebenden und Toten, an Teufeln und Geistern sich 
damit versuchen. 

Da ist Jemand von irgend einem Leiden geplagt. Weil ihm 
die Menschen nicht helfen können oder wollen, wendet er sich an 
irgend einen Götzen. Ei verspricht diesem zu Neujahr ein Schwein 
zum Opfer, falls seine Bitte Erhörung findet. Das Leiden ver- 
schwindet, und deshalb heißt es das Gelübde auslösen. Aber ein 
Schwein kaufen ist keine Kleinigkeit, besonders wenn die Sapeken 
selten geworden sind, wie es gerade zu Neujahr meistens der Fall 
ist. Doch das Gelübde muß gehalten werden, sonst würde sich 
der Geist rächen. Unser Chinese weiß sich zu helfen. Er kauft 
Kopf, Füße und Schwanz von einem Schwein, ordnet diese auf 
einem Opferbrett säuberlich zusammen, und trägt es in die Pagode. 
Daß die Hauptsache fehlt, bemerkt der Götze nicht; die Umrisse 
sind da, also wird das Zwischenstück nicht fehlen. Das ist auch 
der Grund, daß zu Neujahr die „ Konturstücke u doppelt so teuer 
bezahlt werden wie sonst im Jahre, wo sie als minderwertiges Fleisch 
wenig geschätzt sind. 

Andere lösen ihr Gelübde wieder mit einem papiernen 
Schweine aus oder kneten eins von Mehl, und der Götze gibt 
sich damit zufrieden. 

Götter und die Menschen betrügen, tun zumal zur Winterzeit 
gerne lose Flegelfrommc, die sich bei irgend einem bekan nV 




— 56 — 

Bonzenabte gegen Vergütung einen Bonzenrock ausleihen. Das 
Käppchen dazu macht keine Schwierigkeiten; fast jeder Schneider 
kann es anfertigen, und die Auslagen dafür sind gering. Solcher- 
gestalt tritt der junge Novize, von Türe zu Türe bettelnd, seine 
Rundgänge an. Man gibt ihm gerne, denn er betet für die from- 
men Geber, wobei er eine Heiligenmiene aufsetzt. Das Erlernen 
der Litanei hat ihm keine Anstrengung verursacht. Die Bonzen- 
gebete sind nur den Göttern verständlich und deshalb kann ein 
gewöhnlicher Sterblicher aus dem Gemurmel nicht heraushören, 
ob es stimmt. 

Fragt man ihn, wofür er bettle, dann sagt er zum Bau der 
„Wu-ts'ang- Pagode u . Wu-ts'ang (3ÜÜ) niuß wohl ein großer 
Geist sein, denkt der Bauer und er spendet nach Vermögen. Der 
Schlaumeier aber versteht unter „Wu-ts'ang" seine fünf Eingeweide 
und die Pagode bedeutet für ihn der eigene Leib, den er durch 
tägliches Püttern restauriert. 

Bevor er mit dem Sammeln begonnen hat, hat er irgend 
einem Götzen ein Gelübde gemacht, um dessen Schutz und Beistand 
zu erflehen. Er hat versprochen, eine neue Pagode zu erbauen; 
als Opfer soll ein Menschenhaupt dargebracht werden. An die 
Armen sollen zwei bis dreihundert Brote zur Verteilung gelangen, 
desgleichen vier bis fünf Krüge Schnaps. Das Alles hat er mit 
dem Munde klar und deutlich ausgesprochen, so daß es der Geist 
gut vernehmen konnte. Im Herzen aber hat unser Fuchs ganz 
anderes gedacht und schon still in sich hinein gelacht, wie er dem 
Götzen einen Bären aufbinden wolle. 

Das Geschäft ist recht flott von statten gegangen. Man hat 
Brot und Mehl und Öl geopfert, und von besonders frommen Seelen 
hat er sogar Baumwolle, Tuch und Geld in seinen Ranzen gesteckt. 
Jetzt, da der Frühling herangebrochen ist und der Acker bestellt 
sein will, muß er das Bonzenleben vorläufig daran geben und den 
Abtmantel gegen einen Kulikittel vertauschen. Doch vorher heißt 
es noch, das Gelübde erfüllen. 

• Er sucht einige Backsteine zusammen, kauft sich ein Brot 
und eine Tasse Wein und jetzt kann er dem Götzen seinen Löffel 
zum barbieren unter die Nase halten. Drei Backsteine aufeinander 
gelegt stellen die Pagode vor; ein Brot wird in zwei oder drei Stücke 
gebrochen und jedes Stückchen ist gleich hundert Pfund ($|f pei 
- brechen, ]J pei — hundert). Von dem Wein spritzt er vier- oder 
fünfmal etwas in die Luft und jeder Tropfen ist so viel wie ein Krug 
voll ($g tien -spritzen, jg //tfw-Krug). Dann neig! er seinen eigenen 



— 5? — 

Kopf vor der neuen „ Pagode" nieder, und damit ist auch ein Men- 
schenhaupt geopfert. Und während er das Haupt ehrfuchtsvoll auf 
den Boden schlägt, fallen die drei Steine zusammen. Damit ist 
die Pagode in Trümmer gestürzt, und dann findet das Sprichwort 
seine Anwendung: miao t'a-lio schin je pao-lio: „wenn die Pagode 
in Trümmern liegt, läuft der Geist davon". 



Wie die Chinesen mit Wasser die 
Lebensmittel fälschen. 



SljC^S omil) * der Milchmann morgens in aller Frühe herangefahren, 
^Kfllfcw 1 ' imn sc ^ aut die sorgsame europäische Hausmutter vor 
?VM/l\mJ allem nach, was die Milch für ein Gesicht macht. Ist es 
SjKWSä bläulich, dann hat der Milchmann seine Ware sicher erst 
beim Brunnen „getauft", und davon ist die Hausfrau keineswegs 
erbaut. Das „Taufen" der Milch nun kennen die Chinesen nicht, 
und zwar deshalb, weil sie keine Milch verkaufen, überhaupt keine 
Milch von Tieren genießen mögen. Dafür „taufen" sie sonst aber 
mancherlei und haben ein Geschick darin, daß der geriebenste 
europäische Fälscher noch bei ihnen in die Schule gehen könnte. 
Fleisch von verendeten Tieren feilbieten oder einen Dachhasen 
für einen Feldhasen auftischen, will in China nichts heißen, denn 
eine fette Katze ist jedem Chinesen lieber als drei magere Hasen, 
und das bei uns am meisten geschätzte Wildbret ist nichts im Ver- 
gleich zu einem Hundebraten, der das non plus ultra von allen 
Fleischsorten bedeutet. Mit Fleisch von verendeten Tieren kann 
auch niemand betrogen werden, da es ebensogut verkauft werden 
darf, wie das von geschlachteten. Aber kein Stück wird verkauft, 
dem nicht ein gutes Quantum Wasser zugesetzt wäre. Ist das Tier 
geschlachtet und von außen gereinigt, so wird ihm eine Bambus- 
röhre ins Herz gelassen. Oben an dieser Röhre befestigt man eine 
mit Wasser gefüllte Schweinsblase. Das Wasser nimmt allmählich 
vom Herzen aus seinen Weg in das Fleisch und die Blase wird 
so lange nachgefüllt als nur eben möglich ist. Beim Zerschneiden 
der Tieres läuft natürlich wieder manches Wasser heraus ; wer dann 
das tröpfelnde Fleisch sieht und die Gaunerstreiche der Chinesen 
noch nicht kennt, sollte schier glauben, das arme Stück Vieh habe 
die Wassersucht gehabt. Im Winter aber, wenn Wasser und Fleisch 
zu einer Masse gefroren sind, geht auch kein Tropfen verloren, 



- 58 — 

und Wasser und Fleisch wird gleichwertig bezahlt. Daß das Fleisch 
durch solche Zutat an Güte verliert und schneller verdirbt, ist selbst- 
verständlich. Wer aber ungewässertes Fleisch haben will, muß 
sich selber ein Tier kaufen und schlachten; bei dem Metzger ist 
niemals unverfälschte Ware zu haben, selbst nicht für teures Geld. 
Einem ttOOpfündigen Schwein können 50 — 80 Pfd. Wasser zugesetzt 
werden, und ein Ochse von 500 Pfd. nimmt wenigstens 100 Pfd. 
Flüssigkeit auf. Wer da nicht mittun wollte, könnte nicht beste- 
hen; wer aber das meiste Wasser ins Fleisch zu pumpen versteht, 
dessen Geschäft blüht am besten. 

Schwieriger ist die Sache, wenn lebendes Fleisch verkauft 
wird. Daß die Tiere vor dem Verkauf gut gefüttert werden, ist 
selbstverständlich. Aber auch das Futter ist dem sparsamen Chinesen 
bisweilen noch zu kostbar, und er nimmt wieder zum — Wasser 
seine Zuflucht. Dasselbe kann selbstverständlich nicht auf natürli- 
chem Wege in das Tier gebracht werden, aber der Chinese weiß 
sich zu helfen. Mein Koch kaufte einmal ein Huhn. Es war ein 
wahres Prachtexemplar, wog es doch rund vier Pfund und war 
so dick und rund, daß es überhaupt nicht mehr auf den Beinen zu 
stehen vermochte. Der Koch legte es vorläufig auf die Seite und 
machte Anstalten zum Schlachten. Doch das Tier ließ traurig 
seinen Kopf hängen und machte Miene, von selbst der Welt Adieu 
zu sagen. Schnell war der Koch bei der Hand: er meinte, die 
Beine seien zu fest geschnürt, und beeilte sich die Bande zu lockern. 
Dabei mochte er dem Tiere wohl etwas unsanft auf den Magen 
gedrückt haben, genug das Tier ließ eine beträchtliche Menge 
Wasser von sich. Der Koch wiederholte seinen Druck, und noch- 
mals kam Wasser zum Vorschein. „Das ist ja ein wahres Wunder- 
tier**', meinte er mit verschmitztem Lächeln. Nachdem das arme 
Vieh ordentlich entleert, war, war es auch wieder munter gewor- 
den. Als es aber wieder auf die Wage kam, stellte sich heraus, 
daß es um ein Pfund Netto eingebüßt hatte. Der Koch nahm das 
Huhn wieder unter den Arm und suchte den Verkäufer auf. „Da 
muß ein Irrtum vorliegen*, meinte er; r ich habe ein Huhn von 
vier Pfund gekauft, und dieses wiegt nur drei." Der Verkäufer 
händigte ein anderes Huhn ein, drei Pfund schwer, und das war 
natürliches Gewicht; das verschwundene Pfund „Fleisch" mußte er 
heruuszahlen. 

Kin anderes Lebensmittel, das Mehl, läßt sich natürlich nicht 
gut mit Wasser verfälschen. Dafür wird aber dem Getreide Wasser 
zugesetzt. Eine Röhre führt in die Mitte des Sackes, und durch 



— 59 — 

diese Röhre träufelt allmählich Wasser in das zu verkaufende 
Getreide. Obenauf wird dann trockenes geschüttet. 

Bevor das Gemüse zum Markte getragen wird, legt man es 
eine Nacht ins Wasser; bevor die Trauben abgeschnitten werden, 
um sie in den Handel zu bringen, wird die Rebe gut mit Wasser 
getränkt. Dann bekommen die Trauben ein ganz dralles Aussehen 
und bersten oft, so wässerig sind sie. Baumwolle legt man in Was- 
serschwaden oder läßt immitte der Ballen Wasser laufen, so daß 
auf je hundert Pfund wenigstens einige Pfund Wasser kommen. 
Selbst das Holz muß erst eine Wasserkur durchmachen, ehe es auf 
dem Markte erscheint. 

Daß Flüssigkeiten, z. B. Schnaps und Essig, erst „getauft" 
werden, bevor sie in den Handel kommen, ist selbstverständlich. 
Der Wein, (Schnaps) wird in Kan- und Chua-ziu eingeteilt, d. h. 
in „trockenen" und „gemischten" Wein. Ersterer hat nur einen 
geringen Wasserzusatz, (eigentlich sollte er keinen haben), der 
letztere aber ist bisweilen um die Hälfte verfälscht. 

Jemand hatte eine Anzahl Freunde zum fröhlichen Male gela- 
den. Da nun das Getränk vor der Zeit ausging, mußte Wasser 
den Wein vermehren helfen und man goß so lange zu, bis vom 
Wein kaum mehr eine Spur vorhanden war. Während der Nacht 
wurde es empfindlich kalt und da kein Feuerbecken das Zimmer 
wärmte, fing sogar der „Spiritus" in den Schälchen zu frieren an. 
Eben hatten die Gäste noch das vorzügliche Getränk belobt und 
jetzt gefror es zum Klümpchen Eis. „Euer Lob war nicht redlich 
gemeint", meinte der Gastgeber als er den gefrorenen Schnaps 
erblickte. „Das geschenkte muß man immer preisen, selbst wenn 
der Spiritus sich zu Wasser verwandelt" antworteten die Gäste. 

Indes betrügt der Chinese nicht nur mit Wasser, sondern noch 
mit mancherlei anderen Dingen. Wollte ich die aber alle aufzählen, 
käme ich gar an kein Ende. Doch zum Schluß noch zwei Geschicht- 
chen, die auch zum Wasserkapitel gehören und zeigen, wie sehr 
den Chinesen die Wasserfälschungsmethode in „Fleisch und Blut" 
übergegangen ist. 

Drei Söhne ernährten gemeinschaftlich ihren Vater, d. h. jeder 
mußte ihn während drei Monaten zu sich nehmen und für seinen 
Unterhalt sorgen. Alle drei waren brave Burschen, und sie machten 
sich ein wahres Vergnügen daraus, dem Vater jeden Herzenswunsch 
zu erfüllen. Waren die drei Monate herum, wurde der Vater jedes- 
mal an eine Wage gehängt, um zu sehen, ob er im Gewichte 
ab- oder zugenommen habe. Der Vater war guter Dinge und liebte 



— 60 — 

•-.'■• Kind.-r recht herzlich, den Kleinsten aber zu allermeist. Aus 
*. — .vieren Liebesrücksiohten lieli er *ich «»im»«» Tages überreden, 
U.-v.:':~ Gewicht zu nehmen, eher er sich ;ui die Wage hing, damit 
•:-:.• Kleine .sxolJ- dastehe, weil er seinen Vater um einige Pfund 
- ■■: j. werer gefüttert habt». Kim* reelit grolie Schweinsblasc wurde 
:u'.\ Wa— er gefüllt und dem <i reise um den Leib gebunden. Doch 
d<- Ge-«hickes Mächten sind neckisch; kaum hatte er sieh an die 
Wa:"- gehängt, da rili der Strick, woran die Wage befestigt war, 
und der arme Mann lag am Boden in einer Lache Wasser: die 
BU-e war geplatzt. «U du l'nhold!~ riefen entsetzt die anderen 
Brüder: .Schande über dich. Selbst deinen Vater willst du noch 
.'üit Wa-ser verfälschen!" 

Ein Mandarin bekam fast täglich von seiner Frau Gemahlin 
und den zwei »benfrauen ein Süppchen eingebrockt, weil ihnen 
immerfort *o wässeriges Fleisch aufgetischt wurde. Daran war nun 
ab'-r der Herr Gemahl keineswegs Schuld, sondern der Metzger, 
welcher der alten gutem Sitte folgend, auch dem Fleische für den 
M-indarin sein (juantun Wasser einher». Wie hätte er auch anders 
bestehen können; tat es ja jedermann und der es nicht tat, mulite 
mit Verlust sein Fleisch verkaufen. Wenn aber drei Frauen gegen 
einen Mann loslegen, so will ihis schon etwas bedeuten, und wir 
können es dem Herrn («ernnlil nicht verargen, dal> ihm eines Tages 
der Geduldsfaden rili und er dem FleUchlieferanten seiner Frauen 
zitierte. Als ihm gründlich der Marsch gehlasen war, mußte ihm 
auch ein „Denkzettel* 4 mitgegeben werden, damit ihm für immer 
die Lust vergeh«*, den Miindariii'drauen wässeriges Fleisch zu ver- 
kaufen. Ihm zur Linken und zur Hechten stand je ein Büttel, der 
eine mit einem gewaltigen Hnmbiisprügel. der andere mit einem 
Tririkge*c,liirr. .letzt wurde dem sinnen Sünder die Alternative 
ge-fe||t ? entweder eine gute l'riigeltuppe zu verkosten oder das 
Tränkb'in, ho ihm die Mtuidiiriusfniuen gebraut. Der Mann wählte 
das letztere, <n|| e* aber später sehr bereut haben. 





— 61 — 

Der Winkeladvokat Wen. 

jdvokaten im eigentlichen Sinne giebt es in China nicht; jeder 
muß Hwh selber den Advokaten machen, und wer das mit 
dem besten Geschicke tut, hat die größte Aussicht, seinen 
Prozeß zu gewinnen, und erst recht, wenn obendrein das 
Geld noch zu Worte kommt. Mögen nun auch die eigentlichen 
Advokaten fehlen, so sind die Winkeladvokaten um so zahlreicher 
vertreten, denn im Winkel und hinter den Coulissen gut arbeiten, 
ist ja eine Lieblingsbeschäftigung der Chinesen. 

Meister Wen verstand sein Geschäft wie kein zweiter und des- 
halb ließ er auch überhaupt keinen zweiten in seiner Nähe auf- 
kommen. Hatte er sich aber einmal eines Delinquenten angenommen, 
dann kam derselbe glücklich durch, selbst wenn ihm schon das 
Henkermesset' im Nacken gesessen. Klageschriften, die er aufsetzte, 
brachten Gründe ins Feld, wie ein Regiment Soldaten, die kein 
Feind überwinden kann. Sein Pinsel hatte die Schärfe eines Schwer- 
tes und Gnade dem armen Gegner, gegen den er sich richtete. 

Eines Tages saß Meister Wen in seiner Stube und sann über 
neue Ränke nach. Da klopfte es ungestüm an seiner Türe. Als 
er öffnete, trat ein junger Mann herein, der sich sofort auf die 
Kniee warf und laut an zu weinen fing. „Was willst du denn", 
redete ihn Meister Wen an, „welche Angelegenheit preßt dir die 
Tränen aus; % du bist wohl in einer argen Klemme. " „Ach mein 
lieber Meister Wen, wenn Ihr mich nicht rettet, dann bin ich 
unrettbar verloren, dann wird in Bälde mein Kopf Abschied nehmen 
vom Halse. Ach, Meister Wen, rettet mich doch!" „Aber heraus 
mit deiner Sache, wie kann ich dich retten, da ich noch gar nicht 
weiß, was du denn eigentlich verbrochen." „Denkt Euch, Meister 
Wen, ich habe meinem Vater einen Schlag in den Mund gegeben, 
daß ihm zwei Zähne entfallen sind. Wir beide hatten Streit, und 
da er mich sehr zum Zorne reizte, habe ich mich vergessen und 
den unglücklichen Schlag geführt. Mein Vater ist dann sofort zum 
Mandarin gegangen und hat mich als ungeratenen Sohn (u j pu 
chiao) verklagt. Bald werden die Gerichtsbüttel kommen und mich 
abführen und dann komme ich nimmer lebend heim." „Du unge- 
ratener Bengel du, vergreifst dich gar an deinem Vater! Packe 
dich fort, deine Sache werde ich nie und nimmer besorgen, sofort 
von meiner Schwelle." Sprach's und stieß den armen Sünder zur 
Türe hinaus. Dieser aber legte sich draußen im Hofe sofort 



— 62 — 

wieder auf die Kniee und bat in einem fort: „ Guter Meister Wen, 
erbarmet Euch meiner, rettet mich!" Nach einer Weile rief ihm 
Meister Wen nochmals durch die Türe: „Und weinst du die 
ganze Nacht hindurch, ist's doch umsonst; deiner Sache werde ich 
mich in keinem Falle annehmen. Mag dir der Mandarin den Kopf 
abschlagen, so geschieht dir recht. u Meister Wen setzte sich dann 
ins Zimmer, rauchte seine Pfeife und schlürfte Tee. Nach einer 
Stunde befahl er seinem Diener: „Geh hinaus und sieh, ob der 
Bengel noch da kniet; laß ihn dann hereinkommen. u Als der arme 
Sünder hereingeführt war, beglückte ihn Meister Wen mit der Er- 
klärung: „Gut, ich werde suchen, dein Leben zu retten, kannst 
sogleich in meine geheime Stube kommen.* 

Es war eben im Hochsommer in den Hundstagen und überall 
eine unerträgliche Hitze. Meister Wen legte nun seine Winterklei- 
dung an : einen dicken Schafspelz, setzte eine wattierte Windmütze 
auf und zog ein Paar mächtige Filzstiefel an. Dem Diener befahl 
er, ein Kohlenbecken anzufachen. Als dasselbe recht in Glut war, 
setzte sich Meister Wen daneben und hielt die Pinger über das 
Feuer, dann ließ er den Delinquenten vortreten. Kaum war er 
durch die Türe geschlüpft, da warf er sich sofort wieder in die 
Kniee und schlug in einem fort mit dem Kopfe gegen den Boden 
(Ko-t'ou), gerade wie wenn ein Huhn das Korn aufpickt. Der 
Advokat erhob sich vom Sitze, ohne ein Wort zu sprechen, ging 
einigemale um den Knieenden, und plötzlich, ohne daß jener etwas 
gemerkt hätte, biß er ihn in den Rücken. Der arme Sünder schrie 
laut auf: „Aber lieber Meister Wen, weshalb beißt Ihr mich denn 
so schrecklich \ u — „Steh' auf", sprach der Advokat, „jetzt ist dein 
Leben gerettet; hätte ich dich nicht gebissen, dann müßtest du 
wohl sterben. Nun geh' und stelle dich dem Mandarin. Beim 
Verhör hast du nichts weiter zu sagen, als: Großer, alter Groß- 
vater, errettet mich! Jetzt mach', daß du fortkommst. u 

Bald hatten die Gerichtsbüttel den armen Sünder aufgeschnappt. 
Sofort wurde er in Fesseln gelegt und zum Mandarin geführt. 
Als der Mandarin ihn sah, entbrannte er in Zorn und schrie: „Du 
ungeratener Bengel, du! Du bist ja überhaupt kein Mensch mehr, 
du bist ein Tier; denn wie kann es ein Mensch wagen, seinen 
Vater zu schlagen!*' Der Junge kniete sofort nieder, wie ihm der 
Advokat anbefohlen, und bat: „Großer, alter Großvater, errettet 
mich!* Während er da kniete, bemerkte der Mandarin, wie der 
dünne Kittel des Delinquenten auf dem Rücken ganz mit Blut 
befleckt war. Ein Gerichtsdiener muüte nachsehen, woher das Blut 



— 63 — 

rühre. Derselbe berichtete : „Der Junge hat eine große Bißwunde 
auf dem Rücken; ein Stück Fleisch ist herausgebissen, noch quillt 
friesches Blut aus der Wunde. " Als der Mandarin dies hörte, stand 
er auf, um sich selber zu überzeugen. Ja, freilich, deutlich sah man 
noch die Spur der Zähne, die tief ins Fleich eingedrungen waren. 
„Jetzt begreife ich's", sprach der Mandarin erzürnt zum Ankläger. 
„Die Schuld liegt nicht am Sohne, sondern am Alten ; hat sich der 
grausame Klotz im Rücken des Jungen die Zähne ausgebissen und 
will ihn nun noch obendrein verklagen! Mach' schnell, daß du 
fortkommst, sonst lasse ich dich gehörig durchbläuen. " Was wollte 
der Vater anfangen ! Er mußte gute Miene zum bösen Spiele machen ; 
er getraute sich nicht, dem Mandarin etwas zu erwidern. Vater 
und Sohn kehrten nach Hause zurück. Dort behandelte der Alte 
den Jungen mit ausnehmender Freundlichkeit. „Sag' mein Lieber", 
sprach er zu ihm, „wer ist dir denn eigentlich behülflich gewesen, 
die Schuld so geschickt auf mich zu wälzen. Du bist mein Sohn, 
und deshalb mußt du mir das sagen, da du als Sohn keine Geheim- 
nisse mir gegenüber haben darfst." „Freilich", antwortete der Junge, 
„ich wäre niemals so gescheidt gewesen, einen derartigen Plan zu 
entsinnen; Meister Wen hat mich aus der Klemme gezogen." „Das 
soll er büßen", sprach der Vater, sprach's und begab sich sofort 
zur Stadt, um den Winkeladvokaten zu verklagen. Der Mandarin 
citierte den Meister Wen vor seinen Richterstuhl und verwies ihm 
strenge sein Beginnen. „Wie kannst du, ein Gelehrter, dein Talent 
mißbrauchen, um einen ungeratenen Sohn, der seinen Vater geschla- 
gen, an der wohlverdienten Strafe vorbeizubringen?" „Was ist das 
denn für ein Sohn, ich kenne den ja nicht einmal." Der Mandarin 
ließ hierauf den Delinquenten vorführen und stellte ihn Meister 
Wen gegenüber. Der Junge sprach : „Meister Wen, wie könnt Ihr 
sagen, Ihr kenntet mich nicht? Habt Ihr es denn vergessen, als ich 
fast eine halbe Nacht vor Euerer Türe kniete und Ihr mir schließ- 
lich ein Stück aus dem Rücken gebissen habt? Jetzt bist du 
gerettet, habt Ihr dann zu mir gesagt und habt mich fortgeschickt." 
„Was schwätzt der Junge doch für ein tolles Zeug, der ist offenbar 
ein Narr. Schau mich doch einmal an, ob du mich schon jemals 
gesehen hast oder nicht und sage, welche Kleider ich damals ge- 
tragen, als ich dich gebissen haben soll." „Ja, ich weiß es ganz 
genau; Ihr trugt eine Windmütze um den Kopf gewickelt, hattet 
einen großen Pelz angezogen und wärmtet Euch die Finger an 
einem Feuerbecken." „Urteilt selbst, großer alter Großvater, ob 
der Junge ein Narr_ist oder nicht. Jetzt in den Hundstagen, wo 



-r- 64 — 

man vor Hitze nicht dauern kann, wer zieht da noch einen Pelz 
an und wärmt sich die Finger?" „Draufgehauen", schrie der Man- 
darin seinen Bütteln zu ; „sowohl der Alte wie der Junge bekommen 
200 Stockschläge, weil sie den Meister Wen fälschlich angeklagt 
haben. Mir scheint, beide sind Narren. 44 Die Büttel blieben den 
Delinquenten keinen Schlag schuldig; beschämt und voll Ärger 
verließen sie das Yamen und konnten es nicht begreifen, daß 
Meister Wen so voll der Ränke sei. 



Papa Tschou. 



SSjino herrliche Nacht! Schwarz wie frischer Firniß, und der 
HB Wind bläst wie zehntausend Soldatentrompeter. Heute 
nll's geschehen, das lang geplante Werk, und niemand 
1t**£*i+. w * r d Hi eme Spur finden. — Der so sprach, war ein roher 
Geselle, Wangtja mit Namen. Er hegte Mordgedanken und wollte 
die finstere Nacht benutzen, seinen langgehaßten Feind, den Li-öl, 
aus dem Wege zu schaffen. Er hatte eine Anzahl Gesinnungs- 
genossen angeworben, fünf feste Kuli, die für Geld und eine gute 
Mahlzeit freudig zur Stelle waren. Die Schar hatte sich mit Messer 
und Knüttelin bewaffnet und, um sich unkenntlich zu machen, das 
Gesicht mit Tusche geschwärzt. Es mochte eben die zwölfte Stunde 
sein, als sie vor der Türe des Li-öl anlangten. Mit kräftigen Schlä- 
gen versuchten sie, dieselbe loszusprengen. 7 Was gibt es da?* 
rief Li-öl samt seiner Frau wie aus einem Munde; und sogleich 
hatten sich beide vom Lager erhoben und lugten durch die Tür- 
ritzen. Deutlich sahen sie die vom Fackelscheine erleuchteten 
schwarzen Gestalten und glaubten, es seien Räuber. Die Frau ver- 
kroch sich sofort unter dem Bette. Es war auch die höchste Zeit; 
den schon begann die Türe nachzugeben: noch wenige Schläge, 
und mit den zerschlagenen Türsplittern drangen die Unholde in 
das Zimmer. Ehe Li-öl nur einen Gegenstand ergriffen, um sich 
zur Wehr zu setzen, hatte er bereits mehrere Lanzenstiche erhalten 
und lag in seinem Blute vor der Bettstatt. Mit wohlgezieltem 
Schwerthieb trennte dann der Wangtja das Haupt seines Gegners 
vom Körper. Kein Zweifel konnte mehr obliegen: der Feind war 
getötet, die Rache befriedigt. 

Li-öls Frau unter der Bettstelle zitterte am ganzen Leibe, als 
ob sie auf Eis gelegen, und wagte kein Glied zu rühren. Erst als 



— 65 — 

die Käuber fortgegangen und ihre Schritte verhallt waren, kroch sie 
langsam hervor. „Mann, Mann!" preßte sie beklommen hervor und 
stieß gegen die am Boden liegende Leiche. Ihre zitternden Hände 
hatten viele Mühe, Feuer zu schlagen, und es dauerte eine gute 
Weile, bis die Öllampe angezündet war. Mit derselben leuchtete 




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sie in das Antlitz ihres toten Mannes. Als sie das Haupt vom 
Bumpfe getrennt sah, ließ sie vor Schrecken die Lampe fallen, stieß 
einen gellenden Schrei aus und lief auf die Straße. „Mörder, 
Mörder, u schrie sie aus Leibeskräften ; „Mörder haben meinen Mann 
umgebracht. u Als die Nachbarn den Lärm vernommen, waren sie 
bald auf den Beinen, und der Eine fragte: „Was giebt's?", der An- 
dere fragte: „Was ist los? 4, „Mein Mann ist ermordet," wiederholte 

R. Pieper, „Neue Bündel". 5 



— 66 — 

immer von neuem die Frau, „inein armer Mann!" Unterdessen 
hatte man Licht angezündet, und die Beherzteren leuchteten in das 
Gemach des Ermordeten. Nachdem man sich überzeugt, daß Wangtja 
wirklich tot sei, begannen die Nachbarn die weinende Frau etwas 
zu trösten. „Laß ab vom Weinen/ sagte man, „denn vom Weinen 
wird niemand mehr «um Leben erweckt. Die Altesten unseres 
Dorfes gehen morgen mit dir in die Stadt und helfen dir, beim 
Mandarin deine Klage anzubringen. Der Mandarin muß den Mörder 
ausfindig machen und ihn bestrafen, und wenn du sein Blut fließen 
siehst, wird's dir leicht ums Herz." Jedermann ging dann zurück 
in sein Haus und suchte wieder das Lager auf, nachdem er den 
Riegel recht fest vor die Türe geschoben; obendrein stemmte noch 
mancher der größeren Vorsicht halber ein Stück Holz davor. Wang- 
tjas Frau ging auch in ihre Wohnung, verriegelte die Türe und 
kniete bei der Leiche nieder. Dort ließ sie ihren Tränen freien 
Lauf. „Mein Mann, mein armer Mann!" jammerte sie in einem 
fort, bis sie ganz ermattet zusammenbrach und einschlummerte. 

Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne stahlen sich eben 
durch das durchlöcherte Papierfenster und beschienen die entstell- 
ten Züge des Toten. Die Schlafende erwachte wiederum mit dem 
Schrei: „Mein Mann, mein armer Mann!" Dann stand sie beherzt 
auf, machte Feuer und kochte eine Schüssel Wasser. Als sie sich 
darin gewaschen, legte sie ihre besten Kleider an und begab sich 
auf die Straße. Dort machte sie bei ihren Nachbarn die Runde, 
jeden einzeln bittend, er möge mit ihr in die Stadt gehen und beim 
Mandarin ihr zum Rechte verhelfen. „Aber hast du niemand von 
den Mördern gekannt?" fragten die Nachbarn. „Ei doch," erwiderte 
sie; ich weiß sogar bestimmt, wer meinem Mann den Eopf abge- 
schlagen hat. Das ist kein anderer gewesen als der Wangtja, unser 
Feind. Deutlich sah ich ihn beim Fackelschein, als ich unter dem 
Bette meinen Kopf hervorstreckte, und erkannte den Bösewicht an 
den Gesichtszügen sowie am Barte." „Euere Feindschaft mit Wang- 
tja ist uns bekannt," antworteten die Nachbarn; „deine Anklage 
scheint auf Wahrheit zu beruhen. Gut, wir gehen mit dir in die 
Stadt. Dies zu tun, wäre ja übrigens unsere Pflicht, wenn es sich 
auch nur um eine Räuberei handelte." 

Eben hatte der Mandarin seinen Richterstuhl eingenommen, 
um eine Rechtssache zu entscheiden, da trat die Frau des ermor- 
deten Li-öl mitsamt den Nachbarn in den Gerichtssaal. Die hatte 
vorher die „Expreßtrommel" geschlagen zum Zeichen, daß es sich 
um eine wichtige Anklage handele. Deshalb wurde sie denn auch 



— 67 — 

ohne besondere Schwierigkeit vorgelassen. Mit der Klageschrift, worin 
der Tatbestand summarisch verzeichnet war, in beiden Händen, 
trat sie vor den Mandarin, warf sich auf die Kniee nieder nnd schrie 
mit lauter Stimme: „Großer, alter Großvater, ein schreckliches 
Verbrechen ist geschehen! Erbarmt euch meiner!" Der Mandarin 
las die Anklage durch, und als die anwesenden Nachbarn auch zu 
Gunsten der Klägerin sprachen, wurde den Gerichtsschergen von 
der „schnellen Abteilung" sofort ein Einfangschein ausgestellt mit 
dem Befehl, den Wangtja ohne Verzug vor den Mandarin zu bringen. 

Wangtja war nach vollbrachter Tat mit seinen Spießgesellen 
nach Hause zurückgeeilt. Dort wuschen sie sich das Gesicht und 
taten sich bei einem Topfe erwärmten Schnapses und einer Schüssel 
kleingeschnittener Schweinsohren gütlich. Als alles vertilgt war, 
legten sie sich zur Ruhe. Wangtja war sehr guter Dinge. Eine 
Tat, „von der die Teufel keine Ahnung haben und die Geister 
nichts wissen konnten", die mußte ja verborgen bleiben. Er glich 
jenen, die ihre Ohren zustopfen, wenn sie eine Glocke stehlen wol- 
len. Um so größer war seine Überraschung, als er eines morgens 
in der Frühe mehrere Gerichtsschergen von der „schnellen Abteilung" 
vor sich stehen sah. Sie ließen ihm gar keine Zeit, sich zu besin- 
nen und zu fragen, wohin und woher, sondern legten sofort Hand 
an ihn. Während ihn die einen am Zopfe festhielten, schnürten 
die anderen seine Hände in Fesseln. Ja, sogar die Beine wollte 
man ihm mit schweren Ketten belasten. Gegen ein gutes Trinkgeld 
aber nahm man davon Abstand. Im übrigen half kein Bitten und 
Flehen, sondern schnurstracks ging es mit dem Delinquenten in 
die Stadt vor den „Vater des Volkes u . 

„Warum hast du den Li-öl ermordet?" fragte der Mandarin 
in schneidigem Tone. „Das ist nicht meine Sache," antwortete 
Wangtja; „Li-öl ist von Räubern ermordet. Ich bin ein unbeschol- 
tener Mann." Auf einen Wink des Mandarins wurde die Frau des 
Li-öl vorgeführt. „Welche Beweise hast du, wenn du den Wangtja 
als Mörder anklagst?" „Beweise, großer alter Großvater! Beweise 
hat deine dumme Magd genug. Erstens habe ich den Wangtja 
selber gesehen, als ich unter dem Bette versteckt war, und ich 
erkannte ihn an seinem großen Kopfe und dem langen Barte. 
Zweitens weiß jedermann, daß Wangtja immerdar unser größter 
Feind gewesen. Drittens ist es einem Raubmörder um Geld und 
Gut zu tun, nicht um das Leben. Geraubt hat man uns aber nichts, 
also war es nur auf das Leben abgesehen. Großer alter Großvater ! 
Deine Einsicht ist klar, wie das Quellwasser, und deine Weisheit 

5» 



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rein, wie das Sonnenlicht : nun urteil«» *elbM. ob meine Gründe 
stichhaltig sind. i; Der Mandarin nahm dann die Nachbarn in Ver- 
hör. Aurh sie bezeugten, dal) Wangtja seit langer Zeit mit Li-öl in 
Feindschaft gelebt; auch beruhe es auf Wahrheit, daß nichts aus 
dem Zimmer des Ermordeten geraubt sei. 

Wangtja wurde dann auf die ..Liiiiipeiifoltcr" > (Kuang-kuin-rja) 
gespannt, und man setzte ihm mj lange zu, bis er mit der Wahrheit 
herausrückte. Er, der weiche Mann mit zarter Haut und vielem 
Fleische, hatte noch nie im Leben Schmerzen gelitten; deshalb war 
es ein leichtes, ihu mürbe zu machen. „Es ist Tatsache/' bekannte 
er, „ich habe den Li-öl getötet. Es war damals eine sehr finstere 
Nacht: Wind und liegen vertrieben Teufel und Geister aus dem 
Freien. Ich glaubte daher, der Augenblick sei gekommen, meine 
Rache auszuüben/ Der Mandarin lieh das Geständnis Wort für 
Wort niederschreiben, um die Anklageschrift au den Kaiser vorzu- 
bereiten. Wangtja aber wurde in das Gefängnis der armen Sünder 
gesperrt, die ihr Leben " verwirkt haben. Dort sollte er bleiben, 
bis das Todesurteil endgültig vom Kaiser unterschrieben sei. 

Wie nun Wangtja einsam in dem dunkelen, von Modergeruch 
erfüllten Kerker lag, kam er sich vor wie ein Vöglein, das vergeb- 
lich gegen das Gitter seines Bauers fliegt, oder wie ein lebender 
Fisch im Topf über'm Feuer. Mochte, er auch sein Gehirn zermar- 
tern, hin und her sinnen, es wollte ihm kein kluger Gedanke ein- 
fallen, um sein Leben zu retten. Doch ja — da stieg plötzlich vor 
seinem Geiste das Bild des „alten Papas 4 " Tschou auf. „Der wird 
noch einen Ausweg wissen, mich aus dem Kerker zu befreien und 
mein Leben zu verlängern." dachte er bei sich. Papa Tschou ver- 
stand e- allerdings meisterhaft, das Krumme gerade zu machen und 
überall ein Loch zu finden, wo andere schon längst am Ersticken 
waren. Sein Pinsel hatte die Schärfe eines zweischneidigen Schwertes; 
damit vermochte er den verwickeltsten Knoten entzwei zu hauen und 
Recht und Unrecht in entgegengesetzte Bahnen zu lenken. Während 
Wangtja sich schon in Gedanken der Freiheit wiegte, kam sein Sohn 
vor die Kerkertüre, um ihm Essen zu bringen. Es hatte allerdings meh- 
rere Loth Silber gekostet, ehe er sich vom Kerkermeister diese Erlaub- 
nis erwirkt. Wangtja hatte Zeit genug, seinem Sohne die Rettungs- 
pläne vorzutragen. ..Eile noch heute zu Papa Tschou." sprach er; 
..auch spare kein Silber, denn du wirst hoffentlich deinen Vater mehr 
lieben als Geld und Habe. Es lohnt sich der Mühe, und die Mühe wird 
nicht zu groß sein." Der Sohn antwortete auf alles mit „gut" und 
.ja" und versprach seinem Vater, das Menschenmöglichste zu tun. 



— 69 — 

Bald war der Papa Tschou aufgesucht und von dem Tat- 
bestande in Kenntnis gesetzt. „Das ist allerdings eine sehr faule 
Sache," meinte Papa Tschou und heftete seine Kalmückenaugen 
nachdenklich zu Boden. „Dein Vater hat bereits alles eingestan- 
den, und der Mandarin hat dementsprechend seinen Bericht gemacht 
und an die höheren Instanzen geschickt. Zudem ist der Mandarin 
ein Neuling im Amte, dem es weniger um Geld zu tun ist, als 
um Ruhm und Empfehlung, damit seine Vorgesetzten ihm noch 
höhere Posten anvertrauen. Indes werde ich doch aus Freundschaft 
gegen deinen Vater mein Bestes tun und wenigstens den Versuch 
machen, sein Leben zu retten. Ich habe mit dem Präsidenten des 
Obergerichtshofes in Nanking Beziehungen, mit dem großen Manne 
Sjü. Vielleicht läßt er sich durch Silber bestechen, oder es findet 
sich sonst ein Loch oder Riß zum Durchschlüpfen. Im hiesigen 
Tribunal ist nichts mehr anzufangen; deshalb müssen wir an andere 
Türen klopfen. Halte mir 300 Taels Silber bereit, ich werde mich 
dann sofort auf den Weg nach Nanking machen. „Aber Papa 
Tschou, welchen Schlupf oder Riß glaubt ihr ausfindig zu machen?" 
„Dafür laß mich sorgen; ich kann dir das jetzt noch nicht ver- 
raten. Bereite mir die 300 Taels Silber, und ich verspreche dir, 
nach einem Monat ist dein Vater in Freiheit/ 

Das Silber war bald zusammengebracht, und als es dem Papa 
Tschou ausgehändigt war, machte sich derselbe noch am selbigen 
Tage auf den Weg nach Nanking. „Sage deinem Vater, er solle 
sein Herz der Hoffnung öffnen," rief er noch vom Esel herab dem 
Sohne des Wangtja nach, „alles wird gut gehen. 44 „Ein friedevoller 
Weg! 44 waren des letzteren Worte. 

Nach Verlauf von einigen Tagen traf der Winkeladvokat in 
Nanking ein. Nachdem er sich in einer Herberge einquartiert hatte, 
nahm er sich zwei Tage Rast, um seine alten durchrüttelten Glied- 
maßen wieder in die* richtigen Fugen zu bringen. Vernünftige 
Gedanken wären ja nicht möglich gewesen, wenn ihn körperliche 
Müdigkeit belästigt hätte. Dann kaufte er einige wertvolle Geschenke, 
mit denen er sich zum Obergerichtshofe begab und sich beim Vor- 
sitzenden, Herrn Sjü, anmelden ließ. Herr Sjü empfing seinen alten 
Bekannten mit ausgesuchter Freundlichkeit ; indes fand Papa Tschou 
niemals rechte Gelegenheit, sein Anliegen vorzutragen. Ohne Um- 
schweife damit herauszurücken, schien ihm zu gewagt, zumal er 
selber noch nicht wußte, wo zu allererst ein Loch zu finden sei. 
Eines Tages aber, vielleicht wollte es der Zufall so, sah er, wie 20 
Gefangene in das Obergerichtstribunal abgeführt wurden, alles arme 



— 70 — 

Sünder, die bereit- ihren roten Toten unk trugen . l\ipa Tschou 
erkundigte -ich -ogleich. w.i- da« für Landsleute seien, und zu 
-einer trrolWfii Freude erfuhr er. dal) zwei davon au- Sutsohou ritamm- 
ten. ..An- Sut»«:hou! «rtit. gut.-* murmelte er für -irh in den Bart: 
,.jetzt hali i«:h*- gefunden, da- Luch: jetzt weib ich. wa- zu tun ist. fc 
Am anderen Tage -teilte er -ii-h Im-iiii Präsidenten Sjü vor zur 
geheimen Audienz. .Ich habt* •'im- Herzensangelegenheit." begann 
er und zog au- dein ßu-en (fast hatte mau meinen -ullen, es «ei 
-ein eigene- H*"r/ gewesen) zwei Stürke Silber hervur. die er dem 
Präsidenten in d«n Ärmel -rhob. .irli habe eine Herzensangele- 
genheit. Kin naher Verwandter von mir -chmachtot unschuldig im 
Kerker und -oll zum Tude verurteilt werden. Ich bitte daher den 
groben Mann, -ich ein wenig der Sache anzunehmen und seinen 
mächtigen Kintiub xn ihm hin überstrahlen zu la.-sen." Sjü war 
freilich eine hohe IVr*ünli«dikeit. hatte aber durchaus keine tauben 
Ohren, wenn der -übe Klang de- Silber- tonte. „Da» ist eine 
Kleinigkeit, da- i-t -ehr leieht," erwiderte er eilfertig. Papa Tschou 
begann dann die Sache zu erzählen. Wangtja habe mit Li -öl Feind- 
schaft gehabt. AN nun Li -öl von Räubern ermordet sei, habe dich 
der Verdacht auf -einen Freund Warigt ja gelenkt, und dieser sei 
auch -ofort augeklagt und in Haft genommen wurden. Die Schmer- 
zen der Folter hätten ihm zuletzt ein falsches Bekenntnis ausgepreßt, 
und er habe sich eiuer Tat schuldig bekannt, die er nicht began- 
gen. .Nur -ehade." meinte Sjü. .dab e- -irh nicht um ein Ver- 
brechen handelt, da- in unserer Provinz verübt wurden i-t. Sutschou 
gehört zu einer anderen Provinz, und meine Machtbefugnis erstrekt 
sich nicht bi- dorthin. Da i-t es -«.-hwer, -ehr schwer, helfend ein- 
zugreifen." Es M'heinr nur «chwer zu sein.** meinte Papa Tschou.. 
.tatsächlich aber ist e- leicht. Geste rn -ah ich 20 zum Tode Ver- 
urteilte hierher abführen, und. wie ich in Erfahrung gebracht, befin- 
den sich zwei Mann aus Sutschou darunter. Wie wäre es. wenn 
den beiden etwa- Zucker- Silber (<o benannt, weil der zum Tode 
Verurteilte die wenigen Tage, welche er noch zu leben hat, sich 
durch be^-eres Essen und Trinken .versüben" darf) gegeben würde. 
damit -ie >ieh bei dem nächsten Verhöre al> Morder des Wangtja 
bekannten r Die Delinquenten haben so wie so ihr Leben verwirkt: 
ob -ie sjr-h eine- Morde- mehr anklagen, macht ihnen weiter keine 
Schmerzen. Au«h kann ich den großen Mann versichern, daß sich 
Wangtja dankbar erweisen und sein Lebtag des groben Manne« 
Wohltaten eingedenk sein wird." Sjü fühlte bereits die zwei Stücke 
Silber in -einem Annel : ubendrein wurde ihm noch mehr Silber in 



— 71 — 

Aussicht gestellt — da konnte er sich nicht spröde zeigen. Er 
versprach also, die Sache in die Hand zu nehmen. In der Stille 
ließ er die beiden zum Tode Verurteilten aus Sutschou zu sich 
kommen, schenkte ihnen einige Lot Silber, und jene waren dafür 
gerne bereit, zu sagen, was man ihnen vorsagte. Beim öffentlichen 
Verhör am folgenden Tage, das Sjü als Oberkriminalrichter selber 
vornahm, stellte er an die beiden Übeltäter folgende Fragen: „Wie 
viel Leute habt ihr umgebracht in eurem Leben ?" — „24 Mann." 

— „Welches waren die letzten Raubmorde, die ihr verübt habt?" 

— „Wir wollten einen reichen Bauer in Sutschou berauben; eben 
hatten wir ihm den Hals abgeschnitten, da hörten wir Geräusch und 
flohen davon." Sjü brachte das Verhör zu den Akten und schickte 
unverzüglich einen Kurier nach Sutschou um dem dortigen Man- 
darin zu berichten. 

Papa Tschous Weizen war weit genug gediehen. Auch er 
machte sich schnell auf den Rückweg. Zu Hause angekommen, 
ließ er den Sohn des Wangtja vor sich kommen und beredete 
ihn, eiligst beim Mandarin Klage zu erheben für seinen „unschul- 
digen Vater". Der Mandarin hatte bereits die Akten des vom 
Oberkriminalrichter angestellten Verhörs empfangen. Das Bekennt- 
nis der beiden Räuber machte ihn stutzig. „Sollte Wangtja doch 
noch vielleicht unschuldig sein?" Nun reichte sein Sohn auch 
noch Klageschrift ein, worin er sich über die Ungerechtigkeit des 
Mandarins beschwerte. Da zweifelte er nun nicht mehr: Wangtja 
war unschuldig. — Ohne weiteres Verhör entließ er ihn aus dem 
Gefängnisse und schickte ihn nach Hause. Die Frau des Li-öl aber, 
welche davon hörte, machte sich Vorwürfe, daß sie an jenem Abend 
nicht genauer zugesehen. Sie glaubte zwar, den Wang-tja sicher 
gekannt zu haben ; „aber im Dunkeln sieht man halt nicht so genau," 
sagte sie. Und jetzt, wo die „eigentlichen 44 Mörder eingefangen 
waren, da hatte sie rein nichts dagegen einzuwenden, daß Wangtja 
frei gegeben wurde. Dieser aber kam sich vor wie ein Fisch, der 
dem Netze entschlüpft und in das weite Meer zurückgleitet; wie 
der Vogel, der mit dem engen Käfig die holde Freiheit eingetauscht. 
Als freier Mann bewegte er sich wieder auf der Straße und dem 
Markte ; im Stillen aber sagte er sich : „Wenn Papa Tschou nicht 
gewesen, wäre es mir an den Kragen gegangen. 44 




— 72 — 

Kuriose Heiraten. 

jjeiin ich dem vorehrten Leser von Heiraten erzähle, ihn 
§ aber zuvor an eine Totenbahre führe, so darf ihn das 
iicht wundern : in China geht eben mancherlei verkehrt 
j^^^S^S 7 ^; bekanntlich ist China die verkehrte Welt. 

Starb da vor kurzem in unserem Nachbardorfe ein alter Heide. 
An seinem Sarge knieen einige Graubärto und heulen: „Mein 
Vater, mein Vater;* 4 nebenan kniet ein Büblein von sechs Jahren 
und es schreit so laut es nur kann: „Mein Vater, mein Vater \ u 
Der Alte hatte sich in seinem 76. Lebensalter noch eine Lebens- 
gefährtin genommen, ein Mädchen von 15 Jahren, für den Rest 
seines Lebens. Zwei Frauen hatte er bereits überlebt, und von 
ihnen stammen die ersten Kinder, die im Laufe der Zeit selber alt 
geworden. Wer hierzulande Junggeselle bleibt, tut es nur notge- 
drungen, weil er keine Lebensgefährtin erobern kann. Gleich und 
gleich gesellt sich gern auch in China und die Ehenvermittler tragen 
schon Sorge, daß sich derartige Pärchen finden. Unseren Nachbar 
also, den alten Mann hatte die Heiratslust auch nicht verlassen, 
denn als er in seinem 75. Lebensjahre seine Frau verlor, schaute 
er sich balt nach einer neuen um, d. h., er gab einem Heiratsver- 
mittler Auftrag, für ihn auf die Suche zu gehen. Der hatte denn 
auch in Bälde ein Fräulein gefunden, „zierlich von Gestalt mit 
allerliebst kleinen Füßchen und das Mündchen war nicht größer als 
ein Mandelkern. 44 Xur hatten die Eltern des Kindes den Wunsch 
geäußert, sie möchten doch zuvor gern den Heiratskandidaten sehen; 
es sei ihnen nämlich zu Ohren gekommen, sein Aussehen mache 
den Eindruck eines alten Mannes. Tch will ihn selber zu euch 
hinüberschicken, sagt der Vermittler. 

Wie der Brautbewerber dem alten Freier von seinem Erfolge 
erzählt, ist dieser ganz entzückt, aber, aber — die Eltern wollen 
ihn zuvor in Augenschein nehmen. Falsche Zähne und Perücken 
gibt es in China noch nicht, sonst würde wohl gar mancher unter 
solchen Umständen zu diesen Verschönerungsmitteln greifen. Doch 
der Chinese findet immer Auswege, zumal wenn es sich um den 
Erwerb einer Frau handelt. „Mein dritter Sohn", sagt der Alte, 
„hat allerdings schon manches graue Haar, aber er macht doch, 
noch immer einen jugendlichen Eindruck. Wie wäre es, wenn er 
für mich hinüberginge und sich als zukünftiger Bräutigam vorstellte?" 
„Das ist in der Tat ein kluger Gedanke", antwortet der Ehever- 



— 78 



mittler, und am an- 
deren Tage machte 
sich der Sohn in 
Gala gekleidet und 
fein rasiert auf den 
Weg zur Erwählten 
des Vaters. „Aller- 
dings", meinten die 
Eltern, „der Mann 
ist schon bei Jahren 
und sein Alter steht 
in keinem Verhält- 
nisse zu demjenigen 
unserer Tochter, 
aber im übrigen ist 
er doch ein recht 
schmucker Geselle. 
So sei es denn, wir 
geben unsere Ein- 
willigung. 4 * DerVer- 
lobungs - Kontrakt 
wurde abgefaßt und 
nach einigen Tagen 
wurde die junge 
Braut heimgeführt 
zu ihremVerlobten. 
Wie das arme Kind 
wohl Augen ge- 
macht hat, und die 
Eltern, die gar nicht 
begreifen konnten, 
wie der Mann in we- 
nigen Tagen doch 
so fürchterlich geal- 
tert sei. „Das muß 



wohl 
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die Freude 
die reizende 




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Genossin getan haben", meinte der Ehe vermittler. Aber der Alte hatte 
Haus und Hof und vieles Besitztum, und das sind beim Heiraten Haupt- 
faktoren. Deshalb gaben sich die Eltern zufrieden, wenngleich sie der 
Sache nicht so ganz trauten und den Betrug wohl gemerkt hatten. 



- 74 — 

Noch war kein Jahr verflossen, da konnten die Schwieger- 
eltern mir der freudigen Kunde überrascht werden, ihre Tochter 
habe dem Herrn Gemahl einen Sohn geschenkt. Der Kleine wurde 
T*i'hniuri-fol genannt, d. h. „Auch ich will einen Teil haben"; von 
Haus um! Hof nämlich, denn die anderen Söhne hatten bereits 
ihren Teil erhalten. Alles war geteilt und für einen zukünftigen 
Hruder hatte man nichts mehr zu teilen übrig gelassen. So oft 
.ils<> tue Brüder dos Kleinen dessen tarnen rufen hörten, worden 
-iie an ihre Pflieht erinnert ihm einen Teil Erbschaft abzutreten. 
Sit» haben das denn auch getan und nochmals brüderlich geteilt 
und Tschoug-i-fol ist dabei nicht zu kurz gekommen. Als er eben 
sechs Jahre alt geworden, ist sein Vater gestorben. 

In Te-ugan lebte vor Jahren eiu großer Mandarin, ein „Ta-yin tu 
der hochbetagt seine Frau verlor. Kr selber wurde bald auch krank 
und sah sein Ende herannahen. Guter Rat war teuer. So leicht 
ist es nicht eine derartige hohe Stellung zu ersteigen, sich zu 
hohem Ansehen und großer Macht empor zu schwingen und sich 
dann vom Tode alles rauben zu lassen. Den Kindern können die 
Khren und Titel, die Knöpfe und Federn, welche die Eltern getragen, 
in China wenig mehr nützen; keiu Adel ist erblich; wer hoch 
hinauf will, soll sich auch selber dafür anstrengen, denkt die Regier- 
ung. Aber unsere Zopfträger sind dem Kaiser doch wieder in 
schlau gewesen und haben ein Mittel ausgeklügelt, um den hohen 
Rang der Ahnen und deren Machtfüile bisweilen noch für längere 
Zeiten auszunützen. Geht's nämlich ans Sterben, so werden schnell 
Anstalten gemacht, den sterbenden hohen Würdenträger auf seinem 
Totenbette noch einmal zu verheiraten. Man sucht dafür in der 
Regel ein ganz junges Rhu aus, eine Braut, die Aussicht hat, noch 
recht lange zu leben. Sie wird dauu mit einem Schlage lao Tet'e 
,,alte Matrone", und als an die rechtmäßige Gemahlin des großen 
Mannes so und so gehen alle Titeln, Würden und Vorrechte des- 
selben auf sie über. Sollte aber die rechtmäßige Frau noch leben, 
so ist allerdings nichts zu machen, dann wird man sich vielleicht 
Mühe geben, sie bei Zeiten — aus dem Wege zu schaffen, damit 
eine junge an ihre Stelle treten kann. 

Der große Mandarin von Te-ngan also heiratete im Interesse 
seiner Verwandten tags vor seinem Tode ein junges Mädchen. 
Nachdem der Heiratskontrakt abgeschlossen, wurde die junge Braut 
an das Totenbett geführt; dort gab sie Himmel und Erde K'ot'ou 
(Verehrung durch Niederwerfen auf den Boden) und die Heirat war 
fertig. Als der (remahl am anderen Tage starb, mußte sie ihn 



— 75 — 

beweinen, so laut und tränenreich sie nur konnte. Bei solchen 
Heiraten ist freilich die arme Tet'e zumeist zu bedauern; sie hat 
vom „Ehestande" weiter nichts als die Würden und Vorrechte des 
verstorbenen Gemahls, welche die Verwandten zu selbstsüchtigen 
Zwecken ergiebigst ausnutzen. Sie muß zeitlebens Witwenschaft 
beobachten und ihrem toten Gemahl Tränen nachschicken ins Jen- 
seits. Wollte sie zu einer anderen Ehe übergehen, so verfiel sie 
den Strafen des Gesetzes. 

Nach der Heirat besagter Tet'e war Jahr und Tag verflossen ; 
die junge Witwe lebte in strenger Abgeschiedenheit, bedient von 
einigen Kammerzofen, unbekümmert und unbehelligt. Ihre Söhne 
d. h. die Kinder der früheren Ehe hatten wenig Respekt vor der 
„alten Mutter 44 , die kaum so alt war als sie selber. Anfangs 
besuchten sie dieselbe noch wohl, wenigstens zu Neujahr, um ihr 
einige Geschenke zu bringen. Allmählich aber blieben sie ihr ganz 
fern. Eines Tages nun, als eben ein neuer Mandarin im dortigen 
Bezirke Anstellung bekommen, der von der T'et'e seines früheren 
Vorgängers keine Ahnung hatte, gingen die Söhne Salz kaufen, 
aber sie erhielten nicht mehr als das gewöhnliche Volk. Bekannt- 
lich ist Salz Monopol des chinesischen Kaisers. Aber nicht nur der 
Kaiser verdient beim Verkaufe desselben, sondern die Mandarine 
wollen auch nicht leer ausgehen. Ihr Verdienst erzielen sie dadurch, 
daß sie das Pfund zu 12 — 14 Lot verkaufen und durch Beimischung 
von Erde und dergl. den „Salzwert 44 erhöhen. Kuentjayin aber, d. 
h. die amtlichen Persönlichkeiten, erhalten volles Gewicht, nämlich 
das Pfund zu 16 Lot. Als sich die Söhne wie gewöhnliche Menschen- 
kinder behandelt sahen, erhoben sie Klage, aber die Klage wurde 
als unbegründet abgewiesen. Es blieb nichts anderes übrig, als die 
Mutter wieder zu besuchen und ihre Hülfe in Anspruch zu nehmen. 
Eben war Neujahr im Anzüge und die Söhne benutzten die Gelegen- 
heit, die „alte Matrone 44 mit allen möglichen Ehren zu überhäufen* 
Es wurden ihr allerhand Geschenke gebracht und am Neujahrstage 
selber erschienen sie in Gala und warfen sich vor ihr als gehor- 
samste Söhne auf den Boden, indem sie „Neuen Frühling, große 
Freude 44 wünschten. Der Mutter war dies Benehmen auflallend 
und sie vermutete, daß ein dickes Ende kommen werde. Sie fragte 
deshalb die Söhne gerade heraus : „Wie kommt es doch, daß ihr 
jetzt meine Türe wißt und plötzlich so gute Kinder geworden seid? 
Ehedem wußtet ihr kaum, wo ich wohnte, und selbst zu Neujahr 
habt ihr mich nicht mehr bgrüßt. 44 Die beiden mußten mit der 
Sprache und ihren Anliegen herausrücken und sie erzählten von der 



— 76 — 

Salzgeschichte. „Das ist eine Kleinigkeit," versichert -die Mutter; 
-gut, ich will euch Recht verschaffen. Spannt einen Wagen an 
mit allem Pomp, wie es sich gehört, und laßt auch die vorgeschrie- 
bene Bedienung mitgehen. u Als der Wagen in die Hauptstraße 
fuhr, wurden neun Böller abgeschossen zum Zeichen, daß ein „großer 
Mann" seinen Durchzug halte. Hastig erschienen Diener des Man- 
darins und erkundigten sich nach der hohen Persönlichkeit, die dort 
im Wagen sitze. Tet'e, so und so und sie geht nach Peking, war 
die kurze Antwort, die sofort dem Mandarin überbracht wurde. Der 
Mandarin ließ dann weiter fragen, ob die gnädige Frau besondere 
Angelegenheiten in Peking zu besorgen habe, ob sie ihn nicht mit 
einigen Befehlen beehren wolle. Ich habe keine besonderen Ange- 
legenheiten, schnippte die T'et'e zurück. Ich will in Peking nur 
einmal nachfragen, ob man uns dort noch kennt. Hier scheinen 
wir in Vergessenheit geraten zu sein ; selbst das Salz sucht man uns 
zu entziehen. 

Wie dem Mandarin diese Antwort zu Ohren kam, war er 
vollends paff. Sofort beauftragte er die angesehensten Bürger der 
Stadt, zwischen ihm und der alten T'et'e zu vermitteln; er sei zu 
allem bereit. Nur möge sie doch nicht nach Peking gehen. Die 
gnädige Frau ließ sich besänftigen. Der Mandarin mußte sich einige 
Demütigungen gefallen lassen; außerdem schickte er monatlich einen 
großen Sack Salz zur gnädigen Frau, der mehr als für ein Jahr reichte. 

Auf dem Todesbette heiraten — das geht schon weit; aber 
für den Toten, über das Grab hinaus, noch eine Lebensgefährtin 
suchen — das geht noch weiter ; aber auch das bringen die Chinesen 
fertig. Wie das zugeht ist in U. S. 52 beschrieben, und illustriert 
die folgende Geschichte. 



Hochzeits- und Begräbnisfeierlichkeit 
an einem Tage. 

«^yMLchzeits- und Begräbnis-Feierlichkeiten am selbigen Tage in 
ilv^li ö * nem Dorfe bedeuten schon eine Seltenheit, wenn das 
^?M Dorf klein ist. Daß aber eine Hochzeits- und eine Leichen- 
S^iklS foi er an einem Tage in derselben Familie stattfinden, dürfte 
in Europa wohl ein Ding der Unmöglichkeit sein. Der spitzfindige 
Chinese» indes bringt so etwas fertig, und was noch mehr zu 



— 77 — 

bewundern ist, er versteht es sogar einem Toten noch eine Ehehälfte 
auzukopulieren, und wenn das geschehen ist, begräbt er beide in 
einem Grabe. 

Eine derartige Feierlichkeit ereignete sich kürzlich in unserin 
Puoly und dabei ging es hoch her. Es handelte sich um einen 
bejahrten Alten, der das Zeitliche gesegnet hatte und dessen Frau 
auch bald darauf gestorben war, Es stand nichts im Wege beide 
zu begraben, aber ehe das geschah, mußte der Alte erst noch eine 
längst verstorbene und vergessene Braut heimführen. Die war ihm 
nämlich vor etwa 50 Jahren zugesprochen worden, als dann aber 
die Hochzeit vor sich gehen sollte, hatte der Tod die Braut wegge- 
holt. Dem Junggesellen wurde bald eine andere Frau gesucht, und 
mit der lebte er mehr als 40 Jahre zusammen, bis auch sie starben. 
Die zuerst gestorbene Braut gilt nun aber als die rechtmäßige und 
sie steht ihrem Manne im Schattenreiche als die eigentliche Frau 
zunächst. Doch bevor er sie dort heimführen kann, muß er ihr 
erst hinieden angetraut sein. Das geschah denn am nämlichen Tage, 
als die zweite Frau unseres Alten begraben werden sollte. Das 
Grab der verstorbenen Braut wurde geöffnet, die noch vorhandenen 
wenigen Knochen wurden sorgsam aufgehoben und in einen neuen 
Sarg gelegt, das „Seelensitz-Täf eichen u {J$$Lpä-ni) wurde in eine 
Sänfte gesetzt und dann in feierlichem Brautzuge unter Musik 
und Petardengeknatter zum Heim des Toten geführt. Während 
Freunde und Verwandte den Hochzeitsschmaus verzehrten, wurden 
die beiden Seelensitz-Tafeln der Toten neben einander gestellt und 
man unterließ es nicht, auch ihnen die einzelnen Gerichte anzubie- 
ten und den Duft der Speisen zuzublasen. Nachdem man sich gütlich 
getan und sich tüchtig mit Speise und Trank versorgt hatte, begann 
dann der zweite Akt — das Begräbnis. Die Musik ließ nun trau- 
rige Weisen vernehmen ; die von Wein geröteten Gesichter zerflossen 
in Tränen, jedermann hatte Kraft und Ausdauer zum Heulen, Jam- 
mern und Wehklagen. Die Leidtragenden legten ihre schmutzigen 
weißen Köcke an und wankten hinter den Särgen der zwei Mütter 
her; einige konnten sich kaum an ihrem „Schmerzensstocke" (J§C 
j^t ngai dschang) U. S. 289 aufrecht erhalten, die Trauer über den 
so schnellen Tod der guten Mutter hatte sie ganz zermalmt. Mehr 
aber noch als der Schmerz schien der Wein zu wirken und das 
Gleichgewicht ihres Körpers zu gefährden. „Unsere gute Mutter, 
unsere gute Mutter \ u jammerten die drei Söhne der zweiten Frau, 
Männer von 30 — 40 Jahren. „Heute erst bei uns eingekehrt, mußt 
du so bald wieder von uns scheiden l u Dem Sarge der eigentlichen 



— 78 — 

Mutter aber wurde keine Träne nachgeweint. Die Leiche des Vaters 
war früher im Felde provisorisch aufgebahrt und mit einem Stein- 
gewölbe iibermauert worden. Jetzt war nebenan eine mächtige 
Grube ausgegraben, worin alle Särge Platz finden konnten. Alle 
drei wurden neben einander gestellt; die früh verstorbene Braut 
kam jetzt als die erste Frau zur linken (Ehrenplatz) des Mannes, 
ihr zur linken fand die zweite Frau ihren Platz, die verstorbene 
Mutter der drei Söhne, welche aber heute keine Träne um sie 
weinten. Nachdem dann der Hügel über den drei Särgen aufgeworfen 
war, kehrten die Söhne wohlgemut nach Hause zurück mit dem freu- 
digen Bewußtsein, daß der Vater im Jenseits mit seiner neuen Braut 
glücklich sein würde ; sie aber konnten jetzt zwei Mütter ihr eigen 
nennen, von denen die uneigentliche forthin die bevorzugte ist. 



Lebensverlängerungs- 
und Stärkungsmittel der Chinesen. 

lliP^ 1 ' men8C hliche Geist hat von jeher auf Mittel gesonnen, 
L; ?■ sein Erdendasein zu verlängern und den gefürchteten Tod 
fM&MM * löglichst lange aus seiner Nähe zu bannen. Die Alchi- 
&föY&5\! misten der früheren Jahrhunderte bereiteten das große 
Klixir, <ias Magisterium, den roten Löwen, die rote Tinktur, welche 
als Trinkgold (aurum potabilo) alle Krankheiten heilen, das Alter 
verjüngen und das Leben verlängern sollte. Unsere Zopfträger nun 
hangen nicht minder am Leben. Fu, lu, schou sind die drei Zauber- 
zeichen, die den Inbegriff' alles Erwünschenswerten hinieden für den 
Chinesen bezeichnen: Glück, gutes Einkommen, langes Leben. 
Und das lange Leben ist ihm schließlich noch die Hauptsache, denn 
es liefert zugleich Bürgschaft, daß er im früheren Leben auch gut 
gelebt, daß er nichts mehr abzubüßen hatte und daß er deshalb 
nach dem Tode zu einer noch höheren Glückseligkeitsstufe, zu 
einem noch erträglicheren Einkommen emporsteigen kann. Was 
Wunder also, wenn man schon in grauer Zeit allerhand Kraft- 
erzeuger kannte, wahre Wundermittel, welche eine abgewelkte Haut 
würden drall machen und neues Leben in die schlaffen Glieder 
zaubern sollen. 

Um mit dem Guten anzufangen, das in der Nähe liegt, ist ein 
„Htärkungsleim" (ngao tjao) zu nennen, welcher in Ngaotsch'öng 



— 79 — 

(nur wenige Stunden von Puoly entfernt) hergestellt wird. Außer- 
halb der Stadt lieg! mitten im Felde ein Brunnen, „den die Geister 
gegraben und dessen Wasser wunderbare Wirkungen hat.* Eine 
Quelle des Brunnes soll mit dem Meere in Verbindung stehen, 
eine andere soll aus dem Tsi-Flusse (bei Tsinanfu) ihr Wasser 
holen. Am 21. Dezember nun (Tung tsche: Winteranfang) wird 
von den Bewohnern der Stadt, welche sich mit der Herstellung 
des Stärkungsleims abgeben, Wasser gefahren. Es reiht sich Eimer 
an Eimer, und beständig bleibt man am schöpfen ; aber die Quellen 
des Brunnens sind unversiegbar. Am folgenden Tage beginnt man 
mit der Bereitung des Heilmittels. Beizeiten hat man Pelle von 
schwarzen Eseln (die doppelt und dreifach so teuer bezahlt werden 
als Pelle von andersfarbigen Langohren) gekauft. Dieselben werden 
in dem geschöpften Wasser gereinigt und bleiben so lange darin 
liegen, bis die Haare ausfallen. Dann werden die Felle zerkleinert 
und zwei Tage und zwei Nächte gekocht. Als Feuerung darf nur 
Holz von Maulbeerbäumen in Anwendung kommen. Hierauf wird 
die leimige Masse destilliert und in einem silbernen Topfe nochmals 
zwei Tage und zwei Nächte lang (nach anderen Beschreibungen 
sieben Tage und sieben Nächte) gekocht unter beständigem Um- 
rühren mit einem vergoldeten Löffel. Als Zusatz fügt man Reiswein 
(schao-ching tsiu) aus dem Süden bei, nebst Absud von Bergkräutern. 
Sobald die leimige Mischung erhärtet ist, wird sie in gleichförmige 
Stücke zerschnitten, sauber verpackt und nimmt nun ihren Weg 
tausende von Stunden weit in alle Gaue des „himmlischen Reiches.* 4 
Sollte es der freundliche Leser schon 'mal mit Hämoglobin, Eulaktol, 
Somatose oder einem anderen Stärkungsmittel versucht haben, ohne 
die gehoffte Stärkung zu finden, kann er's ja auch mit unserem 
chinesischen Stärkungsleim probieren; wer weiß, welche Kraft so 
eine schwarze Eselshaut in Verbindung mit dem Geisterwasser auf 
den Körper ausüben kann. 

Die Zubereitung des Ngao-tjao habe ich freilich noch nicht mit 
eigenen Augen angesehen, den Wunderbrunnen aber hatte ich 
dieser Tage Gelegenheit zu bewundern. Ju tji ming u tji sehe, 
bemerkte ich meinem Begleiter gegenüber : Viel Geschrei und wenig 
Wolle, und kopfschüttelnd gab er mir recht. Kämen da die Bewoh- 
ner Schanghais und Kantons (wohin der Stärkungsleim auch versandt 
wird und sähen diesen „ Geisterbrunnen u — sie würden doch stark 
in ihrem Glauben an das Wundermittel erschüttert werden. Mit 
knapper Not hätte man vielleicht einen Eimer Wasser herausschöpfen 
können (es ist augenblicklich freilich große Dürre). Und die bösen 



— 80 — 

Buben haben ihn fast zur Hälfte mit Backsteinstücken zugeworfen 
und treiben noch sonstigen Unfug dabei. 

In der !Nahe ist eine Steinplatte pavillonartig überbaut. Auf 
der Platte gewahrt man in mächtigen Zügen die Schriftzeichen: 
„Alter Brunnen der Stadt Ngaotsch'öng." Darüber steht: „Mittel, 
um das Leben der Sterblichen zu verlängern." Rechts davon ist 
zu lesen: „Der Kaiser spendet Regen und Tau in Fülle, 6, und auf 
der Steinfläche links heißt es : „Die (reister erschlossen diese 
Wunderquelle." Auf einigen üedenksteinen, die in der Nähe herum- 
stehen, ist verewigt worden, wann der Brunnen restauriert wurde, 
ich fand Jahreszahlen aus der Mingdynastie ; ferner aus der Regier- 
ungszeit des Kaisers K'anghi und Kiatjing. Die letzte Restaurierung 
datierte aus dem fünften Jahre des Kaisers Kuangsiü. 

Im Süden Chinas kommt ein Wundertrank in den Verkauf, 
bekannt unter dem Namen Fungliosing. Nicht nur besitzt er die 
Kraft einer Medizin gegen alle Krankheiten, sondern man gebraucht 
ihn auch vorzüglich als Stärkungsmittel im Alter. Zu jeder Flasche 
wird ein eigener Zettel beigefügt als Gebrauchsanweisung und als 
Reklame. Es heißt auf demselben, daß die heilbringende Wirkung 
des Wunderelixiers, „das sich mit der Schnelligkeit eines Pferdes 
einen Weltruf erworben", sich vor allem in der erschließenden 
Kraft bewähre. Kin Schluck genüge, um bis in die äußersten 
Gewebe des Körpers zu dringen. Er teile sich dann den 360 
Knochen desselben mit, und alles, was sich darin an Krankheitsstoflen 
vorfinde, werde durch die 84000 Haarspitzen (die chinesische Ana- 
tomie zählt am menschlichen Körper 360 Knochen und 84000 Haare) 
getrieben und nicht minder durch die Nägel an Händen und Füßen. 

Im Süden Chinas, wo es noch Tiger gibt, gelten dieselben 
als ein vielbegehrtes Jagdobjekt, nicht so sehr ihres Felles halber, 
als hauptsächlich des Fleisches und der Knochen wegen. Diese 
werden nämlich mitsamt dem Fleische so lange gekocht, bis nur 
mehr eine gelatinöse Masse übrig bleibt. Einige Löffelchen davon 
genügen, um dem Bleichsüchtigen wieder die Wangen zu röten und 
dem Rekonvaleszenten vollends auf die Beine zu helfen. Die zer- 
kochten Eingeweide des Tigers aber gelten als ein ausgezeichnetes 
Stärkungsmittel für sieche Frauen, und selbst abgewelkte Matronen 
sollen davon ein junges Aussehen bekommen. 

Kin {Stärkungsmittel von hervorragender Wirkung liefert ferner 
Meister Petz durch seine (falle und Leber. Außerdem gelten die 
eben hervorgewachsenen Uehhörner (lu gung) und der Rehschwanz 
(lu mi) als eine viel gesuchte *nd teuer bezahlte Lebeusverlängerungs- 



— 81 — 

arznei. Dein Tiere werden bei lebendigem Leibe die zarten Geweihe 
abgeschlagen, desgleichen der Schwanz, hierauf schlachtet man es. 
Die zu Pulver geriebenen Geweihe bilden ein Kraftpulver; der 
Schwanz aber genügt, um sechs Portionen Kraftsuppen daraus zu 
kochen. Natürlich können sich nur sehr reiche Leute, die um 
jeden Preis noch etwas länger leben wollen, solchen Luxus erlauben, 
denn der Preis dieser Kraftmittel ist enorm teuer. 

Ein billigeres Kraftmittel bilden die Jangtse. Ein tragendes 
Schaf wird geschlachtet und das nur wenige Wochen alte Junge 
wird zu Pillen verarbeitet, die eine besondere heilsame Kraft ausüben 
und alte Leute noch älter machen sollen. Ein anderes Mittel, das 
noch billiger und einfacher ist, kann sich jeder selbst bereiten. Er 
braucht nur eine gute Portion Ameisen in ein Gefäß zu verschließen 
und einige Wochen lang in der Erde zu vergraben ; dieselben sind 
dann sogleich genußfertig. Zumal Kranken, die an Blutarmut oder 
Bleichsucht leiden, ist bequem damit geholfen. Das kleine Geschöpf 
soll besonders eisenhaltig sein; wer deshalb eine Portion verwester 
Ameisen verzehrt, „wird aufleben wie der Baum im Frühling, wenn 
neuer Saft durch die dürren Zweige strömt u . Bogenschützen und 
Athleten, denen es vor allein auf die Kraft der Arme ankommt, 
bedienen sich mit Vorliebe des Ameisentees. 

Für gewöhnlich ist der Chinese kein Liebhaber der Milch. Im 
Alter aber lernt er sie nicht selten wieder schätzen. Ist Kuh- oder 
Schafsmilch aufzutreiben, begnügt er sich damit; anderenfalls mieten 
sich auch wohl wunderliche Käuze gegen schweres Geld eine Amme, 
die hinter einem Gitter ihres Amtes waltet. 

In Paotingfu werden eiserne Handkugeln angefertigt, von der 
Größe einer Wallnuß, welche den Zweck haben, bei alten Leuten 
das Blut in reger Zirkulation zu halten. Nicht selten trifft man 
einen Graukopf an der Straße sitzen, der den ganzen lieben Tag 
keine andere Beschäftigung kennt, als in der Hand zwei solcher 
Kugeln herumrollen zu lassen. Die Finger sind dabei in fort- 
währender Bewegung ; eine der Kugeln ist hohl und verursacht ein 
eigentümliches Geräusch ; das ist die singende, die männliche (kung) ; 
die andere aber singt nicht und gilt als die weibliche (mu). 

Doch nicht nur Mittel, wie die Natur solche bietet und der 
denkende Geist sie ersonnen, bringt der Chinese in Anwendung. 
Zauberei und Zaubermittel sollen auch mithelfen, das schwache 
Lebensflämmchen zu stärken, und Freund Hein noch auf einige Jahre 
zu vertrösten. Wenn Medizin und Kraftmittel nicht mehr helfen 
wollen, nimmt man zu Lebensverlängerungs-Medaillen, -Ketten und 

B. Pieper, „Neue Bünder, 6 



— 82 — 

-Sapeken seine Zuflucht. Erstere werden an einer Schnur um den 
Hals getragen; kleinen Kindern näht man sie auf die Mütze. Die 
Kettchen gelten als Armbänder, werden auch wohl um einen Fuß 
geschlungen. Die Sapeken baumeln im Zopfe oder in den Franzen 
der Kleider. 

Armringe aus Jade, die den Toten mit ins Grab gegeben 
wurden, werden nach einigen hundert Jahren sehr geschätzt und 
teuer bezahlt, besonders wenn sich rote Adern hindurchziehen. Das 
soll die Lebenskraft und das Blut des Verstorbenen sein, und wer 
hinfüro solch einen Ring trägt, kann dadurch die Zahl seiner Lebens- 
jahre noch um ein Bedeutendes verlängern. 

Zu einem langen Leben berufen fühlt sich jeder, den die Natur 
mit schou-mei beschenkt hat, das sind die buschigen Augenwimpern. 
Die Altersstufe wird eingeteilt in die höchste, mittlere und niedrigste 
(schang, tschung, chia schou). Wer hundert Jahre lebt, hat die erste 
Stufe erreicht; ein Alter von 80 Jahren gilt als die mittlere; die 
niedrigste zählt nur 60 Jahre. Verhältnismäßig gibt es unter den 
Zopfträgern recht alte, und es fehlen auch jene nicht, die bereits 
die höchste Altersstufe erklommen. Fast jedes Dorf aber zählt 
einige alte Häupter (lao-t'ou), welche es über die 80 gebracht haben. 
Es ist schwer, sich mit ihnen in ein Gespräch einzulassen, denn 
fast alle haben taube Ohren. Im übrigen aber sind sie kregel und 
wohlgemut; auch die Geistesfrische gehört mit zum Alter der Chi- 
nesen. Sagt doch das Sprüchwort : yin lao, sin pu lao : der Mensch 
wird alt, das Herz aber bleibt jung. 

• ■ -Ju ecCO OOtm i i 

Die Prügelheilmethode. 

t^ftiest jemand die Überschrift, wird er selbstverständlich an 
£^ ein Heilverfahren auf dem moralischen Gebiete denken, 
V*!l wo die Prügel ja von alters her eine gute Medizin waren. 
fivSrürjS ® lG Prügelheilmethode aber, über die wir heute plaudern 
wollen, bezieht sich allen Ernstes auf die Krankheiten des Leibes, 
so zwar, daß unser Praktikus, Tschao ist sein Name, behauptet, 
er könne mit Prügeln ebensogut oder noch besser alle möglichen 
Krankheiten heilen, wie andere Doktoren solches mit Pillen und 
Arznei zu tun vorgeben. 

Indes ist es nicht allein der Stock, der in Anwendung kommt, 
sondern je nach Verschiedenheit des Leidens werden Tamarisken- 
ruten gebraucht, Lederriemen, Lineale und vor allem die Schuhsohlen. 



— 83 — 

Wir können die Anwendungen, wie sie unser Doktor vornimmt, in 
Oberprügel (Rückenprügel), Wadenprügel, Sohlenprügel u. s. w. ein- 
teilen. Nur das Hauptcontingent, das sonst zur Entgegennahme von 
Prügeln dient, bleibt verschont. Die Fußprügel sind besonders 
bei Krämpfen in Gebrauch und das Schlagen geschieht mit Schuh- 
sohlen. Zu bemerken ist, daß die chinesischen Schuhsohlen nicht 
von Leder gemacht sind, sondern von zusammengenähtem Papier 
und Tuch. Sind sie auch nicht wasserdicht, sind sie doch überaus 
hart und ungeschmeidig, und die Schläge damit dürften fest genug 
sitzen. 

Einst lief ein Kranker hinter Herrn Tschao her, laut heulend 
vor Schmerz; er hatte Seitenstechen und schon einige Pfund Medi- 
zin verschluckt, die ihm andere Arzte verschrieben, aber ohne 
Erfolg. Unser Prügeldoktor schien davon zu wissen, denn er nahm 
wenig Notiz von dem Kranken, der ihn verfolgte und nicht genug 
Worte finden konnte, des Doktors Können und Wissen in allerhand 
Lobsprüchen zu feiern. Endlich warf sich der Patient zu Boden und 
bat mit emporgehobenen Händen um Hülfe. Darauf schien Tschao 
gewartet zu haben; er nahte sich ihm und traktierte ihn mit einer 
Anzahl — Fußtritten. „Steh auf," sagte er dann, „jetzt bist du 
geheilt; willst du aber später gleich geheilt sein, dann suche nicht 
erst Kurpfuscher auf!" Kaum hatte sich der Kranke von seinem 
Schrecken erholt, waren auch die Schmerzen allsogleich verschwun- 
den, nur dort, wohin der erzürnte Doktor seine Fußtritte gerichtet 
hatte, schmerzte es ihn noch etliche Tage. 

Es würde zu weit führen des einzelnen das Heilverfahren des 
Herrn Tschao zu beleuchten und in welcher Weise für die verschie- 
denen Krankheitserscheinungen verschiedene Arten von Prügel in 
Anwendung gebracht werden. Hauptprinzip des Tschao ist: Der 
Schmerz muß mit Schmerz vertrieben werden ; schmerzt es irgend- 
wo, so muß anderswo ein anderer Schmerz hervorgerufen werden ; 
schon die Natur der Medizin weist auf dieses Gesetz hin, da fast jede 
wirklich wirkende Medizin bitter ist oder doch unangenehm schmeckt. 
Die Natur, zumal die Haut, muß zur neuen Tätigkeit angeregt 
werden; es kann das durch Hitze und Kälte geschehen, durch Rei- 
ben, Kneten und Stechen. Das erste und schnell erfolgreichste 
Mittel sind aber die Prügel. Handelt es sich um Krankheiten der 
inneren Organe, leiten die Nerven den Reiz von der Haut dorthin 
über und veranlassen sie zur neuen Tätigkeit. Übrigens kommt 
auch das Kneten, Reiben und Stechen bei dieser Heilmethode in 
Anwendung, aber nur in untergeordneter Weise. 

6* 



— 84 — 

Für Kranke, denen die Kur zu empfindlich ist und die sich 
auf keinen Fall prügeln oder stechen lassen wollen, hält Hr. Tschao 
Finessen in Bereitschaft. Er hat eine geheime Kammer, in der sie 
eine oder mehrere Nächte verbringen müssen, je nach der Schwere 
des Übels. In den Kammern wimmelt es von braunen Gesellen, 
die sich mit wahrem Ingrimm auf den neuen Gast werfen. Die 
Folge davon ist, daß die ganze Haut dermaßen gereizt wird, daß 
der Kranke gewöhnlich an einer "Nacht genug hat und gern bereit 
ist, die noch vorhandenen Krankheitsrückstände eventuell mit Prü- 
geln austreiben zu lassen. Außer dem Flohzimmer kommt noch 
eine Läusejacke in Anwendung; wer eine Nacht darin verbringen 
muß, ist am andern Morgen in der Kegel auch „geheilt". Besagtes 
Verfahren wird besonders empfohlen für Kinder, die an Blattern 
leiden, ohne daß diese hervorbrechen wollen. Die Insektenbisse 
sollen das Gift an die Oberhaut leiten, sodaß die Krankheit weiter 
nicht mehr gefährlich ist. 

Man glaube aber ja nicht, das Prügelheil verfahren des Tschao 
sei so ganz und gar neu, und Hr. Tschao sei ein wunderlicher 
Kauz oder gelte als Wunderdoktor. „Rückkehr zur unverfälschten 
Natur" gilt ihm als Hauptgrundsatz. Wie diese Rückkehr nun 
aber gerade in Anwendung solcher „feindlichen" Mittel bestehen 
soll, darüber spricht er sich nicht aus. Die Schuhsohle galt den 
Chinesen von jeher als Gesundheitserzeuger und mit ihr wird sowohl 
bei Menschen als Tieren kuriert. Diesen Sommer war unter dem 
Rindvieh liier eine Seuche ausgebrochen. Die Bauern sagten, es 
sei die „Ochsen-Malaria". In der Tat zeigten die davon befallenen 
Tiere ähnliche Symptome, wie sie bei Fieberkranken zu tage treten : 
Müdigkeit in den Beinen, das Gefühl von Kälte, Ausschlag in den 
Lippenwinkeln und auf der Zunge. Um dem Übel zu steuern, streute 
man den Tieren heiße Asche auf den Rücken; hierauf wurden 
dieselben mit Schuhsohlen tüchtig verarbeitet. Anfangs zeigte sich 
das Vieh störrisch; wenn dasselbe aber einige Zeit geprügelt war, 
schien es die wohltätigem Wirkungen der Kur zu verspüren und 
verhielt sich vollends ruhig. Und was die Hauptsache ist: alle 
Tiere, welche; dermaßen behandelt wurden, waren nach einigen 
Tagen wieder vollständig hergestellt. 

Übrigens so ganz außergewöhnlich scheint die Praxis unseres 
Doktors Tschao doch auch nicht zu sein. Blutsauger kamen und 
kommen daheim ja schon seit geraumer Zeit bei Kranken in Anwen- 
dung und es ist schließlich nur die Fragt?, welche Sauger die besten 
sind. Sich mit kleinen Ruten die Maut peitschen, um ihre Tätigkeit 



— 85 — 

zu wecken und zu erhöhen, tun jetzt noch die Philiponen (ein 
russischer Volksstamm), allerdings wohl nur in gesundem Zustande. 
Wer weiß, ob nicht auch bei uns daheim eines Tages ein neuer 
Doktor Eisenbart ersteht, der die Leute nach seiner Art kuriert, 
d. h. das Prügelheilverfahren der Chinesen in Anwendung bringt; 
es dürfte dann jedenfalls nicht an Leuten fehlen, denen die Haut 
juckt, d. h., die sich prügeln lassen wollen. 

Wunderbare Allopathie. 

kürzlich kam einer unserer Missionare, als er eben auf Reisen 
*3ITiV§£ war ' ^ er e ' non Kreuzweg. In der Mitte des Weges mach- 
Ilm/ii^kS ten 8 * c k e i n *g e Leute bei einem Topfe zu schaffen, unter 
üft^ftÄ dem Feuer brannte. Sobald sie des Missionars ansichtig 
wurden, stoben sie auseinander und suchten das Weite. Sie hatten 
es so eilig, daß sie gar nicht mehr Zeit genug fanden, ihren Topf 
in Sicherheit zu bringen und ihn ruhig inmitten des Weges stehen 
ließen. Wie der Missionar da in den offenen Topf schaut, sieht er 
Wasser darin brodeln und in dem Wasser schwimmt ein kleines 
Kerlchen aus Mehl geformt. Der begleitende Katechist konnte dem 
Missionar das Hexenkerlchen erklären, denn er hatte schon zuvor von 
dem Schwindel gehört. In dortiger Gegend war nämlich seit einigen 
Wochen eine unerklärliche Krankheit ausgebrochen, von der beson- 
ders die Frauen befallen wurden. Selbst in den größten Apotheken 
gab es keine Medikamente dagegen, und auch den Ärzten war die 
Krankheit ganz fremd und neu. „Offenbar war da der Teufel im Spiel." 

Und es konnte das wohl kein anderer Teufel sein, als der 
europäische; hatten die Jang-kui-tse sich in den letzten Jahren doch 
besonders bemerkbar gemacht. Da mußte gründlich aufgeräumt 
und der Teufel ganz exemplarisch bestraft werden. Wenn irgendwo 
eine Frau von der ungewöhnlichen Krankheit heimgesucht wurde, 
mußte ein Jang-kui-tse aus Mehl geformt werden — so hatten es 
die Ärzte und die Bonzen verordnet — und der europäische Teufel 
von Mehl wurde dann auf einem Kreuzwege in einem Topfe 
gekocht; glaubte man ihn gar, so wurde er an den Weg geworfen, 
damit ihn die Elstern und Krähen auffräßen. Sobald das gesche- 
hen, sei die Kranke geheilt. 

Ein derartiges Heilverfahren entspricht übrigens ganz der 
chinesischen Allopathie. Man kennt in China eine ganze Anzahl 



— 86 — 

„Verwandlungskrankheiten" (fen-tschöng), z. B. Hasenkrankheiten (t'u 
tse fon), Schafkrankheiten (jan fen), Rabenkrankheiten (lao-kua fen), 
Mäusekrankheiten (lao-schu fen) u. s. w. Das Charakteristische dieser 
Krankheiten besteht darin, daß der Betreffende, welcher davon 
befallen ist, das Eigentümliche von bestimmten Tieren annimmt, und 
er muß dann eben durch das geheilt werden, was das betreffende 
Tier fürchtet. Wer z. B. die Hasenkrankheit hat, muß Pillen und 
Pulver verschlucken, weil der Hase die Flinten und das Pulver 
fürchtet. Wer die Mäusekrankheit hat, wird dadurch geheilt, daß 
er Pillen gebraucht, die aus den Vordertatzen eines Katers hergestellt 
sind, angemacht mit ungebranntem Kalk. Katzen sind bekanntlich 
Feind der Mäuse, und in Kalkwänden gibt es keine Mauselöcher. 
Einer der an der Rabenkrankheit leidet, muß zwei jan-sche-tien 1 ) 
in die Nase stecken, und sogleich wird sich sein Zustand bessern. 
Ein chinesisches Buch (Tsche fen-tschöng fa) über die Verwandlungs- 
krankheiten zählt im ganzen 72 auf, deren Beschreibung ebenso 
wunderbar ist, als die Heilung derselben. — Die europäischen Teufel 
fürchten natürlich, gekocht und verspeist zu werden (das Schlimm- 
ste, das mau sich denken kann). Geschieht ihnen das nun en mi- 
niatur, auf einem Kreuzwege, dann wird's schon an die richtige 
Adresse gelangen und den Zweck nicht verfehlen. 

Vor einigen Tagen kam der Großvater unseres Christenvorste- 
hers zu mir geeilt mit der Bitte, ihm ein wenig Blut aus der Schwanz- 
spitze eines Schweines zu überlassen. „Blut, von einem lebenden 
Schweine, und das noch sogar aus der Spitze des Schwanzes . . . 
Wofür willst du das denn gebrauchen ?" fragte ich ihn. „Der einzige 
Sohn meines Sohnes liegt schwer darnieder an den Pocken," ant- 
wortete er, „der Arzt hat gesagt, nur dieses Mittel könne ihn noch 
retten ; es soll unfehlbar helfen. Alle Christen haben keine Schweine, 
deshalb bin ich zu dir gekommen, geistlicher Vater." — „Möget 
meinethalben dem Schweine etwas Blut abzapfen, zweifele aber, ob 
am äußersten Ende des Schwanzes viel Blut zu haben ist, und noch 
mehr zweifele ich an dem gewissen Erfolge." — „Ein paar Tropfen 
genügen," sagte der Mann, bedankte sich und ging. Am anderen 
Tage kam die Nachricht, der Kleine sei gestorben. „Vielleicht hat 
das Blut die Krankheit nicht heilen können, weil es von einem 
europäischen Schweine genommen war." Später gab mir ein Arzt 
die Erklärung des eigentümlichen Heilverfahrens. „Die Pocken," 



*) Jan-schä-tien ist weiter nichts als -- Schafsmist; ob die Raben den 
vielleicht fürchten ? 



— 87 — 

sagte er, „bestehen in der Verunreinigung des Blutes. Deshalb 
muß reines Blut von einem lebenden Tiere dagegen in Anwendung 
gebracht werden. Das Reinste am Schweine aber (das sonst zu 
den schmutzigen Tieren gehört) ist der Schwanz, denn es kringelt 
ihn immer in die Höhe." Diese Erklärung war weise, er durfte 
und ich mußte mit ihr zufrieden sein. 



Das Nationalgericht der Chinesen. 



k< 



^Al^j^Mitre keine Umstände machen", mahnt der Gast, wenn er 
^KfflE unverhofft bei einem Bekannten erscheint, und die sorg- 
SK3Bi 8 s rne Hausmutter sich beeilt, das Mittagsmahl herzurichten. 
Ä^WäSfe **' e Chinesen haben ein Gericht, das in der Übersetzung so 
viel heißt, als „das Gericht ohne Umstände", „die Bequemlichkeits- 
speise", Piensche genannt, welches aber zugleich als das National- 
gericht der Zopfträger gilt. 

Was dem Gaste vorsetzen ; wenigstens müssen doch vier Gerichte 
aufgetragen werden, wenn es einigermaßen etwas sein soll und man 
das Gesicht nicht vollends verlieren will. Aber da ist guter Rat 
teuer. Die Hühner haben das Eierlegen schon längst eingestellt. 
Fleisch — ja davon ist noch ein Schnitzel vorhanden, aber es ist 
Hasenfleisch, das man doch keinem Gaste anbieten darf, denn Hasen- 
fleisch gilt in China als die minderwertigste von allen Fleischsorten. 

Schnell Piensche gemacht, denkt die Hausmutter bei sich. Das 
älteste Mädchen muß eine Rübe zerhacken ; dann ein Viertel Weiß- 
kohl (Peitsä); endlich das Hasenfleisch. Das ganze wird mit Salz, 
Zwiebel und Pfeffer untermischt und zu einer Masse durcheinander- 
gemengt, die man Chientse nennt. Hierauf wird Weizenmehl zu 
einem Teige verarbeitet, woraus man Plättchen formt von der Größe 
eines Fünfmarkstückes. In diese Plättchen wird eine Priese Zer- 
hacktes gelegt, worauf man die äußeren Ränder zusammendrückt 
und die Piensche sind fertig. Im Topfe brodelt Wasser; darin 
müssen die Piensche zehn Minuten lang kochen, und der Gast kann 
sich dann dahinter setzen. Als Zugabe wird zerstoßener Knoblauch 
mit Essig und Sesamöl verabreicht, worin jede Piensche flüchtig 
getunkt wird, ehe sie ihren Weg zum Munde nimmt. 

Wird ein Gast mit Piensche bedient, so hat er wohl gespeist, 
denn die Piensche gelten als Inbegriff alles Guten. All das Gute 
freilich, das darin gewickelt ist, ist meistens nicht weit her. Aber 



— 88 — 

einem geschenkten Gaul schaut auch der Chinese nicht ins Maul, 
und er würde es als äußerst unhöflich betrachten, wenn der Gast 
untersuchen wollte, ob das Fleisch in den Piensche von einem 
verendeten Ochsen stammt oder von einem Hasen. Er gibt sich 
dem guten Glauben hin, daß etwas sehr gutes darin verborgen ist, 
und dann hilft Sympathie und Einbildung und vor allem der Hunger 
über jegliche Bedenken federleicht hinweg. Die berüchtigte Stadt 
Z'aufu steht sogar im Kufe, daß sie Piensche verkauft, in denen das 
Fleisch von Missetätern, die ihren Kopf verloren, verarbeitet ist. 
Was Wahres daran ist, vermag ich nicht zu sagen; Tatsache ist 
aber, daß man es für gewöhnlich vermeidet, in dortiger Gegend 
Piensche zu essen und sich nur eben dann dazu versteht, wenn 
nichts anderes zu haben ist. 

Den Ruhm einer Nationalspeise haben die Mehltüten haupt- 
sächlich daher, weil zu Neujahr jedermann im großen Chinesenreiche 
solche ißt, vom „ Sohne des Himmels u herab bis zum Bettler auf 
der Straße. Qualität und auch Quantität allerdings ist sehr verschie- 
den. Reiche benutzen als Zerhacktes die besten Fleischsorten, und 
die Umhüllung ist vom feinsten Weizenmehl. Der Arme begnügt 
sich mit Abfällen von Rübenblättern und sonstigen Gemüsen, und 
als Tüte gebraucht er schwarzes Sorghomehl. Zu Neujahr aber 
keine Piensche essen, ist überhaupt nicht denkbar; wer an diesem 
Tage sich selber keine bereiten kann, bekommt sie von guten Freun- 
den geschenkt. Selbst Hunde und Katzen speisen an diesem Feste 
Table d'hote, das heißt auch ihnen werden Piensche vorgesetzt. 

Neues Jahr soll neues Glück bringen, aber auch das Leben 
des Chinesen gleicht dem Lotteriespiel, der Treffer sind gar wenige. 
Die meisten hoffen bis zum Lebensabende auf das Glück und neh- 
men diese Hoffnung noch mit hinüber ins Grab. Zu Neujahr werden 
Käsch-Piensche gemacht, indem man statt des Zerhackten einen Käsch 
in die Mehltüte steckt. Das sind die vielbegehrten Glücks-Piensche» 
die Glück bedeuten im neuen Jahre und auch das Glück bringen sollen. 
Vielleicht, daß sich der Esser auf dem Käsch einen Zahn ausbeißt, falls 
er's eilig hat. Doch das nimmt er gerne mit in den Kauf, denn um 
glücklich zu sein, kann man schon einen Zahn weniger haben. 

Beim Essen der Neujahrspiensche in der Frühe sind noch 
besondere Regeln zu beobachten; jeder befleißigt sich dabei des 
Stillschweigens, wenigstens darf man nicht von jemanden reden, der 
abwesend ist, mag er Freund oder Feind sein. Denn während beim 
Essen der Name eines andern über die Lippen geht, verschwindet 
damit auch das eigene Glück und geht in den Besitz jenes über, 



— 89 — 

dessen Namen man genannt hat. In allen Küchengeräten müssen 
einige Piensehe liegen bleiben, auch darf man den Topf nicht leer 
essen, sonst gibt's im neuen Jahre lauter leere Töpfe und Schüsseln. 
Jedermann aber muß sich recht voll pfropfen, d. h. er muß so viel 
Piensehe vertilgen, als der Magen nur eben vertragen kann, dann 
wird er im neuen Jahre niemals Hunger leiden. Alten Leuten, 
Kranken und Genesenden wünscht man ein glückseliges neues Jahr, 
indem man sie fragt, ob sie ein halbes Dutzend Schüsseln voll 
Piensehe gegessen haben, was sie natürlich bejahen. 

So verschieden der Inhalt und die Umhüllung der Mehltüten 
ist, so mancherlei ist auch ihre Form. Gemäß dem Aussehen ist 
denn auch der Name verschieden. Die Neujahrspiensche sind ge- 
meiniglich sehr klein und haben die Form eines Halbmondes; 
größere, die nur auf den Straßen verkauft werden, heißen Paotse 
und sehen aus wie ein zugeschnürter Tabaksbeutel en miniatur; 
eine dritte Sorte endlich heißt Tjaotse ; auch diese werden meistens 
nur zum Verkaufe angeboten und haben den Vorzug, daß ihr Inhalt 
immer aus Fleisch besteht. Kommt ein nobeler Gast, zeigt die 
chinesische Hausfrau auch gern, was sie kann. Die Verbindungs- 
linien der Teigläppchen werden beim Zusammendrücken geschickt 
zu allerhand Zackenwerk verarbeitet, damit das Auge beim Essen 
durch das zierliche Äußere über den zweifelhaften Inhalt der Mehl- 
tüten hinweggetäuscht werde. 

In Peking verkauft man zur heißen Jahreszeit in den besseren 
Restaurants Eispiensche an Gourmands, die mit ihrem Gelde nicht 
zu bleiben wissen. Kleine Stückchen Eis werden in Teigläppchen 
gewickelt, für einen Augenblick in kochendes Wasser gelegt und 
dann dem Gaste sofort serviert. Zurichten, Kochen und Essen, alles 
das muß in fieberhafter Eile geschehen, damit das Eis nicht zer- 
schmilzt, bevor die Piensehe in den Mund des Essers gelangen. 

In Tsinanfu werden dem jungen Ehepaare am Hochzeitstage 
Piensehe vorgesetzt, die nur halb gar sind. Ungar heißt schöng 
und hat außerdem die Bedeutung von „geboren werden*. Will man 
nun den jungen Leuten ein Kompliment machen, so fragt man sie, 
ob sie tüchtig ungare Mehltüten gegessen, und sie antworten mit 
einem kräftigen „Ja", in der Hoffnung, daß dereinstens recht viele 
Nachkommen den Ruhm ihres Hauses weiterpflanzen. 

„Piensehe, die in einer Teekanne gekocht werden und dann nicht 
herauszubringen sind", bezeichnen einen Gelehrten, „der den Bauch 
voll Wissenschaft hat", sie aber nicht an den Mann zu bringen weiß. 



— 90 — 

Immer nobel. 

ßljß^uriüso Käuze gibt es auf der ganzen Welt und auch die 
' rlwkra Chinesen stellen ihr Kontingent dazu, wenn gleich sich die 
>isten am liebsten in den prosaischen Bahnen der Alltäg- 
ieit bewegen. Lebte da im Bezirke Naen- kung ein 
steinreicher Krösus Tschang-saen-la geheißen, welcher der Meinung 
war, er könne nie und nimmer mit seinem Reichtum an ein Ende 
kommen. Sein Vater freilich hatte dem Sohne beim Abschiede 
aus der Welt gesagt, er hinterlasse ihm unermeßliche Schätze, 
selbst wenn sich der Sohn täglich einen Silberschuh (ein Stück 
Silber cirka 50 Taels) gönnte, würde er beim Tode dennoch genug 
haben. Sollte er indes den Silbervorrat soweit verbraucht haben, 
daß er Haus und Hof anpacken müsse, dann möge er es allmählich 
verkaufen, ja nicht auf einmal. Der fürsorgliche Vater hatte näm- 
lich im Fundamente Töpfe mit Silber, vermauert, die einen Zehr- 
pfennig bilden sollten, wenn der Sohn anfange Not zu leiden. 

Also Tschang-saen-la kannte weiter keine Sorge, als daß er 
fürchtete, beim Tode noch etwas zu hinterlassen. Lieb Herz was 
verlangst du, frug er sich alltäglich und alle erdenklichen Genüsse 
suchte er sich zu verschaffen, dabei spendete er mit vollen Händen 
an alle Freunde und Bettler ; Feinde aber hatte er keine, denn wer 
hätte auch einem so noblen Herrn gram sein können. Wurde es 
ihm zu langweilig, dann fuhr er in die Stadt hinaus um Tüten 
von Schaffleisch (Jan you pao tze), zu genießen, denn die sagten 
seinem verwöhnten Gaumen ganz besonders zu. Er aß jedoch nur 
das Innere, die Mehlhülle warf er bei Seite. Das nimmt kein gutes 
Ende, meinte eines Tages sein Gastwirt. Ich will ihm die Umhül- 
lung der Klöße aufbewahren, vielleicht ißt er sie später gerne. 

Nachdem es Tschang-saen-la einige Jahre so getrieben, merkte 
er allmählich, daß sein Reichtum doch keineswegs unendlich sei. 
Aber er war einmal ein großer Mann geworden, der mit vollen 
Händen auswirft und sich alle Genüsse erlaubt; da war es schwer, 
sich noch Zügel anzulegen. Es ging deshalb mit dem Reichtum 
auch alle Tage mehr abwärts. Nach einigen Tagen war er so weit, 
daß er mit dem Baarbestande im Reinen war; jetzt hieß es Haus 
und Hof verkaufen. Noch erinnerte er sich der Mahnung seines 
Vater», doch ja die Gebäude auf Abbruch zu vergeben, aber das 
schien dem Sohne doch höchst langweilig und unnötig. Er verkaufte 
alles in Bausch und Bogen; Abbrechen möge tun, wer Lust dazu 
habe. Das vergrabene Silber fiel deshalb in anderer Leute Hände. 



— 91 — 

Nach wenigen Jahren war auch der Erlös für Haus und Hof 
verpraßt, und da hieß es denn Mangel leiden. Ja es kam so weit, 
daß Tschang-saen-la nach dem Bettelstab greifen und sich unter 
die Armen mischen mußte, denen er einstens mit vollen Händen 
Geld zugeworfen hatte. Auch seinen Wirt, der ihm früher die 
saftigen Schaffleischklöße vorgesetzt hatte, suchte er bisweilen auf. 
Dieser bewirtete ihn nunmehr mit den Mehlhülsen, welche Tschang- 
saen-la in den Tagen des Überflusses bei Seite geworfen hatte. 
Die Dinger waren freilich ganz trocken und mußten zuvor in Wasser 
gekocht werden. Tschang-saen-la konnte den Brei nicht genug 
loben, so feine Kost wurde ihm sonst nirgendwo vorgesetzt. Weißt 
du, frug ihn eines Tages sein Wirt, was das für ein Brei ist, 
der dir so mundet ? Das sind die Mehlhülsen, die du ehedem zu essen 
verschmäht hast. Heute habe ich dir den letzten Rest gegeben. 

Es dauerte jedoch nicht lange, da hatte Tschang-saen-la auch 
das Betteln satt. Noch besaß er einen Daumenring, das letzte 
Erbstück seines Vaters. Heute brachte er ihn zum Trödler, der 
ihm 800 Käsch dafür auszahlte. Noch einmal suchte nun Tschang- 
saen-la seinen Wirt auf, legte 400 Käsch auf den Tisch und 
bestellte Schaffleischklöße. 400 Käsch war Geld genug um sich 
einmal satt zu essen, das war auch der zweitletzte Wunsch unseres 
Sonderlings. Auch diesmal warf er die Mehlhülsen verächtlich bei 
Seite in Erinnerung an die flotten Tage von ehemals. Als er satt 
gegessen, suchte er seine Bettelgenossen auf und versprach dem- 
jenigen 400 Käsch zu geben, der ihn auf seinen Schultern dnrch 
die Straßen zur Pagode der Stadtgötzen trage. Das wollte natürlich 
jedermann gerne tun und im Augenblick saß er auf den Schultern 
eines stämmigen Bettlers. Triumphierend schaute er von oben her- 
unter und jedem der ihm begegnete rief er zu: Kennt ihr noch 
den Tschang-saen-la ! Im Leben war er größer als alle (yin schang 
yin) und jetzt wo er in den Tod geht, ist er es auch noch. — Als 
man bei der Pagode angelangt war, wurde er abgesetzt, und der 
Träger bekam seine 400 Käsch ausbezahlt. 

Tschang-saen-la aber nahm seinen Leibgürtel, legte ihn um 
seinen Hals und erhängte sich an einem Balken, neben dem Bilde 
des Götzen. Um einen Kopf höher als die gewöhnlichen Sterblichen 
hatte er gelebt, um einen Kopf höher war er in den Tod gegangen, 
um einen Kopf höher hing er noch im Tode. Tschang-saen-la ist 
aber wegen seines Hausverkaufs sprichwörtlich geworden: Wenn 
Tschang-saen-la Haus und Hof verkauft, dann tut er's in Bausch 
und Bogen. Und sein Name gilt für alle, die es ihm gleich tun. 



— 92 — 

Chinesischer Gernegroß. 

•At||l!eder Chinese möchte es um alles in der Welt gern zu etwas 
T^vll b rm £ en - Wenigstens einmal möchte er glänzen, wenn auch 
wfw nur für ein paar Stunden; einmal möchte er als „großer Mann" 
al'ÄlÄi auftreten, wenn er auch am anderen Tage wieder zum Bettel- 
stabe greifen soll ; einmal möchte er bankettieren und vornehm tun, 
gern will er dafür jahrelang fasten. Solchen Herzenswünschen der 
bezopften Welt trägt denn auch die einheimische Sitte vielfach 
Rechnung. Gilt es z. B. die junge Frau heimzuführen, so geschieht 
es unter Sang und Klang, und das glückliche Paar sitzt, wenn nur 
eben möglich, in einer Sänfte. Dem Hochzeitszuge hat jeder aus 
dem Wege zu gehen ; der Bräutigam aber schaut ganz gebieterisch 
in die Welt und macht sich breit in der Sänfte, als ob sie ihm 
gehöre. Er sucht die Freude ganz auszukosten: es ist ja nur 
einmal im Leben. Das Gefühl, einmal im Leben den Ceremonienhut 
und die lange Toga zu tragen, einmal als „großer Mann" durch die 
Straßen geschaukelt zu werden, einmal gegessen zu haben wie ein 
Mandarin und von der Menge begafft zu werden wie ein Olgötz: 
das ist reichliches Entgelt für vieler Jahre Mühe und Last und 
bringt Trost fürs ganze Leben. 

Mancher Zopfträger ist indes mit einer eintägigen Größe nicht 
zufrieden, besonders wenn er einen recht langen Zopf hat (wie ihn 
die Stutzer zu tragen pflegen): er möchte recht oft als Mandarin 
auftreten und den Großen spielen. Welch kindliche Einfälle da 
bisweilen erfunden werden, kommt uns lächerlich vor. Nur ein 
Beispiel aus dem Leben. 

Es wohnten zwei Brüder in einem Hause. Der eine war 
Schreiber im Mandarinate und hatte einen netten Anzug; der andere 
aber war ein armer Schlucker und besaß kaum die nötigsten Lumpen. 
Geschah es nun, daß der ] Bruder Schreiber den einen oder anderen 
Tag krank war, kannte der Bruder „Lump" kein seligeres Vergnü- 
gen, als sich in dessen „ Staat u zu werfen und dann den ganzen 
Tag damit auf der Straße herumzustolzieren. War das Wohlbefinden 
des Rockbesitzers aber gar zu andauernd, dann benutzte der junge 
Geck nicht selten die Nachtstunden, um die Kleider des Bruders 
anzulegen und spazierte damit so lange um das Haus, bis er sich 
„satt" getragen. 

Zwei andere Brüder kauften sicli ein Paar Stiefel zum gemein- 
schaftlichen Gebrauch. Der eine war ein flinker Bursche und wurde 
öfter herangezogen, um Gasten bei der Mahlzeit zu dienen. Dann 



— 93 — 

mußte er natürlich auch seine Stiefel anlegen. Auf diese Weise 
kam der andere Bruder nur sehr selten in die glückliche Lage, die 
Stiefel an seinen Füßen glänzen zu sehen. Einmal aber war der 
Bruder Kellner gar einen ganzen Monat draußen gewesen und hatte 
bei Mahlzeiten aufgewartet. „Jetzt werde ich mich aber sofort 
rächen", dachte der andere Bruder, als jener nach Hause kam. 
Noch am Abende zog er die lang vermißten Stiefel an und lief 
damit im Felde herum. Es hatte aber gerade geregnet, und die 
armen Stiefel wurden im Wasser und Schlamm jämmerlich zuge- 
richtet. Am anderen Tage stellte sich heraus, daß sie völlig zerrissen 
und unbrauchbar geworden. „Kaufen wir uns ein anderes Paar 
Stiefel", mahnte der ältere Bruder. „Ich tue nicht mehr mit", 
antwortete aber der jüngere „du ziehst die Stiefel den ganzen Tag 
an; stecke ich aber während der Nacht meine Füße hinein, dann 
sieht mich doch niemand, und zudem komme ich noch um den 
Schlaf. Habe ich Geld genug, kaufe ich mir selber Stiefel, mach 
du es ebenso." 

Auch belieben die langbezopften Stutzer (Vergl. IL 178) sich 
den Anschein zu geben, als ob sie alle Tage weiß Gott was für 
herrliche Sachen äßen, während sie oft in Wirklichkeit zu Hause 
kaum eine Kruste Brot zu beißen haben. Hinter der Türe hat 
mancher eine Speckschwarte hängen, und bevor er hinausgeht, reibt 
er sich damit einige Male um den Mund, daß er ganz glänzend 
und fettig aussieht „Der hat aber gut gespeist", denkt dann jeder, 
der des feinen Herrn ansichtig wird, „sein Mund glänzt ja wie ein 
gesottener Aal." Und doch hat der arme Pinsel vielleicht noch 
einen leeren Magen, aber das „Lob" tut ihm wohler, als die beste 
Mahlzeit. Kann er ungesehen Knochen oder Eierschalen zusammen- 
lesen, dann tut er es sicher; diese Dinge müssen vor seiner Haus- 
türe paradieren, damit jedermann glaubt, wie der Herr da drinnen 
so herrliche Mahlzeiten hält. 

Beim Anzüge kommt es vor allem auf den äußeren an. Manchem 
fehlt Hemd und Hose, aber was tut es, wenn er nur einen langen 
Rock hat und Beinkleider (tchVk'u). Fellkleider sind teuer; die 
kleinen Gernegroß haben aber in der Regel wenig Geld in der 
Tasche, um sich solche anzuschaffen. Da wird denn der Rock mit 
einer Handbreit Fell verbrämt, dort aber, wo das Fell den Körper 
warm halten sollte, fehlt es, was aber mfi-'ht das: der Ruf bleibt 
gewahrt, und das ist die Hauptsache. 

Jemand schickte einstens seinen Diener zum Schneidermeister, 
einen neuen Anzug zu holen. Der Junge blieb über einen halben 



— 94 — 

Tag aus, und schon glaubte der Prinzipal, er sei mit dem Anzüge 
durchgebrannt. Doch endlich gegen Abend erschien der Bursche. 
Aber was konnte der Arme dafür, daß er nicht früher zurück- 
gekehrt: „Der Schneider hatte die Hose ja erst halb fertig und 
darauf mußte er warten. " Als der Herr am anderen Tage die neuen 
Kleider anlegte, begriff er nicht, was an seinem Halse doch eigent- 
lich herumkrabbelle. Zu seinem „Entsetzen* gewahrte er dann, 
daß sich Kleinvieh bei ihm eingenistet habe. Sofort wollte er den 
Anzug dem „ekeligen" Schneider zurückschicken, da gewahrte er 
in der Rocktasche einen abgerauchten Cigarrenstumpf ; und die Hose 
wollte ihm gar nicht mehr neu scheinen, ja es war richtiger Straßen- 
dreck, der sich daran festgesetzt hatte. Der Mann stand vor einem 
Rätsel; sein „getreuer" Diener hätte es ihm lösen und Auskunft 
geben können, woher das Kleinvieh gekommen und der Straßen- 
dreck. Er war nämlich einen halben Tag mit dem Anzüge herum- 
stolziert und hatte ein halbes Dutzend Teehäuser besucht und bei 
ebenso vielen Verwandten vorgesprochen, damit sie doch alle „seinen" 
funkelnagelneuen Anzug bewundern könnten. 

Wird der Chinese beauftragt, ein Pferd fortzuführen, so nimmt 
er ganz gewiß einen weiten Umweg, ehe er an sein Ziel kommt, und 
wenn es ihm eben möglich ist, besucht er zuvor mit „seinem Rappen" 
eine Anzahl Freunde, damit doch alle erfahren, wie weit er es schon 
in seiner Karriere gebracht hat und nicht mehr gleich einem gewöhn- 
lichen Sterblichen auf Schusters Rappen einherzugehen braucht. 



Ratten und Mäuse. 

Jie ich soeben ein wenig in der Wochenausgabe der Köln. 
jj*j Volkszeitung lese, stoße ich auf den Aufsatz Df über 
die Ratten. Noch habe ich ihn nicht zu Ende gebracht, 
E^5Ä$*¥!?3 kommt ein kleiner Knirps ins Zimmer herein und hält 
einen Faden in der Hand, an dein eine gewaltig große Ratte bau- 
melt. Das Tier, mit einem Hinterbeine festgebunden, ist noch 
geschmeidig genug, sich mit dem Kopfe nach oben zu richten und 
macht immer neue Versuche, seine Fessel zu durchbeißen. Der 
Kleine gibt dann dem Faden einen Ruck; denn wenn ihm die Ratte 
davon läuft, ist er um seine zehn Sapeken. So teuer kaufe ich schon 
seit Jahren unsern Waisenkindern die Ratten ab, d. h. die fetten. 
Für kleinere Tiere oder für Mäuse zahle ich nur die Hälfte. Mancher 




— 95 — 

Junge ist deshalb ein gewichster Rattenfänger, und er hat sich schon 
einige hundert Sapeken aufgespart, die er sorgsam zusammenhält. 
Andere betreiben das Geschäft nur zeitweilig, so daß es sich der 
Mühe nicht lohnt, das Geld zusammen zu halten. Es wird dann 
meistens umgesetzt in Erdnüsse, spanischen Pfeffer oder sonstige 
Sapekenwaren, die die Kleinen verspeisen. Ein armer Kleinhändler 
hält sich jahrein jahraus an der Residenzpforte auf und macht 
„Geschäfte". Durch das Rattenfangen ist den Kindern Gelegenheit 
geboten, sich einige Sapeken zu verdienen ; der arme Kleinhändler 
hat dann auch etwas Profit davon. 

Nun wird der freundliche Leser aber zwei Prägen auf einmal 
stellen. Erstens woher denn so viele Ratten in die Residenz kommen, 
ob die denn niemals ausgefangen werden; und zweitens, was ich 
mit den Tieren denn eigentlich anfange. Die wird der Missionar 
natürlich verspeisen, denkt vielleicht mancher. Haben doch die 
chinesischen Ratten so etwas wie Weltruf; jedermann weiß ja, daß 
die Langschwänze in China ein gesuchter Leckerbissen sind. Und 
in dem Rattenaufsatze Df ist dem löblichen Rattengeschlechte die 
Ehre vorenthalten, den Leser an diese Tatsache zu erinnern — der 
Missionar wird sicher das Versäumte nachholen wollen. Der Gedanke 
liegt nahe, aber diesmal stimmt er nicht. Unsere Schantungchine- 
sen verspeisen die Ratten ebenso wenig wie die Bauern daheim, 
es sei denn, die Not dränge sie dazu. Möglich, daß die Zopfträger 
im südlichen China es tun; hierzulande aber bilden Ratten und 
Mäuse das Hauptgericht für die Tafel des vierbeinigen Katers. Ich 
halte deren drei ; diese verspeisen denn auch meistens die gefangenen 
Ratten und Mäuse und auf meinen Lockruf erscheinen sie zur Stelle. 
Die Kinder fangen das Ungeziefer in Räumlichkeiten, wohin die 
Katzen keinen Zutritt haben. Die chinesischen Katzen aber können 
allzumal „als Ausbund eines schönen Katers" gelten; keine macht 
sich bange vor einer pfundschweren Ratte, und das Fleisch der- 
selben wird immer mit dem nämlichen Appetit verzehrt. Katzen, 
die noch nicht ausgewachsen sind, können an einem Tage mit 
Leichtigkeit ein Dutzend nicht allzugroßer Ratten vertilgen; ich 
habe dasselbe oft genug beobachten können. 

Also unsere Jungen teilen mit den Katzen das Geschäft des 
Ratten- und Mäusefangens und werden dafür bezahlt, hauptsächlich 
deshalb, weil sonst eine wahre Rattenplage entstehen würde und die 
Tiere geradezu überhand nähmen. Die Mauern der Residenz, besonders 
die Umfassungsmauern, sind größtenteils noch aus gestampfter Erde 
oder Luftziegeln. Darin haust denn das Ungeziefer nach Belieben ; die 



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Mauern werden unterminiert, durchlöchert und schließlich derart 
ruiniert, daß die äußere Backsteinbekleidung abfällt. Für die Kinder 
aber ist der Rattenfang die einzige „erträgliche" Beschäftigung; die 
paar Mark, die ich jährlich dafür zahle, wiegen die Hunderte von 
Marken an Schaden, den die Tiere sonst verursachen würden, bei 
weitem auf. 

Das Fangen geschieht in sehr primitiver Weise; zwei ausge- 
höhlte Backsteine, drei Hölzchen und ein Faden bilden den ganzen 
Mechanismus. Jeder Junge bereitet sich selbst die Falle; manche 
haben deren mehrere. Das gefangene Tier läßt man in den Ärmel 
laufen, darauf wird ihm ein Faden an das Bein gebunden. 

Ratten und Chinesen passen recht wohl zusammen ; sicherlich 
haben beide schon seit undenklichen Zeiten miteinander Bekannt- 
schaft gemacht. Im Wörterbuche des Kaisers K'anghi befinden sich 
94 Charaktere, die in Zusammensetzung mit dem Wurzelzeichen 
Maus (Ratte) ein anderes „mausverwandtes" Tier darstellen, oder 
die uns Ratten und Mäuse in allen nur denkbaren Formen und 
Eigenschaften vorführen. Als maus verwandtes Tier gilt zunächst die 
„Mausmadam" (schu-fu), zu Deutsch Kellerwurm oder Assel geheißen. 
Ferner die v Silbermaus u (jin-schu), womit man das Hermelin 
bezeichnet. Als „fliegende Maus" (fei-schu) wird die Fledermaus 
gekennzeichnet. Das Eichhörnchen versetzt der Chinese nicht auf 
die Eiche, sondern auf die Fichte, und nennt es dementsprechend 
„Fichtenmaus" (sung-schu), der manierliche Hamster wird „Anstands- 
ratte" tituliert, das Wisel hingegen muß mit der Bezeichnung 
„gelber Mauswolf" (huang-schu-lang) vorlieb nehmen. 

Die Chinesen machen für gewöhnlich keinen Unterschied zwi- 
schen Ratten und Mäusen. Das Wurzelwort „schu" allerdings 
bedeutet zunächst Maus ; die Ratte bezeichnet man als die Lauschu, 
die alte Maus; unter dem Namen einer kleinen Ratte hingegen 
(sio-lau-schu) wird eine Maus verstanden. 1 ) 



*) Die Paradoxa solchen Sprachgebrauches fühlen die Chinesen auch her- 
aus. In China werden die Dichter nicht geboren, sondern gemacht. Der Dichter- 
le lirer gibt «einen Zöglingen die erste Reimzeile, zu der sie dann eine zweite 
entsprechende schmieden müssen. „Eine kleine große Maus geht spazieren, 44 hieß 
einstmals die erste sinnvolle Verszeile. Niemand konnte dazu eine zweite machen. 
Verschmitzt lächelt endlich ein kleiner "Witzig. Doch ehe er seine Weisheit her- 
auskramt, bedingt er sich vom Lehrer aus, ihn nicht verhauen zu wollen. Nach- 
dem solches Versprechen gegeben, schreibt er unter die obere Zeile: „Ein großer 
Zwerg kann nicht deklamieren. 44 Zwerg war nämlich der Name des großge- 
wachsenen Poeten magisters. 



— 97 — 

In den chinesischen Klassikern (sü-schu) wird weder der Ratten 
noch der Mäuse Erwähnung getan. In dem Buche der Lieder 
(sche-tjing) aber spaziert einmal das zierliche Mäuslein vorbei als 
Bild des Anstandes : 

Nun sieh, die Maus hat Haut und Haar, 
Und Menschen gibt's des Anstands bar? 
Wenn'e Menschen gibt des Anstands bar, 
"Warum nur sterben die nicht gar? 

Das andere Mal wird uns die „große Ratte* vorgeführt als 
Präsentant des gefräßigen Mandarinen. Um seinen Prellereien zu 
entgehen, hat man sich entschlossen, den Wanderstab zu ergreifen 
und will anderswo gastlichere Gegenden aufsuchen. 

In China gibt es keine „ Kirchenmäuse ", aber man spricht von 
„Altarmäusen" und versteht darunter schlechte Menschen. Aber 
trotz seiner Schlechtigkeit katzenbuckelt eiern solchen die ganze 
Welt, denn er ist in Amt und Würden (Altar), und man fürchtet ihn. 
Der Grundsatz: Einen Stein zwischen die Mäuse werfen und damit 
die Tassen zertrümmern, soll zur Vorsicht mahnen im Verkehr mit 
hochgestellten Persönlichkeiten. Wer's mit ihnen verdirbt, kommt 
gewöhnlich vom Regen in die Traufe. Man lasse deshalb ruhig 
die Mäuse zwischen den Tassen Spielen, denn es ist zu gewagt^ 
dorthin einen Stein zu werfen. 

Wenn die Katzen weinen, heucheln die Mäuse falsches Mitleid, 
sagt ein chinesisches Sprichwort. Derartiges Mäusemitleid gibt es 
übrigens nicht nur in China, sondern anderswo auch. Ist jemand 
aller Mittel und Hülfe bar, so nennt man ihn verfaulte Maus (fu-schu). 
Diese wird sogar von den Katzen verschmäht; mit einem Armen 
aber will niemand zu tun haben. 

Über Feldmäuseplage braucht der chinesische Bauer nicht sonder- 
lich zu klagen. Wohl gibt es eine Art Feldmäuse (wan-ts'ang), „Scheu- 
nenschlepper" genannt die den europäischen sehr ähnlich sieht. Dem 
Tierlein wird größte Ordnungsliebe nachgerühmt. Es soll in seiner 
Erdbehausung alles sehr praktisch eingerichtet haben und sogar die 
verschiedenen Getreidearten in besonderen Fächern aufgespeichert 
halten. Ein Mensch, der überall etwas mitzunehmen sucht und seinen 
Krimskrams geizig zusammenhält, wird auch „Scheunenschlcpper" 
genannt, ähnlich wie man daheim von einem „ Hamster u spricht. 

Großen Schaden können wenige Ratten anrichten, wenn es 
ihnen gelingt, zwischen die Seidenwürmer zu kommen. Haben 
sich die Räuber satt gefressen, dann geht es ans Todbeißen und 
Fortschleppen, und am frühen Morgen kann die Hausmutter ihre 

R. Pieper, „Neue Bündel". 7 



— 98 - 

zerstörten Hoffnungen beweinen. Auch unter jungen Küken, die keine 
Henne bewacht, richten die Kutten nicht sehen arge Verwüstung an. 

Die chinesische Zoologie weil} zu berichten, daß sich eine 
Maus zur Fledermaus metainorphosiert, wenn sie zu viel Salz gefres- 
sen. Eine Art schneeweißer Silbermäuse mit roten Augen wird als 
Spielzeug geschätzt. Man bereitet ihnen Kasten, in denen oft meh- 
rere Familien zusammen hausen. An den Kasten sind Drahtrollen 
angebracht, in denen sich die purzeligen Tierchen ähnlich wie unsere 
Eichhornchen gegenseitig die Langeweile vertreiben und nicht minder 
dem glücklichen Besitzer, der in sinniger Betrachtung oft stunden- 
lang davor steht. Der Geruch solcher Mäusekasten ist aber für 
eine zivilisierte Nase unausstehlich. 

Selbstverständlich stecken unter der Ratten- oder Mäusehaut 
allerhand gute Eigenschaften, die in der chinesischen Apotheke Ver- 
wertung finden. So z. B. soll ein Tröpfchen Kattennicrenfett jeden 
Stocktauben wieder hörend machen, Die Schwierigkeit besteht nur 
darin, solches Fett zu bekommen, denn der Schrecken macht die 
Rattennieren verschwinden. Beim Fangen aber wird jedes Tier bange 
und darob seine Nieren einbüßen. 

Hua, hua, hua! rufe ich durchs Fensler, und drei Katzen lau- 
fen herbei, zwei gelbe und eine graue. Sie balgen sich um die 
Ratte; der Knirps erhält seine zehn Sapeken ausgezahlt; er hätte 
heute eigentlich mehr verdient. 



Eine eigentümliche Geschichte. 

;wei Blinden wollten ihr Los etwas erträglicher machen. 
^* Deshalb taten sie sich zusammen, der eine wollte den andern 
führen. Eines Tages nun, da sie ihres Weges fürbaß zie- 
Jf iJSft^ hen, stolperte der eine über einen Korb voll Reisig, der neben 
dem Wege stand. Er geriet darob arg in Zorn, nahm den Korb und 
trat ihn entzwei. Der Reisigsammler beiseits hielt sich ruhig, dachte 
aber still in sich : Wartet nur mal, ich werde euch schon eins antun. In 
angemessener Entfernung folgte er ihnen nach, ohne daß die beiden 
etwas gemerkt hatten. Nachdem sie noch eine Strecke Weges 
gegangen, setzten sie sich unter einem Baume nieder. „Großer 
Bruder *, hub A an, „ich habe in der Flasche noch ein wenig 
Schnaps, trinken wir uns eins, mir ist so elend im Magen. u — 
„Bruder", erwiderte der andere, „gerade das ist auch mein Fall, tun 



— 99 — 

wir das." — Sie nahmen also ihren Ranzen zur Hand, holten die 
Flasche und ein kleines Schnapstäßchen heraus (die Chinesen haben 
keine Schnapsgläser, sondern kleine Täßchen aus Porzellan, so groß 
wie eine Nußschale) und A schüttete ein. — „Trink du zuerst, 
großer Bruder*, hub er zu B an und reichte ihm das Täßchen mit 
Schnaps gefüllt dar. Aber unser Reisigsammler hatte sich stille 
herbeigeschlichen und ehe B die Schnapstasse empfing, hatte er sie 
schon ausgetrunken und reichte sie dann dem B leer dar. — „Aber 
da ist ja nichts drin", sagte B zu A, „willst du Schabernak mit 
mir 8{)i<ßlen?" — „Natürlich ist was darin, hab' sie doch angefüllt, 
du hast es wohl verschüttet; doch ich macBe dir noch eine voll." 
— Aber auch die zweite trank unser Reisigsammler und ebenso 
die dritte. — Der eine Blinde glaubte natürlich, der andere reiche 
ihm immer eine leere Tasse hin und geriet in nicht geringen Zorn. 
Von Worten kam es zu Schlägen, und beide bläuten sich nach 
Noten durch, wie sie sich eben treffen konnten. 

Unser Reisigsammler trug eine lange Stange bei sich, an die er 
seinen Korb zu hängen pflegte. Er machte also ein Geräusch damit, 
ähnlich wie es die Tragstangen an der Sänfte eines Mandarins machen. 
Er selbst aber suchte die Stimme des Mandarins und seine Tonart 
nachzuahmen und rief dann: „Was treibt ihr beiden da; wie, vor 
eurem Landesvater bewahrt ihr so wenig Anstand?" — Die beiden 
Blinden glaubten natürlich nicht anders, als es zöge der Mandarin 
seines Weges daher, und waren in heilloser Angst. Der verlarvte 
Mandarin fuhr fort: „Was seid ihr für schlechte Leute, euch in 
meiner Gegenwart zu schlagen; schade nur, daß ich meine Büttel 
nicht mitgenommen, sonst sollte es euch schlecht gehen. Doch muß 
ich euch wenigstens einen kleinen Denkzettel mitgeben für später. 
Du knie dich hin: kudung kudung, kala kala, regneten dann die 
Schläge auf des einen Blinden Rücken. Als der genug hatte, mußte 
der andere niederknieen, und er bekam es ebenso. Zouba!= „Auf- 
gebrochen!" rief dann der Mandarin und machte ein Geräusch, als ob 
er weiter zöge, und es herrschte wieder Ruhe über allen Wipfeln. 

„Was waren das doch für Schläge?" hub A zu B an, „ich 
hatte das Gefühl, als ob sie mit einer Tragstange gegeben wür- 
den." — „Auch mir kam es so vor", erwiderte B. — „Das war 
doch eine eigentümliche Geschichte. Aber wir wollen uns später 
besser aufführen und gute Freunde bleiben." — „Ja, das wollen 
wir." — Ob sie's geblieben sind, weiß ich nicht. — 




<<y*ri 



— 100 — 
Die Stiefmutter in China. 

oti nian, uoti tsin nian: „Meine Mutter, meine liebste 
utter!* Wer ist es denn, der so ruft und winselt, hun- 
dertmal in einer Stunde? Ein alter Granbart, dem der 
®i&'i£w\S Tod an der Kehle sitzt und der jetzt in seiner Sot die 
Mutter zur Hülfe ruft, die schon seit einem halben Jahrhundert 
gestorben ist. 

Und so machen es alle Chinesen. Die Mutter vergessen sie 
nie; die Liebe zu ihr ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. 
Das ist wohl ein Grund mit, daß die Muttergottes unseren chinesi- 
schen Christen besonders sympathisch ist, und daß sie diesselbe so 
gern anrufen, besonders in Leiden und Krankheiten. 

Aber setzen wir vor das Kosewort nian ein hau oder ein uen 
— dann wird aus der Mutter eine Karikatur „mit rotgelben Haaren 
und rabenschwarzem Gesicht, die von Jugend auf niemals Gutes im 
Sinne gehabt hat* — das Porträt einer Stiefmutter nach Ansicht 
der Chinesen« Hou heißt nämlich „nach* und uen „später*, bedeutet 
also eine Mutter, die nach der eigentlichen kommt, und deshalb 
nur eine stellvertretende ist. 

„Der Reiche kauft keinen alten Maulesel, ein Mann von 
Charakter nimmt keine zweite Frau.* So sagt ein chinesisches 
Sprichwort, und damit ist den Stiefmüttern von vornherein kein 
guten Zeugnis ausgestellt. Lieber soll der Witwer seine Kinder bei 
Verwandten unterbringen oder sie auf den Bettel schicken, als ihnen 
eine zweite Mutter verschaffen, die kein Herz für sie hat. Ster- 
bende Frauen lassen sich denn nicht selten von ihren Männern 
das Versprechen geben, nie mehr zu heiraten. Die Frau ihrerseits 
gelobt dem Manne nach dem Tode im Schattenreiche ihm ein 
„guter Teufel* (kui) sein zu wollen, wie sie bei Lebzeiten seine 
getreue Hälfte (böl) war. Doch wird es mit solchen Versprechen 
selten ernst genommen, und eines guten Tages müssen die Sander der 
neuen Mutter ihren Kout'ou machen, d. h. ihre Verehrung bezeu- 
gen. Manche wollen sich nur ungern dazu verstehen und suchen 
lieber die Fremde auf, um sich auf eigene Faust durchzuschlagen. 

In der chinesischen Literatur ist das Bild der Stiefmutter nicht 
minder abschreckend gezeichnet. Schon ganz im Anfange der Ge- 
schichte des Landes begegnet uns eine solche, die zweite Mutter 
des berühmten Kaisers Schuin, welcher in seiner Jugend unsäglich 
viel von ihr zu erdulden hatte, da sein Vater vollständig unter 
ihrem Einflüsse stand. 



— 101 — 

Einen seiner Schüler hat Konfuzius, der chinesische Religions- 
stifter Konfutse, in den klassischen Büchern verewigt und ihn als 
Beispiel kindlicher Frömmigkeit hingestellt : „Welch ein guter Sohn 
war doch der Mintsetjen! Die ganze Welt ist begeistert in seinem 
Lobe." Und wodurch hatte sich der Schüler des „heiligen Mannes" 
dieses Lob verdient? Durch die Liebe und Hochachtung, die er 
seiner bösen Stiefmutter gegenüber bewahrte. Der Vater des Min 
war ein Beamter im Reiche. Als er schon ziemlich bei Jahren 
war, starb seine Frau, die ihm diesen Sohn geschenkt hatte. Als 
auch die zweite Frau Mutter dreier Söhne geworden, kamen für 
den guten Min schwere Zeiten. In Nahrung und Kleidung wurde 
er zurückgesetzt, aber kein Wort der Klage kam über seine Lippen. 
Nur einem Zufalle konnte er es verdanken, daß der Vater erst nach 
langer Zeit von der ungerechten Behandlung erfuhr, die ihm zu 
Teil wurde. Eines Tages nämlich, da er den Wagen führen mußte 
und eben ein scharfer Nordwind bließ, zitterte Min am ganzen 
Leibe, und doch schien seine Kleidung mit Baumwolle gut ausge- 
füttert zu sein. Das Zittern mißfiel dem Vater, da der kleine 
Bruder nebenan, obschon er viel dünner gekleidet war, sich tapfer 
hielt. Zornig versetzte er dem Min einen Hieb mit der Peitsche. 
Doch was kam da zum Vorschein? Der Hieb hatte eine Nat 
getrennt und aus derselben quoll Schilfrohrwatte, die nicht mehr 
wärmt als trockene Blätter. Unwillig wollte jetzt der Vater die 
böse Stiefmutter fortschicken ; aber Min bat für sie, indem er sprach : 
„Geht die Mutter, dann müssen drei Kinder Kälte ertragen; bleibt 
sie aber, höchstens nur eines. u 

Als später die Stiefmutter dieses hörte, wurde sie gerührt, 
und von da an behandelte sie den Min noch besser, als ihre eigenen 
Kinder. Beim Essen bekam er zuerst seinen Teil in einer Schüssel, 
die größer war als die Schüsseln der anderen Kinder. Als später 
die Stiefmutter starb, wurde Min derart von Schmerz ergriffen, daß 
er lange Zeit nichts essen konnte. Sobald er seine Schüssel sah, 
brach er in Tränen aus, und es blieb kein Mittel übrig, als di 
Schüssel in Scherben zu schlagen. Daher rührt denn auch die chi- 
nesische Sitte, beim Begräbnisse der Eltern einige Schüsseln zu 
zerbrechen; es soll das ein Ausdruck des Schmerzes und der 
kindlichen Liebe sein. 

Ist es wahr, daß sich die Anschauung eines Volkes in seinen 
Sprüchwörtern besonders kundgibt, dann kommt die chinesische Stief- 
mutter schlecht weg. Mehr als ein halbes Dutzend laufen über sie 
um, aber kein einziges ist mir bekannt, daß auch nur etwas Löbliches 



— 102 — 

Von ihr zu berichten wußte. Zum Tröste unserer Stiefmütter daheim 
einige Beispiele: 

„Die Zunge der Stiefmutter ist wie Skorpionenstachel giftig 
und spitz. Eine Stiefmutter, die gar Opium raucht, gilt als doppelt 

giftig." 

„Zu den selbstgeborenen Kindern schlägt das Herz warm im 
Busen; zu den angenommenen ist es kalt wie Eisen." 

„Wenn die Stiefmutter Kinder schlägt, tut sie es im Geheimen 
und mit voller Hand. Die eigene Mutter schlägt, daß es knallt, 
aber es tut den Kindern nicht weh." 

„Stiefmütter sind äußerlich glatt und geschmeidig, als seien sie 
aus einem Ölkessel gezogen, im Inneren aber haben sie es stecken." 

„Die Eifersucht einer Stiefmutter steigt bis in die äußersten 
Baumzweige empor" (d. h. dringt in alle Ecken). 

Einem bissigen, jungen Mädchen macht man das Kompliment : 
„Geh' doch und werde Stiefmutter, Zeug hast du genug dazu." 

Im sechsten Monate, wenn die Sonne plötzlich hinter einer 
Gewitterwolke hervorbricht, sagt man, daß sie steche. Noch schärfer 
soll der Stiefmutter Pinger stechen, wenn sie zornentbrannt damit 
auf die Tochter zeigt. Dieses „Fingerstechen" ist eine eigentüm- 
liche Weibergebärde in China und ist sehr verhaßt. Es geschieht 
mit dem Zeigefinger der rechten Hand und hat Ähnlichkeit mit dem 
Hacken kämpfender Hähne. 

Bekanntlich gehen die verheirateten Mädchen zu Neujahr die 
Mutter besuchen. Auch die Stiefmutter muß die Tochter erster Ehe 
um diese Zeit mit offnen Armen empfangen, sonst käme sie sofort 
in den Verdacht der Härte. Spöttisch sagt darüber der Leumund : 
„Seht doch, wie Mutter und Tochter ein Herz und eine Seele sind. " 

Eine Schneewittchen-Geschichte kennen die chinesischen Kinder 
nicht, aber dafür gibt es Theaterstücke, worin die Stiefmutter als 
wahrer Kinderschrecken ihre Rolle spielt. Hou nian ta he tse : Eine 
Stiefmutter schlägt die Kinder, ist der Titel eines Stückes. Die 
Hou-nian ist eine leidenschaftliche Kartenspielerin. Da sie schließ- 
lich nichts mehr einzusetzen hat, müssen die Kinder, ein Knabe 
und ein Mädchen, in einem fort spinnen. Die dabei verdienten 
Sapeken verspielt die Mutter immer wieder von neuem. Die Kinder 
bekommen wenig zu essen, dürfen kaum mehr schlafen, werden 
reichlich mit Prügeln gequält und schließlich derart zur Verzweif- 
lung gebracht, daß sie sich selber das Leben nehmen wollen. Ein 
höheres Wesen aber behütet sie davor, und damit endet denn auch 
die leidensvolle Geschichte. Ahnliche Stücke gibt es im ganzen 



- 103 — 

Reiche, in denen die eine Hou-nian gerade so verkehrt ist wie 
die andere. 

„Wer möchte da noch in China Stiefmutter werden ? u höre 
ich die freundliche Leserin fragen. Gibt es denn gar keine Aus- 
nahmen ? 

Zum Stiefmutterwerden hat selbstverständlich auch das Chine- 
senmädchen wenig Lust; aber was will so ein armes Ding machen, 
da die Eltern das Verloben für sie besorgen? Für diese aber sind 
Geld und Ansehen die Hauptpunkte, welche beim Heiraten den 
Ausschlag geben. Gezwungen, Witwerverbindungen einzugehen, 
suchen nicht wenige der Unglücklichen im Brunnen oder im Opium 
ihre letzte. Rettung. Andere aber wollen gereizt nun auch ihrem 
Namen Ehre machen und spielen sich als recht schlimme Stief- 
mutter auf. Für manche sonst gutgeartete Frau aber wird das Los 
unerträglich, vor allem dann, wenn sie selbst keine Söhne bekommt, 
aus der ersten Ehe jedoch solche vorhanden sind. Wenn dann ihre 
Stütze, der Mann, stirbt, wird sie von den Stiefsöhnen selten be- 
achtet, meistens aber verachtet. Hat sie eigene Söhne, dann freilich 
ist ihr Schicksal gesichert; stirbt der Mann, gelten diese als die 
eigentlichen Erben. 

Und schließlich Ausnahmen, gute, pflichtge treue Stiefmütter 
gibt es auch, aber wohl kaum mehr, als um die Regel zu bekräf- 
tigen. Erst kürzlich wurde mir von einem Winkeladvokaten erzählt, 
den man ins Mandarinat überliefert hatte. Als der Mandarin ihn 
der Schuld überführt hatte und dann bestrafen wollte, erschien die 
Stiefmutter, an ihrer Hand den eigenen Sprossen. „Hier, großer 
Herr*, spricht sie, „diesen bestrafe, denn er ist mein leiblich Ge- 
borener. Jener da ist mein Stiefsohn. Bitte, verschone ihn, denn 
Stiefsöhne habe ich nur einen, eigene Söhne aber zwei." 



Die Witwe und ihre Ehrung. 

der immer in China längere Zeit herumgereist ist, hat oft 
jfijK genug Gelegenheit in Städten, Dörfern oder gar auf dem 
J2& freien Felde eine Ehrenpforte zu passieren, die sich quer 
^3 über den Weg spannt. Zu wessen Ehre sie erichtet 
wurde, verrät die Inschrift. In harten Stein ist der Name gemeißelt 
und eine kurze Lebensgeschichte, sowie die hervorragendsten Tugen- 
den, die der so Geehrte zeitlebens geübt hat : Enthaltsamkeit aber 




— 104 — 

und kindliche Pietät (f$ und 5J£) = Tsie und Hiau, waren die Kar- 
dinaltugenden, die von ihm in besonders hohen Maße geübt wor- 
den sind. Doch nehmen wir den Namen genauer in Augenschein, 
so sehen wir, daß der Gefeierte kein Mann, sondern eine Frau war ; 
eine Witwe nämlich, die ihren Mann früh verloren hat. Aus Liebe 
zu den Schwiegereltern hat sie dann auf eine zweite Ehe verzichtet. 
Sie hat diesen als gute Tochter gedient und in Pietät, (^ Hiau) 
und in vollständiger Enthaltsamkeit (fJJ Tsie) gelebt. In Erwartung 
des „klaren Glückes", verachtete sie das „rote 1 )". Darum hat der 
Mandarin den „Spiegel" ihrer Tugend zum „Himmelssohne" gesandt, 
der in seiner rechten Würdigung aus seiner eigenen Tasche die 
Auslagen bestritt, um der tugendhaften Witwe eine Ehrenpforte zu 
errichten, damit „sie nachkommenden Geschlechtern als Vorbild 
diene und der Glanz ihrer Tugend niemals erbleiche". 

Es ist begreiflich, daß solch eine Lobeshymne viel Verführeri- 
sches an sich trägt, und das erst recht, wenn die junge Witwe von 
einer zweiten Ehe doch nicht viel Gutes zu erhoffen hat. Ist sie 
bei den Schwiegereltern gut aufgehoben, so verlebt sie dort ihre 
Witwenschaft; sind die eigenen Eltern aber begütert, so bleibt sie 
oft bei diesen. Hilfsbedürftige Witwen zu unterstützen gilt als ein 
besonders gutes Werk, und es gibt Gesellschaften, die es sich zur 
Aufgabe gemacht haben, armen Witwen beizustehen. Einige von 
ihnen verfügen über ansehnliche Mittel und zahlen allmonatlich eine 
bestimmte Summe an jene, deren Sorge sie übernommen haben. 
Andere bestehen aus einer Gilde von reichen Kaufleuterf u. s. w., 
die „Gutes tun wollen" (tf tH hing-schan). Bittet eine mittellose 
Witwe um Unterstützung, damit sie ungefährdet ihre Tugend üben 
und frei von allen Nachstellungen sein kann, so wird ihr Name mit 
dem anderer Bewerberinnen auf ein Papier geschrieben, das dann 
vor der Stadtgottheit (J$ 3E tsch'öng-wang) verbrannt wird. Hierauf 
muß das Loos entscheiden, wen der Gott zur Annahme des guten 
Werkes auserlesen hat. An dem Hause solcher Witwen wird ein 
Schild angebracht, das ihnen Schutz und Sicherheit gewähren soll. 

Eine Ehe zu Stande bringen gilt in China als ein verdienst- 
liches Werk. Wer aber einer Witwe behülflich sein wollte „einige 
Schritte weiterzugehen" (§1 tüf 5£$t^ : „eine neue Schwelle zu über- 
schreiten" Jfi H jg FJ GB Ausdrücke für die zweite Heirat) der 
müßte sich darauf gefaßt machen, daß es ihm beim Richter in der 

*) Die Chinesen kennen zwei Glücksarten &JM und f(f f8 : Hung-fu und 
TJing-fu t rotes Glück und klares GlQck. Ersteres bezieht sich auf das Ehelebon letz- 
teres wird nach dem Tode jenen zu Teil, die gut gelebt und als „heilig" gestorben sind. 



— 105 



Unterwelt nicht gnädig gehen wird. Er kann sich der Strafe nur 
dadurch entziehen, daß der Ehekontrakt mitten auf dem Felde oder 
an einem abgelegenen Orte aufgesetzt wird, und daß er den Pinsel, 
womit er denselben geschrieben hat, über den Kopf weit weg nach 
hinten wirft. So kommt es auch, daß Witwen im allgemeinen als 
wetterwendisch angesehen werden und leicht geneigt sind, ihren Ent- 
schluß zu ändern. Niemand aber kann sie zu einer zweiten Ehe 
zwingen, weder die eigenen Eltern noch die Schwiegereltern. Manche 

zieht sich noch im letzten 
Augenblicke zurück, wenn 
schon Alles fertig gespro- 
chen ist und der Brautwa- 
gen eben vor der Tür steht. 
Gelingt es aber, sie auf den 
Wagen zu „schwindeln ", 
das heißt : ihr die Zukunft 
rosig genug auszumalen, 
daß sie sich selbst bequemt, 
den Wagen zu besteigen, 
so gibt es kein Besinnen 
mehr und keine Umkehr. 
Wer sich aber erkühnen 
wollte eine Witwe mit Ge- 
walt auf den Wagen zu 
bringen, dürfte vom Man- 
darine um einen Kopf kür- 
zer gemacht werden. 

Denn vor dem Manda- 
rine haben die Witwen a 
priori das Recht auf ihrer 
Seite, und man vermeidet 
es daher ängstlich mit 
ihnen Händel anzufangen : 
3^Ä^c(Bl^ A „Witwen sind größer als Doktoren" sagt ein Sprich- 
wort. Doktoren aber sind schon gar gefürchtete Leute, mit denen 
Niemand einen Prozeß anfangen mag. 

Die sonst üblichen Hochzeitsfeierlichkeiten fallen bei Heiraten 
von Witwen meistens aus. Auch wird in der Regel zum Abholen 
keine Sänfte gebraucht, sondern nur ein Wagen. Meistens trifft es 
sich so, daß das Witwentum auf beiden Seiten ist. Bringt die Frau 
aber Kinder aus der ersten Ehe in die neue, so müssen diese fortan 




Ehrenbogen bei Tsimo. 



— 106 - 

den Namen des Stiefvaters führen. Bleiben die Kinder im Hause 
der Großeltern oder werden sie sonstwo untergebracht, so behalten 
sie den Namen ihres eigentlichen Vaters. Damit ist das Verhältnis 
zur Mutter freilich so gut wie aufgehoben. Selbst bei ihrem Tode 
haben solche Kinder keine Verpflichtung, Trauerkleider anzulegen 
oder eine Träne zu weinen. 

Wetterwendisch sind Witwen bisweilen auch dann noch, wenn 
das Lob ihrer Tugend bereits in den Stein gegraben und der Ehren- 
bogen errichtet werden soll. Nicht sehr weit von meinem Wohnsitz 
befinden sich zwei unvollendete Ehrenpforten; die eine ist bis zur 
Hälfte gediehen, während von der zweiten die Steine noch lose am 
Boden umherliegen. Jedesmal hatte der Mandarin bereits den kai- 
serlichen Erlaß zur Errichtung des Portals eingeholt und das zur 
Deckung der Kosten mitgeschickte Silber war verausgabt. Doch 
die Gefeierte verzichtete in letzter Stunde auf den Glanz der Tugend 
und zog eine neue Ehe dem Ehrenpavillon vor. Das eine Mal 
verschwand die Witwe mit einem Steinmetz, der an dem Monumente 
gearbeitet hatte; er hatte sich dabei ein gutes Sümmchen auf die 
Seite gebracht, denn er war Unternehmer und Bauführer. Somit 
kam die kaiserliche Spende der Witwe doch zu Gute, wenn auch 
auf anderem Wege und in verkehrtem Sinne. Das andere Mal nahm 
ein Angestellter im Mandarinate mit der ehrsamen Witwe reisaus. 

Wie bereits bemerkt wurde, muß zur Errichtung eines Wit- 
wenbogens zuerst die Genehmigung des Kaisers eintreffen. Diese 
wird gewöhnlich auf die Spitze des Monumentes in den Stein gemeißelt: 
„Auf kaiserlichen Befehl" (fg §• Scheng-dsche) „durch kaiserliches 
Diplom u (jgfc ts'uh), „Bekanntmachung durch öffentlichen Denkstein u 
(SU Tsiri), sind die gewöhnlichen Ausdrücke dafür. Ist der Weg 
von Peking bis zur Heimat der Witwe weit, so bleibt nicht selten 
von dem kaiserlichen Silber manches hängen, so daß das Portal nur 
bescheidene Dimensionen annehmen kann, falls die Witwe nicht 
selbst zu den Baukosten beisteuern kann oder will. Zuweilen soll 
die Witwe sich sogar mit der Errichtung einer einfachen Steinplatte 
begnügen müssen. 

Am Tage wo der Ehrenbogen seiner Vollendung entgegengeht, 
wird eine große Feierlichkeit veranstaltet. Die Mandarine, Gelehrten 
und Vornehmen des ganzen Distriktes, sowie die Verwandten, erwei- 
sen alle dem Denkmal ihre Ehrerbietung, indem sie sich davor auf 
den Boden niederwerfen. Weilt die Gefeierte noch unter den 
Lebenden, so erscheint sie im Festagsschmucke und macht auch 
selbst vor dem Bogen Kou-t'ou. 



— 107 — 

Kunst und Poesie tun ihr Bestes, eine solche Ehrenpforte 
berühmt zu machen. Freilich braucht der Baumeister zuvor keine 
Entwürfe auszuarbeiten, sie sind alle nach demselben Muster gebaut. 
Ist Geld genug vorhanden und scheut mau keine Kosten, so erweitern 
sich die Dimensionen, auch wird kostbareres Material verwendet und 
die Austattung ist eine vornehmere. Figuren von Löwen und 
manchmal auch von Menschen sind zu beiden Seiten der Zugänge 
auf Steinsockel gestellt und beleben das Ganze. Ahnlich den Pforten 
zu Amtsgebäuden besteht jedes Monument aus drei Durchgängen, 
von denen der mittlere das Hauptor vorstellen soll. Die Anlage 
hat Ähnlichkeit mit den Triumphbogen der Römer, nur daß die 
Chinesen statt des Bogens mächtige Monoliten gebrauchen, die den 
Eingang überdecken. Gewiß fällt so ein Bau quer über den Weg 
gestellt besser in die Augen, als wenn er abseits aufgerichtet wäre. 
Dieser Gedanke wird auch der Hauptgrund gewesen sein, die Por- 
talform für diese Denkmäler zu wählen. Nicht selten aber hat im 
Laufe der Zeit ein Weg seine Richtung verändert und statt durch 
die Pforte zu führen, geht er nun an ihr vorbei. 

Wie der Baumeister nur schablonenmäßige Muster kennt, 
gebraucht auch der Poet fast immer die nämlichen Bilder zur Ver- 
herrlichung der Witwentugend: „Die treue Zypresse oder Fichte, 
die auch im Winter ihr grünes Kleid behält*; „der klare Kristall 
den kein Makel verunstalten kann", „der Trauer säuselnde Bambus" 
das sind so ziemlich die einzigen Motive, die die chinesische Phantasie 
bewegen. Da der Stein nicht Raum genug bietet, all die Tugenden 
einer Witwe zu verewigen, so wird nicht selten noch ein eigenes 
Buch hergestellt, worin der Lebenslauf der Verstorbenen und die 
Art ihres Todes beschrieben ist. Am Ehrenvollsten ist es natürlich, 
wenn sie sich aus Schmerz über den Verlust ihres Gatten selbst 
den Tod gegeben hat. Aber für solche Heldentaten fehlt es heut- 
zutage den meisten an Mut und Gefallen. Verweigert die junge 
Witwe die Aufnahme von Speisen, so helfen gute Worte und Hunger 
allmählich, den Gattenschmerz zu lösen. Nimmt sie aber Opium 
ein, so ist sie meistens auch nicht abgeneigt, auch ein Gegengift 
zu verschlucken. Sich mit Feierlichkeiten in den Tod begeben und 
sich selber eine rote „Leidensschnur 4 * um den Hals legen, nachdem 
man öffentlich von der Welt Abschied genommen hat, dürfte heut- 
zutage wohl mehr selten vorkommen. 

Trotz seiner Ehrung ist der Witwenstand nicht immer zu 
allerbest beleumundet: Vor der Witwentür gibt's viel Zank und 
Hader", sagt ein chines. Sprichwort. Unverheiratet ist sie vielerlei 



— lOft _ 

Verdächtigungen ausgesetzt : heiratet *i«» aber, gilt sie von vornherein 
als feiles Objekt, lud ehen dieser l' instand giht für den Mann viel- 
fach den Ausschlag, dal» er zur Witwe greift: sie ist billiger im 
Preis«» und das Heiraten kostet weniger tield. 



Ein chinesischer Pantoffelheld. 

Int Frauchen, eine lütte, die darfst du mir nicht abschlagen." 
v „Kleiner Hui» was fehlt dir wieder: juckt dir der Rücken? 
Si ^ffiial -Nächster Tag«» kommt ein Freund zum Besuche; ich 
iWlM£$ bitte dich nun recht herzlich, überlasse an diesem Tage 
mir das Regiment. Sonst will ich ja gerne das ganze Jahr dir zu 
Diensten stehen; aber schon schilt mich Jedermann als ,Frauen- 
fürchter (P'a-p'uo tse-ti), da mrichte ich meinem Freunde doch ieigen, 
dal) ich Herr im Haus«» bin." 

Die gestreng«» Hälft«» gab emilich den Bitten des „kleinen 
Buben* nach, und am bestimmt« 1 !! Tag«» erschien der Besuch. 

r Alte Hälft«», schnell T«»e gemacht", kommandierte der Mann. 

Ohne Widerred«» zündete di«» Frau das Feuer an, bereitete 
den Tee und trug ihn auf. Dann wurde ihr weiter befohlen das 
Kssen herzurichten, und als das geschehen war, mußte sie gleich 
«»hier Magd nebenan stehen und bedienen. Verwundert beobachtete 
der Freund das Walten der viel verschrieenen Frau und dachte 
bei sieh selber, die ist noch williger als die meine. Als sie aber 
in der Küche hantierte, drückt«» er seine Verwunderung dem Mann 
gegenüber aus und wie doch nichts von alledem wahr sei, was man 
sich von ihm und seiner Frau erzähl« 4 . «Jetzt siehst du es selbst", 
antwortete jener; «früher als ich das Gegenteil behauptete, hast 
du mir es nicht geglaubt." 

Befriedigt schied dann der Besucher; absichtlich aber ließ er 
seine Pfeife in einer Ecke liegen, er wollte nochmals unverhofft auf 
der Bildfläche erscheinen, um zu sehen, ob der Schein auch der 
Wahrheit entspreche. 

Kaum waren Mann und Frau wieder allein zusammen, so wur- 
den sogleich die Rollen gewechselt. «Zieh mir die Schuhe aus", 
zeterte sie den «kleinen Buben u an, was dieser dann sofort ohne 
Widerrede besorgte. «Mausere mir die Hacken, die mir von all 
dem Laufen entsetzlich jucken. u Auch dazu war unser Held bereit. 
Eben war er damit beschäftigt, da öffnete sich die Türe und der 



— 109 — 

Freund trat in die Stube. „Ich habe meine Pfeife vergessen", ent- 
schuldigte er sich — „Aber mein Lieber, was machst du denn da?" 
„Tsch'ui tj'i le tsä ta" keuchte jener erregt. „Erst will ich sie auf- 
blasen und dann durchprügeln." 

Anmerkung: Bekanntlich blasen die Chinesen den eben 
geschlachteten Schweinen durch einen Einschnitt in der Ferse Luft 
unter die Haut, wodurch das Schwein kugelrund wird und das 
Borstenabkratzen viel leichter von statten geht. 



Brunnen in China, 

l^l^^Jinen Brunnen machen bedeutet in China fast ebensoviel, 
^InS w,e e * n neues Kathaus bauen. Allerdings gebraucht der 
t \M.SffiWl < iiincse keine Rathäuser; er hält seine Beratungen unter 
^ßSStUSa ^ reiem Himmel oder im Schuppen des Dorfschulzen, falls 
dieser einen hat. Aber man kann ruhig behaupten, daß das Brunnen- 
machen als ein Ereignis ersten Ranges gilt, an dem das ganze 
Dorf reges Interesse nimmt, da es Gemeindesache ist, während das 
Hausbauen nur den Einzelnen angeht. Hat der Gemeinderat be- 
schlossen, einen neuen Brunnen zu graben, entweder weil der alte 
wasserarm geworden ist oder für den Bedarf nicht mehr ausreicht, 
so muß vor allem der richtige Platz ausfindig gemacht werden. Den 
findet nur der Geomand, und man lädt einen solchen dann unter 
vielem Ceremoniell ein, füttert ihn gehörig satt, und nachdem er 
auch sattsam getrunken hat, geht er mit den Dorfältesten die Gegend 
in Augenschein zu nehmen. Er läßt sich einige Stellen anweisen, 
wo der Brunnen wohl am passendsten gelegen wäre und dem- 
entsprechend trifft er seine Wahl. Den rechten Platz zu finden, ist 
kein Leichtes. Das Wasser muß süß sein, der Erddrache darf in 
seiner Ruhe nicht gestört werden, auch dürfen die Quellen nicht 
allzu tief liegen, weil sich sonst die Auslagen für das Brunnenmachen 
zu hoch belaufen würden. 

Endlich ist der rechte Fleck gefunden. Er liegt auch zum 
Glück ganz in der Nähe einer von dem Dorfältesten bezeichneten 
Stelle. Sollte sich später herausstellen, daß der Brunnen nicht allen 
Anforderungen entspricht, so hätte der Geomant wohl einen besseren 
Platz dafür gewußt, aber der wäre dem Dorfe eben zu ungelegen 
gewesen. Jetzt heißt es, ans Werk gehen. Doch muß man sicli 
erst für eine so wichtige Arbeit gründlich stärken. Es wird eine 



— 110 — 

allgemeine Fre-^erei veranstaltet, wozu die \olIe Gemeinschaft boitra- 
gen nuili: »Hr. die mitarbeiten, dürfen auch mite^en. und zwar iiit 
man -ich recht satt, weil iii.ni nicht alle Tagt? dazu Gelegenheit 
hat. Nach guter Beköstigung kann ilaun d.i> Werk beginnen. 

Zunächst wird «mih* Stange aufgerichtet, an der ein rotes Fähn- 
chen flattert und ''in Maulkorb hängt, den für gewöhnlich Ochsen 
und K-fl tragen, dainir sie während dei Arbeit im Felde ihre 
(redanken nicht auf das Freien richten. Das rote Fähnchen soll 
di<* Teufel in der Luft ferne halten, der Maulkorb aber soll die 
Arbeiter daran erinnern, dal* -ie jetzt keine miil)igen Reden führen 
dürfen. Eine inüliige Rede wäre es z. IS., wenn jemand sagen 
wollte: .An diesem Platze scheint keine gute (Quelle zu sein, 
oder: Da- Wa^er ist noch ziemlich tief.- Derartige Heden könnten 
überhaupt das (relingen des Brunnen«, in Frage stellen. Man hat 
während der Arbeit zu schweigen oder *ich doch nur immer in 
lobenden Ausdrücken über den Brunnen zu äuliern: dann wird er 
auch zur allgemeinen Zufriedenheit ausfallen. 

Das Graben de- Brunnen- ge>chieht verschieden, je nach den 
< regenden, wo er gemacht wird und nach der Beschaffenheit des 
Bodens. Bei uns hier in I'uoly stölit man in einer Tiefe von 
wenigen Fuli auf Flugsand, l'm d;i- Kindringen desselben möglichst 
abzuhalten, werden auf einem hölzernen Kahmen mehrere Schichten 
Mauerwerk aufgeführt. Nachdem dasselbe mit Stricke;i und Leisten 
möglichst fest zusammengeknebelt Ut, wird von innen heraus Erde 
gehoben. Das Mauerwerk sinkt durch «las eigene Gewicht immer 
tiefer in den Boden; ist man aher einige Fuß in den Flußsand 
vorgedrungen, quillt der Sand von unten herauf und alle Arbeit ist 
umsonst: da« Brunnengemäuer sinkt nicht mehr tiefer. Wird aber 
dennoch Sand und Wasser weiter herausge^chöpft. dann fällt allmählich 
der Brunnenrand zusammen, weil sich dort im Boden Höhlungen 
gebildet haben. Bei derartiger Bodengestaltung ist das Brunnen- 
machen in China allerdings keine leichte Arbeit, davon können wir 
hier in Puolv auch unser Lied singen. Im Verlaufe von fünf Jahren 
>ind bereits sieben Brunnen gegraben aber auch beim siebenten 
^ind wir nicht tiefer gedrungen al> ehedem. Unser Puoly hat eben 
das Geschick, entweder von Wasser überfüllt zu sein, so daß man 
nur mit einem Schiffe mehr Einlaß finden kann oder aber in Trocken- 
heit zu schmachten, dal) die (rärten ausdörren und kaum das notige 
Element zu haben ist für Menschen und Vieh. 

Für die Anfertigung von Gartenbrunnen und sedchen, die zur 
Bewässerung von Feldern dienen, wie sie in einigen Gegenden 



— 111 — 

gebräuchlich sind, bestehen eigene Brunnenmachergilden. Der Alt- 
meister (Laopa) untersucht zuvor den Boden und prüft ihn auf 
seinen Wassergehalt, sowie die Eigenschaften des Wassers. Er bedient 
sich dazu einer langen „ Nadel u (eiserne Stange), welche ruckweise 
in den Bodea gestoßen wird. Je nachdem die Nadel „glatt oder 
holperig" heruntergeht, fühlt man heraus, wie die verschiedenen 
Erdschichten beschaffen sind. Stößt man auf Wasser, so wird im 
Nadelöhr ein Bindfaden befestigt und die Stange wird von neuem 
heruntergelassen. Nachdem sich der Faden voll Wasser gesogen, 
wird die Nadel wieder herausgezogen und man kann die neue Quelle 
auf ihre Güte prüfen. Allerdings handelt es sich nur um einige 
Tropfen Wasser, die man aus dem Faden preßt; aber unser Brunnen- 
macher ist eben ein Feinschmecker und versteht sein Geschäft. Für 
den Fall aber, daß der Brunnen später nur salziges oder bitteres 
Wasser spendet, hat eine „verkehrte Quelle u ihren Weg in denselben 
genommen und das konnte natürlich der Laopa nicht voraussehen. 
Besagte Altmeister verstehen es nicht nur, neue Brunnen zu graben, 
sondern sie können auch alte wieder „aufimpfen", indem sie darin 
neue Quellen aufsuchen. Auch hierzu bedienen sie sich ihrer Nadel, 
welche auf dem Boden der ausrangierten Cisterne in die Tiefe 
gestoßen wird. Solcherweise bohrt man mehrere Löcher hinein und 
in diese Löcher werden Bambusrohren getrieben. Durch dieselben 
sollen sich dann die neuen Quellen ergießen, und der neu aufge- 
besserte Brunnen kann wieder dem Gebrauche übergeben werden. 

In chinesischen Büchern (K'anghitsetien) ist zu lesen, das man 
zur Zeit des Kaisers Huangti (3000 v. Chr.) schon Brunnen kannte. 
Ferner erzählt man von einem Bauern, der unter der Regierung 
des Kaisers Yao (2357 v. Chr.) lebte, daß er im Schatten eines 
Baumes am Brunnen sitzend gesungen habe : „Ich bebaue meinen 
Acker und habe zu essen, ich grabe mir einen Brunnen und habe 
zu trinken; wozu gebrauche ich noch des Kaisers Hülfe? (Köng 
tien öl sehe; tso zing öl jin: Ti li ho ju jü no tse?)" Dabei habe 
er vergnügt auf den Boden geklopft und in den Brunnen geschaut; 
wie es scheint, befaßte sich der Alte schon damals mit revolutio- 
nären Gedanken. 

Man kennt im allgemeinen nur Gemeindebrunnen ; sich einen 
Privatbrunnen graben, ist dem gewöhnlichen Sterblichen nicht erlaubt, 
es sei denn, er benutze ihn nur zur Bewässerung seines Gartens. 
Diese Gemeindebrunnen liegen vielfach außerhalb des Dorfes, was 
für den zeitreichen und wassergenügsamen Chinesen wenig Bedeu- 
tung hat. In der Frühe holt er einen Krug voll Wasser und der 



— 112 — 

genügt uiiter gewöhnlichen Umständen für den ganzen Tag. Er 
gebraucht ja nur Wasser zum Essenmachen und Teekochen. Das 
Gesicht wäscht man sich nur gelegentlich und ausnahmsweise ; 
ebenso die Kleider, und wenn sie einmal gewaschen werden, geht 
man damit zum Dorfteich oder wartet bis zur Regenzeit, wo es 
Pfützen in Menge gibt. Desgleichen werden die Tiere an den 
Dorfteich geführt oder zum Brunnen. Aus dem nämlichen Eimer, 
mit dem man Wasser schöpft für die Küche, wird auch das liebe 
Vieh getränkt, die Reste aber werden aus Sparsamkeitsrücksichten 
wieder in den Brunnen hinabgeschüttet ; das ist ganz selbstverständ- 
lich und niemand nimmt Anstoß daran. Gewöhnlich ist es Sache 
des Hausvaters, in der Frühe für den Tagesbedarf das Wasser zu 
holen; hat er aber erwachsene Söhne, dann müssen es diese tun; 
bisweilen tut es auch die Frau, falls der Mann ein Opiumraucher 
ist oder ein Faullenzer. Brunnenreden werden bei dieser Gelegen- 
heit nicht gehalten ; die Frauen gehen schweigsam ihrer Wege ; alle 
ihre Aufmerksamkeit haben sie darauf zu richten, daß sie beim 
Fortwatscheln die Krüge nicht zerbrechen. Das Brunnenloch liegt 
zur ebenen Erde und das Schöpfgefäß, einen Krug oder Eimer, läßt 
man mittels eines Strickes hinunter. Jeder muß sich seinen Strick 
mitnehmen, denn wollte man einen Gemeindestrick am Brunnen 
liegen lassen, würde er balt verschwunden sein. 

Die Brunnen in China bilden für manche lebensüberdrüssige 
junge Frauen ihre letzte Zutluchtstätte, worin sie sich das Leben 
nehmen. Ursache dazu ist in der Regel die „böse Schwiegermutter". 
Sonst aber hört man nur äußerst selten, daß jemand in den Brunnen 
gefallen, selbst nicht einmal ein Kind; fällt aber ausnahmsweise ein 
Hund hinein oder eine Katze, so merkt man das bald am Wasser 
und wem am meisten davor ekelt, muß den Kadaver herausfischen. 

Der Chinese verzichtet gerne auf das Gemächliche eines Privat- 
brunnens; die Dorfbrunnen bieten einen für ihn nicht zu unter- 
schätzenden Vorteil. Da die ganze Einwohnerschaft aus einem 
Brunnen schöpft, erneuert sich das Wasser alltäglich und ist deshalb 
immer frisch. Auch sind die Dorfbrunnen weit von Kloacken und 
Pfützen entfernt und die Wasserzufuhr ist deshalb auch immer 
rein. Diese allgemeinen Brunnen mögen auch wohl das ihrige 
dazu mit beitragen, daß die Epidemieen in China keinen so frucht- 
baren Boden finden, als m;in bei der Unreinlichkeit der Chinesen 
erwarten sollte. 

Will man das Volk aufwiegeln, so braucht man nur von Brunnen- 
vergiftung zu sprechen. Mit Vorliebe streuen christenfeindliche 



— 113 — 

Literaten zur Zeit voü Verfolgungen derartige Märchen unter das 
Volk, wie es bei den letzten Boxerunruhen erst noch der Fall war. 

In allen größeren Städten enthalten die Brunnen vielfach kein 
trinkbares Wasser; dieses wird deshalb aus der nächsten Umgebung 
geholt oder aus vorbeifließenden Kanälen oder Flüssen. Hundert- 
tausende arme Chinesen verdienen da mit Wasserverkauf ihr tägliches 
Brot. Meistens kostet ein Eimer voll ein Viertel Pfennig, bisweilen 
auch einen Pfennig. In Europa würde man allerdings mit derartigem 
Wasser kaum ein Tier zu tränken wagen; die Chinesen aber setzen 
Alaun hinzu, worauf es sich bald klärt, und gekocht wird es vollends 
unschädlich. Wasserleitungen im Sinne, wie sie schon die alten 
Römer kannten, gibt es in China nicht. Höchstens könnte eine 
Wasserleitung in Peking, wo das Wasser aus den einige Stunden 
entfernt liegenden Bergen zu den kaiserlichen Sommergärten geführt 
wird, eine Leitung größeren Stils genannt werden. Wohl hat der 
Chinese mancherlei Kanäle gebaut, aber diese dienen in erster Linie 
nur der Schiffahrt. Wo ihm solche gerade an der Nase vorbeilaufen, 
gebraucht er allerdings auch mit Vorliebe das Wasser derselben. 
Aber Kanäle bauen nur des guten Trinkwassers halber, verursachte 
zu viele Kosten und brächte zu wenig Vorteil, da behilft man sich 
lieber und trinkt schlechtes Wasser. 

Das chinesische Zeichen für Brunnen wird durch zwei senk- 
rechte und zwei wagerechte Striche hergestellt, die sich in der Mitte 
gegenseitig schneidend, ein Viereck bilden und heißt tsing. (In 
Westdeutschland heißt so stellenweise der Brunneneimer.) Die 
Gelehrten erklären das Zeichen dahin, daß zur Zeit, als Kaiser 
Yao die Länder verteilte, in der Mitte des bezeichneten Komplexes 
ein Brunnen gegraben wurde, um den sich das Dorf dann ansiedelte. 

Auf einem Denksteine, der zur Ehre einer ehrsamen Witwe, 
die eine zweite Ehe verschmäht hatte, errichtet war, fand ich die 
Worte eingemeißelt: Sin ju ku tsing: „Ihr Herz glich einem alten 
Brunnen/ Wie das Alte in China besonders in Ehren gehalten 
wird, so auch die alten Brunnen. Die Chinesen scheinen da ähnliche 
Anschauungen zu haben, wie die Samariterin am Jakobsbrunnen, 
die sich sicherlich nicht ohne Hochgefühl dem Heilande gegenüber 
darauf berief, daß ihr Altvater Jakob aus dem Brunnen getrunken 
habe. Man mute* dem Chinesen zu das Heim, wo er nur notdürftig 
seinen Unterhalt findet, zu verlassen und er wird antworten : 
Mein Ur-Urgroßvater so und so hat hier gelebt und aus diesem 
Brunnen getrunken und ich sollte in die Ferne ziehen und fremdes 
Brot essen und wildes Wasser trinken! Erst wenn ihn die Not 

K. Pieper, „Neue Büudel u . 8 



- 114 — 

unerbittlich forttreibt, verläßt er die Scholle und die Gräber seiner 
Ahnen, aber immer mit dem Vorsatze heimzukehren, wenn bessere 
Zeiten für ihn hereingebrochen sind. 



s oceocceoo 



Mm 



Ahnentempel und -Tafeln. 

Sbe man in China Götzen kannte und verehrte und ihnen Tem- 
JH pel baute, wurden schon die Vorfahren mit fast abgöttischen 
Öwy Fähren umgeben, und es erhoben sich allmählich Pracht- 
"i^Siiä*! hüllen, in denen man ihr Andenken feierte. In den kano- 
nischen und klassischen Büchern ist von einem höchsten Wesen 
Schan-ti kaum die Rede, der Ahnen aber wird an vielen Stellen 
gedacht und ihr Kult scharf und eindringlich ans Herz gelegt 1 ). 
Zwar besitzt nicht jedes Dorf einen Ahnentempel, in manchem 
ist nicht einmal eine Ahnentafel zu finden. Vor allem sind es nur 
die reichen Leute von Rang und Ansehen, welche eigene Ahnen- 
pagoden erbauen lassen und dieselben mit den Bildern oder Namen 
der Vorfahren ausstaffieren. Der gewöhnliche Bauer begnügt sich 
damit, daß er einmal im Jahre seine Altvordern (zumal die Eltern 
und Großeltern, wenn selbige gestorben sind) zu einer Visite ein- 
ladet und sie dann wieder heimführt, wenn sie sich satt gegessen 
und getrunken haben. Das Gefährte, dessen er sich zum Abholen 
vom Grabe bedient, besteht aus einem Besen. Die „ Alten u werden 
eingeladen sich darauf zu setzen, und der pietätvolle Sohn zieht 
dann den Besen hinter sich her. Zu Hause angelangt, heißt man 
die Gäste willkommen, gibt ihnen Kou-t'ou, ladet sie zu Tische 
ein und nötigt mit vielen guten Worten, sich doch recht satt zu 
essen und zu trinken und ja nur „zu tun wie daheim". Glaubt 
man, daß die Mahlzeit beendet sei, werden die Schattengäste unter 
den nämlichen Komplimenten und auf dem nämlichen Gefährt wieder 
zu Grabe begleitet. 

l ) Es ist recht bezeichnend, daß in den ^klassischen Büchern 44 (Sü-schu), 
welche hauptsächlich die Lehre des Konfuzius und seiner Schüler zur Darstellung 
bringen, auch nicht einmal der Ausdruck Schang-ti („ höchster Herrscher 44 ) anzu- 
treffen ist. Wohl aber fand ich 22 Stellen darin, welche auf die Verehrung der 
Ahnen und die ihnen zu bringenden Opfer Bezug haben. In den „kanonischen 
Büchern 44 (U-tjing) hingegen, die inhaltlich viel älter sind (wenngleich sie auch 
durch die Hand des Konfuzius gegangen, ehe sie ihre endgültige Fassung erhiel- 
ten), findet sich in jedem Werke vorerwähnte Bezeichnung Schang-ti („höchster 
Herr = Gott"). Nur die Tsch'uin-tsiu („Frühlings- und Herbatannalen 44 ) maohen 
wieder eine Ausnahme, da sie deu alten Philosophen zum Verfasser haben. 



— 115 - 

Bei anderen Totenfesten läßt man es mit einem Besuche am 
Grabe bewenden; es wird dort Papier verbrannt, ein wenig geweint 
und hat man Anliegen, werden sie den Verstorbenen vorgetragen. 
An manchen Grabhügeln ist ein „Eingang" gebaut, meistens eben groß 
genug, daß eine Katze durchschlüpfen könnte. Das soll die Wohnung 
der dort weilenden Seele sein; sie soll sich daselbst sonnen können und 
etwas abspannen, falls es ihr im Innern des Grabes langweilig wird. 

Das Gebäude, in dem die Vorfahren verehrt werden, wird 
Hauspagode (Tja-miau) genannt oder Tsü-tang (Tempel der Vorfah- 
ren), im Gegensatze zu den Götzentempel, die allgemein unter dem 
Namen Miau (Pagode) bekannt sind. Die Bezeichnung Haustempel 
rühr! daher, weil man diese Art Tempel in unmittelbarer Nähe der 
Wohnungen aufbaut, oft in der nämlichen Umfriedigung, in welcher 
die Wohnung liegt, während sich die Tempel der Götzen meistens 
außerhalb der Dörfer befinden oder doch auf einem abgelegenen 
Platze. Man traut den Götzen eben nicht und „hält sie sich vom 
Leibe, u was Konfuzius wahre Weisheit nennt. Besonders ist der 
Wohnplatz hinter einer Pagode äußerst ungünstig. Der Geist in der 
Pagode, sagen die Chinesen, sieht wohl, was vor ihm ist, was aber 
hinter seinem Rücken liegt, das liegt auch außerhalb seines Gesichts- 
und Sorgenkreises. Die Ahnen denkt man sich noch mit zur Familie 
gehörig, und deshalb will man die Totenwohnungen auch in der Nähe 
haben. Das um so mehr, weil man ihnen des öfteren einen Besuch 
abzustatten hat. Besagte Pamilienpagoden dienen ausschließlich zum 
Kulte der Ahnen und sind deshalb für Fremde nicht zugänglich, 
wogegen die Pagoden zur Verehrung der Götzen für jedermann offen 
stehen. Reiche, die nicht Geld genug haben, um sich einen 
Ahnentempel bauen zu lassen, begnügen sich mit Ahnentafeln, die 
an einem besonderen Platze im Hause, meistens hinter einem 
Vorhange aufgestellt werden. 

Das Verhältnis der toten Hausgenossen zu den Lebenden ist 
jedoch keineswegs ein intimes. Sobald jemand gestorben ist, fängt 
man an ihn zu fürchten, selbst wenn es der eigene Vater war oder 
die Mutter. Jedermann ist bestrebt, sich die Toten gewogen zu 
machen, denn Lebende und Tote stehen nach chinesischer Anschau- 
ungsweise in Wechselbeziehung zu einander. Die Schatten der 
Dahingeschiedenen können das Los der Lebenden durch allerhand 
Spukgeschichten und Schabernak verbittern, ja unerträglich machen. 
Die Lebenden aber können den Toten im Schattenreiche zu Hülfe 
kommen in allem was Nahrung und Kleidung angeht und andere 
Gegenstände. Solche Dinge benötigen sie dort noch gerade so 



— 116 — 

wohl, wie einstens auf der Welt. Damit sich die eigenen Auslagen 
aber nicht zu hoch belaufen, wird alles in Papier verabreicht. 
Dasselbe wird verbrannt und verwandelt sich im Jenseits allsofort 
in brauchbare Ware. Von den Speisen begnügen sich die toten Gäste 
mit dem Gerüche; das Verzehren besorgen die Lebenden dann selber. 

Was nun die erwähnten Ahnentafeln betrifft, so unterscheidet 
man zwei verschiedene Sorten. Die ersten stellen das Bild des 
Verstorbenen dar, die zweiten nur die Schriftzeichen seines Namens. 
Es ist aber nicht jedermann gestattet, sein Konterfei malen zu lassen, 
sondern nur großen Männern, die hohe Ehrenstellen bekleideten 
und deren Vorfahren schon während vieler Generationen den Glanz 
der Tugend und Wissenschaft verbreitet haben. Nachdem man für 
das wichtige Geschäft sich einen glücklichen Tag hat weissagen 
lassen, wird ein Maler von Namen eingeladen und die abzukonter- 
feiende Größe legt dann den Galaanzug an, mit allen Abzeichen 
der Würde. Jetzt heißt es stillsitzen, nicht nur einen Augenblick 
wie beim Photographieren, sondern meistens einen ganzen Tag lang, 
und auch dann muß sich der Maler noch sputen, wenn er das Bild 
fertig bringen will. Natürlich wird die ganze Persönlichkeit gemalt 
und gewöhnlich in Lebensgröße mit allen Abstufungen der Farben- 
skala. Es kommt nicht so sehr auf die Ähnlichkeit der Gesichtszüge 
an, als vielmehr auf den Gesamteindruck, den das Bild machen muß. 
Wenn dasselbe würdevoll aussieht, hat der Maler seine Sache gut 
gemacht. Selbstverständlich wird zum Leibesumfänge ein Bedeutendes 
hinzugegeben, desgleichen erscheint der Bart um die Hälfte verlängert. 

Diese Porträttafeln werden Techuenjing genannt (Übermittler 
des Schattes), sind aber keine Schattenbilder, und sie gelangen erst 
beim Tode des Betreffenden recht zur Geltung. Denselben gebührt 
der Ehrenplatz in den Ahnentempeln, und man erweist ihnen die 
nämlichen Ehrungen, wie sie früher die Lebenden genossen. Selbst 
der Mandarin hat sich beim Anblick eines solchen Bildes auf die 
Kniee zu werfen und das Haupt zu neigen, wenn der Gemalte ehe- 
dem höher im Range stand, als er. Für gewöhnlich aber werden 
die Ahnenbilder verborgen gehalten, indem dieselben durch Vor- 
hänge den Blicken entzogen sind. Nur bei freudigen und traurigen 
Anlässen, d. h. bei Hochzeits- und Begräbnisfeierlichkeiten, treten 
sie aus dem Dunkel der Verschleierung hervor, um den gebührenden 
Zoll der Verehrung in Empfang zu nehmen. Mit dem Alter wächst 
auch der Wert dieser Bilder. Gerne umgibt man sie dann auch 
noch mit dem Nimbus des Geisterhaften und erzählt sich allerhand 
Wunderdinge, die der Laoie (Großvater) so und so schon gewirkt hat. 



— 117 — 

Zu Neujahr, wenn papierene Türgeister (Menschen) auf den 
Markt kommen, werden auch primitive Ahnenbilder feilgeboten, die 
nicht gemalt, sondern gedruckt sind. Dieselben dienen mehr zur 
Verschönerung des Hauses als zur eigentlichen Verehrung. Findet 
man in den Zügen des Bildes Ähnlichkeit mit dem verstorbenen 
Vater, wird auch wohl Weihrauch vor demselben verbrannt. 

Weit verbreitet ist der Gebrauch von Ahnentafeln, wenn auch 
nicht überall in gleicher Weise. Es gibt Dörfer, in denen fast jede 
Familie ihre Totentafeln hat, und in größeren Städten findet man 
ganze Straßen, wo an beiden Seiten Haus für Haus sich mit der 
Anfertigung derselben beschäftigt. In den letzten Jahren kommen 
die aus Amerika eingeführten Petroleumkisten diesem Industrie- 
zweige besonders zugute. Die dünnen Brettchen sind vortrefflich 
geeignet, um daraus die Umhülsung der Toten täf eichen zu schnitzen. 
Petroleumblechschachteln werden, nebenbei bemerkt, hauptsächlich 
zu Teekannen verarbeitet. Arme aber, die sich keine hölzernen 
Ahnentafeln anschaffen können, begnügen sich mit einem roten 
Streifen Papier, auf welchem der Name des Verstorbenen geschrie- 
ben steht. Zwei Halme aus Sorghostroh werden in zwei Hälften 
einer Rübe gesteckt, und dann wird der rote Papierstreifen auf- 
gehängt. Vor diesem „Seelensitze" (Schenwei) wird dann geopfert 
und der gebräuchliche Totenkult verrichtet. 

Wenngleich man in Städten Ahnentafeln aller Art kaufen 
kann, solche die mehrere hunderte Lot Silber kosten und andere, 
die für einige hundert Sapeken zu haben sind, ziehen es die Reichen 
doch vor, sich die Seelensitze nicht aus einem Geschäfte zu holen, 
sondern sie lassen sich dieselben von einem Schreiner anfertigen. 
Es ist aber verpönt zu sagen, sich eine Ahnentafel „ anfertigen „ 
(zuo) zu lassen, sondern man muß das Wort siu gebrauchen, was 
„bauen u heißt. In der Vorstellung des Chinesen handelt es sich 
eben nicht um ein winziges Täfelchen, als vielmehr um ein mächtiges 
Gebäude, worin die Seele ihren Wohnsitz aufgeschlagen. 

Besonders wichtig ist es, einen Schreiner zu gebrauchen von 
unbescholtenem Rufe und reiner Gesinnung. Als Werkstätte wird 
ihm ein abgelegenes stilles Zimmer hergerichtet, zu welchem niemand, 
ja selbst der Hausherr nicht, während der Arbeitszeit Zutritt hat. 
Die Hobelbank wird mit einer roten Decke belegt; der Schreiner 
darf sich beim Arbeiten nur der Hände bedienen, nicht aber der 
Füße, wie er es sonst beim Hobeln (durch Festziehen des Holzes) 
zu tun gewöhnt ist. Die Beschäftigung bringt ihm gute Tage, 
denn täglich werden ihm Mahlzeiten bereitet mit vielen Gerichten, 



- 118 - 

und überanstrengen braucht er sich auch nicht, da er von nieman- 
dem überwacht wird. Sollte ein Fremder unverhofft in die Werk- 
stätte kommen, wird die Arbeit schnell mit einer roten Decke 
verhüllt. Wenn er dann endlich die letzte Hand angelegt und der 
Seelensitz fertig ist, wird ein besonderes Fest veranstaltet, wozu 
auch Bekannte und Freunde Einladung erhalten. Auf einer mit 
roter Seide belegten Präsentierschüssel wird dem Schreiner sein 
Lohn verabreicht. Und so knauserig sonst der Chinese mit dem 
Auszahlen von Löhnen ist, darf er sich bei dieser Gelegenheit doch 
nicht karg benehmen. Auch ist es dem Schreiner gestattet, ohne 
Verletzung des Anstandes recht viel von dem Dargebotenen ein- 
zustecken; dadurch gibt er nur zu erkennen, wie hochwertig er 
den Verstorbenen eingeschätzt, dem er einen Seelensitz erbaut hat. 

Neben der Bezeichnung Ahnentafeln, Seelensitztafeln, werden 
dieselben auch Mutschu, „hölzerner Herr", genannt. Die eigentliche 
Weihe erhalten sie durch das Tientschu, indem das Zeichen Uang 
(König) durch einen Punkt, den man darüber setzt, in Tschu (Herr) 
verwandelt wird. (Des näheren beschrieben im U. S. 287.) Auf 
diesen Punkt soll sich die Seele des Verstorbenen niederlassen. 
Durch ein zweites Täfelchen wird dann diese innere Fläche (Neihau), 
welche nur den Namen des Verstorbenen, sowie das Datum seines 
Todes trägt, verdeckt. Auf dem äußeren Täfelchen (Weihau) ist 
der Name des Sohnes verzeichnet, sowie die Namen der Enkel und 
anderer Verwandten. 

Das Beschreiben der Ahnentafeln ist ein Ehrenamt, wozu nicht 
jeder ohne weiteres beauftragt werden darf. Man erwählt dazu 
einen Studierten, der einen Gelehrtengrad hat. Für das Tientschu 
aber läßt man sich nicht selten einen Gelehrten aus der Ferne 
kommen, der einen hohen Rangknopf trägt und dabei das Ansehen 
eines tugendhaften Mannes hat. 

Vor Jahren lebte in Yantschou ein Gewisser, den wir X. nennen 
wollen, bekannt unter dem Namen eines Schildkröten Verkäufers. 
(Schildkröte Uangpa ist ein arger Schimpfname und bezeichnet 
Leute, die mit der Sünde Handel treiben oder sonst in schlechtem 
Hufe stehen.) Zur Zeit als sein Vater starb, hatte er sich schon 
längst einer ehrsamen Beschäftigung zugewandt und machte als 
Großkaufmann glänzende Geschäfte. Nachdem er für den Verstor- 
benen eine Ahnentafel hatte herstellen lassen, lud er den Haupt- 
mandarin (Tschefu) der Stadt ein, auf der Tafel den Seeleupunkt 
zu machen. Dieser aber wies das Ansinnen rundweg ab, weil er 
es als Schmach betrachtete, einem ehemaligen Schildkrötenvorknufer 



— Ü9 — 

diesen Ehrendienst zu erweisen. X. verbiß den Arger und schob 
die Beerdigung seines Vaters vorläufig hinaus. 

Bald brachte er in Erfahrung, in der Provinz Schantung 
wolle ein Großwürdenträger (Yükaolao) des Kaisers für seinen ver- 
storbenen Vater die Begräbnisfeierlichkeiten veranstalten. Er machte 
sich alhofort hin und bot Yükaolao seine Dienste an. Begräbnis- 
feierlichkeiten veranstalten, ist in China immer ein außergewöhnliches 
und großwichtiges Geschäft, das viel Geld und nicht weniger Mühe 
kostet. Freunde und Bekannte bieten deshalb bei dieser Gelegenheit 
ihre Hülfe an, indem der eine für die Zelte, ein anderer für Tische 
und Bänke, ein dritter für Bereitung der Speisen, ein vierter für 
die Musik, ein fünfter für das Schießen zu sorgen hat, usw. Yükao- 
lao war allerdings Großwürdenträger beim Kaiser, stand aber finanziell 
auf schwachen Füßen. Die höchsten Würden tragen in China 
durchaus nicht immer das meiste Geld ein, sondern solche Amter, 
bei denen es viele Nebenverdienste gibt. Mit Freuden nahm er 
das Anerbieten des X. an, zumal sich jener bereit erklärte, er wolle 
für die Ausstaffierung (welche die größten Ausgaben verursacht) auf- 
kommen. Er reiste nach Yangtschou zurück, um die notwendigen 
Einkäufe zu machen und Vorbereitungen zu treffen. Einige Tage 
vor dem festgesetzten Termine, als das Begräbnis stattfinden sollte, 
erschien er mit einer ganzen Reihe Wagen, beladen mit allem erdenk- 
lichen Pomp, und zwar nicht aus Papier, wie es sonst gewöhnlich 
der Fall ist, sondern aus Seidenstoff und Damast. In der Nähe 
des Grabes wurden Burgen aus Seide erbaut, eine kleine Stadt mit 
Häusern und Tempeln aufgeführt: eine Herrlichkeit, wie man sie 
seit Menschengedenken noch nicht gesehen. Drei Tage lang blieb 
alles stehen, und stundenweit kam das Volk herbeigeeilt, um zu 
betrachten und zu bewundern. Als dann der Sarg in die Gruft 
hinabgelassen war, wurde das Ganze angezündet und verbrannte 
zu Asche. Die Lebenden hatten sich satt gesehen, jetzt ging die 
Herrlichkeit in den Besitz des Toten über. 

„Womit soll und kann ich dir danken" — das waren die 
ersten Worte, welche Yükaolao am anderen Tage an X. richtete. 
„Mir danken? Meine Bitte ist bescheiden, und dennoch liegt sie 
mir sehr am Herzen. Auch mein Vater steht noch über der Erde, 
und ich wollte demnächst die Begräbnisfeierlichkeiten für ihn hal- 
ten. Ich bitte den großen Mann, auf die Ahnentafel meines Vaters 
den Seelenpunkt zu machen, dann bin ich vollauf entschädigt. u 
Mit Freuden stimmte Yükaolao zu, und in Bälde reiste man nach 
Yangtschou ab. 



— 120 — 

Als es dort ruchbar wurde, der Groß Würdenträger des Kaisers 
Yü komme nach Schantung, um dem Schildkrötenverkäufer beim 
Begräbnis seines Vaters Dienste zu leisten, ja er wolle ihm sogar 
den Seelenpunkt machen, da wagte niemand mehr den Großkauf- 
mann Schildkrötenverkäufer zu nennen, und selbst der Mandarin 
machte schleunigst seine Aufwartung bei ihm. Als dann die Bekann- 
ten und Freunde kamen, um ein Amt zu übernehmen bei den 
Vorbereitungen zum Begräbnis, erschien auch der Mandarin. Yü- 
kao-lao hatte die Oberaufsicht und teilte jedem seinen Posten zu. 
Am schlechtesten aber kam der Mandarin fort: er wurde beauftragt 
die Trommel zu rühren, sobald jemand an der Bahre dem Toten 
die Verehrung gab. — Der Schildkrötenverkäufer hatte sich gerächt, 
und zwar gründlich; fortan galt er als Mann, der nicht nur Geld 
hat, sondern auch einen Namen. 

Am Neujahrstage werden in aller Frühe die Ahnentempel 
geöffnet, und bevor man den Lebenden einen „neuen Frühling" 
gewünscht, sucht man zuvor die Toten auf. Auch Verwandte und 
Gäste, die von außen kommen, ihre Glückwünsche darzubringen, 
werden zunächst in die Ahnentempel geführt. Aufgabe des ältesten 
Sohnes ist es, schnell eine rote Decke auf dem Boden auszubreiten 
und in gebückter Stellung nebenan zu stehen, wenn vor den Ahnen- 
tafeln die Reverenzen gemacht werden. 

Hat man den Verstorbenen ein besonderes Anliegen vorzutra- 
gen, sie um Rat zu fragen, oder macht man ihnen Mitteilung über 
die Verlobung eines Enkels und dgl., werden Weihrauchstengel vor 
den Ahnentafeln verbrannt. Davon rührt ihr geschwärztes Aussehen 
her, das aber nicht wenig dazu beiträgt, sie noch kostbarer zu machen. 

Der Kult der Ahnentafeln ist für die Heiden ein mächtiges 
Hindernis, sich dem Christentum zuzuwenden, für die Christen aber 
vielfach eine Veranlassung, mit den heidnischen Verwandten in 
Unfrieden zu leben. Geht ein Christ seinen heidnischen Verwand- 
ten Neujahr wünschen, wie es üblich ist, soll er natürlich auch zuvor 
den Ahnentafeln Kou-t'ou machen, was ihm aber die Religion zu tun 
verbietet. Erst mit der Zeit, wenn die Heiden nämlich erfahren, wie 
die Christen auch ihre Toten ehren und ihrer fast täglich im Gebete 
gedenken, geben sie sich zufrieden und lassen ihre Vorurteile fahren. 



CN^J^O 



— 121 — 

Der „heiligste Wald". 

^^IS^^^hrsolH/jiL; lin, der „heiligste Wald", steht über einer 
*£^B^e Ehrenpforte am Wege, welcher von der Stadt Tjü-fu zu 
S^f-Ä^J f ' eni Q ra l* e des Konfuzius führt. „Wald" nennen die Chi- 
J^aA^ BEBea ihw Begräbnisplätze, denn dort befinden sich in der 
Regel die meisten Bäume zusammen ; einen Wald ohne Gräber gibt 
es in China überhaupt nicht. Besonders sind es Lebensbäume und 
Weiden, welche bei den Gräbern in Gruppen aufgepflanzt sind. Die 
Lebensbäume sollen für die Gebeine der Verstorbenen von Vorteil 
sein, da die Wurzeln dieser Bäume ein gewisses Tier abhalten, das 
den Toten noch im Grabe beunruhigt ; auch der Glücksvogel Phönix 
(Pung-huang) soll sich mit Vorliebe auf alte Lebensbäume niederlassen. 
Die Weiden sind vielfach dem „Schmerzenstocke" 1 ) (Nge-tschang) 
entsprossen, den die Leidtragenden am Grabeshügel einstecken, 
wenn sie die Leiche beerdigt haben und das Grab verlassen. 

Der Totenacker des Konfuzius ist denn in der Tat ein wahrer 
Wald. Sonst wohl nirgendwo in Schantung finden sich so viele 
Bäume zusammen als an dieser Stelle. Aber er ist nicht nur ein 
Wald von Bäumen, sondern auch ein wahrer WalJ von Gräbern 
und Gedenktafeln. Einen Totenacker von solchem Umfang wird 
man in ganz China kaum anderswo antreffen. Bedeckt er doch eine 
Fläche von 30000 Mu, das beiläufig 5000 preußische Morgen sind. 
Und daß er der „heiligste" Wald ist, daran zweifelt kein Chinese, 
zumal wenn er ein Studierter ist : ist er aber kein Studierter, dann 
formt er eben seine Meinung nach der Meinung jener Leute, die 
„das Denken tun und den Pinsel führen". Ist es doch der „Hei- 
ligste", der in diesem Haine begraben liegt, „der Altvater allor 
Gelehrten, ein Lehrer der Könige und Kaiser während tausend 
Generationen". Als ich kürzlich in Begleitung eines Freundes den 
gewaltigen Totenacker betrat und durchwanderte, wurde es mir 
ganz eigenartig zu Mute. Ja das ist der älteste Friedhof auf der 
ganzen Welt. Eine solche friedliche Ruhe wie sie die dort Ruhenden 
genießen, ist sonst wohl keinem Sterblichen zu teil geworden. Als 
man die Toten dort ins kühle Grab gebettet und der grüne Rasen 
seinen Mantel darüber ausgebreitet, hat sie nie mehr eine frevelnde 
Hand in ihrer Grabeseinsamkeit gestört. 

Manche Sterbliche haben sich bei Lebzeiten feste Mausoleen 
gebaut, und harte Steine wölben sich über ihren Gebeinen zum 

l ) Vergl. U. Seite 289. 



— 122 — 

dauernden Monumente. Aber der Zahn der Zeit hat dennoch den 
Stein zernagt oder vandalische Zerstörungswut hat selbst der Toten 
nicht geschont. Wo einstens Tote ruhten, erheben sich jetzt viel- 
fach Städte und Dörfer und die Asche der Entschlafenen ist im 
Winde zerstreut. Der Totenacker von Tjü-fu ist noch jungfräuliche 
Erde. Noch nie hat darin der Pflug seine Furchen gezogen, noch 
haben dort Lebende je ihr Heim gegründet. Alles in dem „heiligen" 
Walde wird denn auch heilig gehalten und als unantastbar. Bäume, 
deren Alter über die Tausende gehen mag und die gleich einem 
abgelebten Greise sich tief zur Erde bücken, läßt man ruhig absterben 
oder aber gibt ihnen barmherzig eine Stütze, damit sie noch einige 
Jahre länger leben. Und wenn sie dann endlich verdorren, bleiben 
sie doch ungestört an ihrem Platze; wer wollte es auch wagen, 
seine Hand daran zu legen und das Holz für „profane" Zwecke 
zu benutzen ! Solche Baumskelette, welche ihre abgeblichenen Aeste 
in die Lüfte strecken, sind ein Mahuzeichen der Vergänglichkeit 
alles Irdischen. Das Buschwerk und Gras im „heiligen" Walde ver- 
dorrt jeden Winter um im Frühling von neuem zu sprossen und 
zu grünen. Hierher darf sich keine Sichel wagen, und wehe dem 
armen Buben, der sich dorthin verirren sollte, um Brennmaterial 
zu sammeln. Nur den Wahrsagern ist es erlaubt, hier ihr Wunder- 
kraut (Sche-ts'ao = achillea ptarmica) zu suchen, „denn sonst wächst 
es nirgendswo auf der Welt". 

Die gewaltige Totenstadt ist mit einer hohen Mauer umgeben, 
aber nur ein Tor öffnet dorthin seinen Zugang. Von diesem Tore 
zweigen sich drei Wege in verschiedener Richtung auseinander; der 
südliche führt zu dem Grabe des Konfuzius. Dasselbe befindet sich 
in Mitte der Millionen Totenhügel, ist aber noch mit einer eigenen 
Mauer umschlossen. Die nächsten Nachbaren des Konfuzius sind 
sein Enkel und sein Sohn, welcher schon zu Lebzeiten des Vaters 
starb. Das Grab an und für sich entspricht nicht den Erwartungen, 
mit welchen man den „heiligen" Wald betritt. Ein einfacher Hügel 
ist es, gerade wie die vielen Grabhügel ringsumher, nur ein wenig 
größer. Und auch die Steinplatte, welche vor dem Grabe aufgerichtet 
steht, ist höchst einfach und kunstlos. Da haben die Chinesen 
mancher „ehrsamen Witwe" ein weit kostbareres Monument errichtet, 
als ihrem Nationalheiligen. Es ist, als ob der große Philosoph noch 
am Grabe des Lebens Einfachheit und die Vergänglichkeit des 
Irdischen predigen sollte. Ein zwei Fuß hohes Weihrauchgefäß 
aus Bronze, das vor dem Grabe aufgestellt ist, nimmt den Weih- 
rauch auf, der zu Zeiten dort verbrannt wird. Die eigentlichen 



— 123 — 

Totenopfer werden dem hohen Yerstorbenen bekanntlich in den 
ihm geweihten Pagoden dargebracht, wo sich sein „Seelensitz" 
befindet, und somit ist für ein angemessenes Portkommen im Jenseits 
doch genugsam gesorgt. In der Nähe des Grabes sehen wir eine 
„Hütte", die zur Erinnerung an jene Hütte erbaut ist, worin die 
Schüler des geliebten Lehrers sechs Jahre lang um ihren Meister 
trauerten und Grabwache hielten. In fast gleichmäßigen Abständen 
am Wege stehen drei Pavillons mit orangengelben Dachziegeln, 
welche von verschiedenen Kaisern gelegentlich ihres Besuches dort 
erbaut wurden. Dieselben dienten den „Himmelssöhnen 4 ', um darin 
ihre Kleider zu wechseln; denn wer am Grabe Opfer darbringen 
will, muß sich zuvor in Gala legen. Auch die kaiserlichen Herr- 
scher taten das, so oft sie zum Grabe des „thronlosen Monarchen" 
pilgerten. Der letzte Kaiser der Ts'ingdynastie, welcher seinen Be- 
such am Grabe des Konfuzius gemacht hat, war der Kaiser Tj'enliung. 

Den Eingang zur eigentlichen Grabstätte bewachen steinerne 
Löwen, Nashörner, Kamele und steinerne Würdenträger, wie sie 
meistens an den Gräbern hoher Persönlichkeiten zu finden sind. 
Doch mit der steinernen Wache begnügt man sich wohlweislich 
nicht. Auch Lebende wohnen bei den Toten und halten Wache, 
damit nichts gestohlen oder zerstört wird. Es sind das einige Fami- 
lien aus der Nachkommenschaft des heiligen Mannes, die sich dort 
häuslich eingerichtet haben. Bei den meisten Gräbern ist eine 
Steinplatte errichtet, worauf der Name des Verstorbenen eingemeißelt 
ist nebst seinen Amtern und Würden, falls er solche besessen, und 
vor allem das wievielte Glied er im Stammbaum als Nachkomme 
des heiligen Mannes gewesen, denn das ist sein größter Ruhm. 
Freilich, ein Stammbaum, der so alt ist und so viele Generationen 
aufzuweisen hat, ist sonst wohl nirgends auf der Welt zu finden. 
Ist doch der jetzige Nachkomme des Konfuzius bereits der sechs- 
undsiebzigste Stammhalter, und über 2700 Jahre trennen ihn von 
seinem großen Ahnen. „Ich will schlafen bei meinen Vätern", 
ist auch der Wunsch eines jeden Nachkommen des Heiligen. Wenn 
er deshalb in der Fremde stirbt, schafft man seine Leiche, wenn 
nur eben möglich, herüber und begräbt sie im „heiligen" Walde. 

Ein kleiner Fluß, der Süho, nimmt seinen Lauf durch den 
Totenhain und bringt einiges Leben in die Grabeseinsamkeit. Eine 
schöne Brücke verbindet die beiderseitigen Ufer. Ehe man aber 
zum „heiligen" Walde Einlaß findet, hat man noch zwei andere 
Brücken mit Ballustraden zu überschreiten, die jedoch keine Wasser-, 
sondern Landufer verbinden. Die Chinesen belieben nämlich vielfach 



- 124 — 

dorthin Brücken zu bauen, wo kein Wasser ist, wo aber Wasser 
fließt, die Brücken fortzulassen. So eine Lustbrücke soll ein beson- 
deres Dekorativ sein, ähnlich den Toren ohne Häuser oder Mauern. 
Auch dieser Tore gibt es zwei, welche den Weg zum Grabe des 
Konfuzius überspannen, und die man zu durchschreiten hat. Es 
steht aber nichts im AVege, sie zu umgehen, und wer sich einen 
recht bescheidenen Anstrich geben will, tut das mit Vorliebe. Auf 
einem dieser Tore finden wir die Zeichen eingemeißelt, welche 
„ewiger Frühling" bedeuten, nebst anderen Sprüchen zur Verherr- 
lichung des „Heiligen". — Im „heiligen" Walde, wo „ewiger Früh- 
ling" blüht, da muß es sich wunderbar süß ruhen lassen, sollte 
man glauben. Aber ach! Wie viele von den Hunderttauseuden, die 
hier begraben sind, mögen die ewige Ruhe gefunden haben im 
himmlischen Vaterlande! Konfuzius war Heide, und seine Nach- 
kommen sind es heute, nach zweieinhalbtausend Jahren, auch noch. 



Briefwesert. 

^*ie Briefpost in China ist uralt. Spricht doch bereits der alte 
Philosoph Konfuzius (Sü sohu: Mung-tse) „Der Ruf der Tu- 
gend (es ist von einer weisen Regierung die Rede) eilt schnel- 
JMBfttft ^ er dahin als ein kaiserlicher Postbote, sei es zu Fuß oder zu 
Pferde." Und in seinen Plaudereien (Luin jü 7. Buch, 14. Kap.) erzählt 
er von einem Prinzen des Fürstenhauses Tschöng, welcher einen Brief 
zu schreiben hatte. Der Brief mußte, bevor er abgeschickt werden 
konnte, zuvor die Zensur von vier Gelehrten passieren. Der eine ver- 
faßte den Entwurf, der zweite prüfte selbigen auf seinen Inhalt, der 
dritte feilte den Stil, der vierte endlich sorgte für eine geschmackvolle 
bilderreiche Form. Es sind aus der alten chinesischen Literatur (ku uin) 
Briefevorhanden, an deren schwungvoller tiefsinnigen Schreibweise 
sich der Stil der Gelehrten jetzt noch bildet. An diese muß sich der 
gemeine Mann wenden, wenn er den in der Ferne weilenden Eltern oder 
einem Freunde ein Lebenszeichen von sich geben will. Wenn dann das 
Schreiben endlich in die Hände des glücklichen Empfängers gelangt, 
muß auch dieser wieder einen Gelehrten aufsuchen, wenn er den In- 
halt desselben verstehen will. Selbstverständlich ist es unter diesen 
Umständen kaum möglich, sich brieflich Geheimnisse mitzuteilen, abge- 
sehen davon, daß sich die Chinesen nichts daraus machen, anderer Leu- 
te Briefe zu öffnen und zu lesen. Es ist das um so leichter, da man als 



— 125 — 

Klebemittel zum Briefschließen weder Kleister gebraucht noch Gummi 
arabicum, sondern die Zahnpilze, welche sich an die Ränder der 
Zähne festsetzen. Der lange kleine Fingernagel wird als Abkratz- 
instrument gebraucht, und wer täglich mehrere Briefe zu schließen 
hat, darf ruhig auf eine Zahnbürste verzichten. Jeder Europäer 
wird sich schon geekelt haben, nicht minder wenn er einen Chine- 
sen seinen Brief schließen sab, als wenn er beim Empfang desselben 
die gräulich weiße Masse am Rande des Kuverts öffnen mußte. 

Briefsteller gab es seit unvordenklichen Zeiten. In denselben 
finden sich die genauesten Anweisungen, wie man sein Schreiben 
zu verfassen hat 1 ). Selbst über die Reihen der Zeilen, über das 
Format des Briefes und des Umschlages gibt es die genauesten 
Vorschriften. Auch fehlen in demselben nicht eine Anzahl Muster- 
briefe für alle möglichen Fälle, nur eine Art Briefe fehlen, nämlich 
die — Liebesbriefe. 

Was zunächst den Briefumschlag betrifft, so gibt es verschie- 
dene Arten desselben. Briefe der Beamten, z. B. eines Mandarinen 
an seinen Vorgesetzten, werden in großen weißen Kuverts und festem 
Papier verschickt. Andere Briefe offizieller Natur oder rein geschäft- 
lichen Inhalts sind gleichfalls von weißer Farbe, haben aber eine 
kleinere Form. Auf der Adreßseite tragen sie einen roten Papier- 
streifen, der entweder eigens aufgeklebt wird oder aufs Kuvert 
gedruckt ist. Handelt es sich um eine Todesanzeige, wird die 
innere Seite des Streifens, welche grau ist, nach außen gekehrt. Ist 
der Empfänger aber auch in Trauer, so muß ein blauer oder weißer 
Streifen benutzt werden. Rechts von dem Streifen ist auf dem 
Umschlage der Betimmungsort verzeichnet mit der Bitte, das Schrei- 
ben gütigst an den „großen Mann" so und so gelangen zu lassen. 
Schickt ein Sohn seinem Vater einen Brief, so ist es verboten, 
dessen Namen zu bezeichnen; er begnügt sich deshalb damit, auf 
dem roten Streifen ein sung ngan tja sin: „Gelegentlicher (eigentlich 
friedlicher) Brief nach Hause u zu schreiben. Damit man aber wisse, 
an wen der Brief zu schicken ist, fügt er rechts seinen eigenen Namen 
bei. Links vom roten Streifen ist der Ort des Absenders bekannt- 
gegeben. Auf der Umseite wird das Datum mitgeteilt, wann der Brief 
„versiegelt" (Siegellack wird nicht benutzt) und abgeschickt wurde. 

Außer diesen Umschlägen, welche meistens geschäftliche Schrei- 
ben umschließen, gibt es noch eine Unmenge bunter Kuverts. 

l ) Auch im Tsieii-tse-uin -Gedicht der zehntausend Buchstaben, zur Zeit der 
Liang-Dynastie, 500 Jahre nach Chr., verfaßt) wird eine Regel über den Brief ge- 
geben. Derselbe soll kurz gefaßt sein und nur über das Notwendige berichten. 



— 126 — 

Ebenso wie man in Europa Ansichtskarten sammelt, könnte ein 
Liebhaber in China Hunderte verschiedener Briefumschläge sammeln, 
die alle auf der Außenseite verschiedene Bilder und Embleme tragen. 
Nicht immer ist es leicht zu enträtseln, was die Bilder bedeuten 
und die Zeichen besagen wollen. Vor mir auf dem Tische liegt 
eine Anzahl solcher Umschläge, von denen ich einige erklären will. 

Auf einem sehen wir das Bild eines Greises, der auf einem 
Hirsche sitzt und seine Augen betrachtend auf einen Pfirsich gerichtet 
hält. Der Alte versinnbildet das Glück (süßes Ruhen, Nichtstun), 
der Hirsch = lu, (gleichlautig mit lu = hohes Einkommen) ein Amt, 
das gute Sportein abwirft ; der Pfirsich endlich soll ein langes Leben 
andeuten (weil der Genuß von Pfirsichen den Menschen besonders 
alt machen soll.) 

Ein anderer Umschlag zeigt uns zwei breitgeschwänzte Fische. 
Es hat damit folgende Bewandtnis. Ein Unbekannter, aus weiter 
Ferne kommend, brachte jemandem Fische zum Geschenke. Als die- 
selben hergerichtet wurden, fand sich im Innern eines Fisches ein 
Brief auf Seide geschrieben. Derselbe kam von eine_m guten Freunde, 
der den Fisch zum Träger seiner Empfindungen gemacht. Vielleicht 
fürchtete er, das Schreiben könne unterwegs verloren gehen, daß 
er auf dieses außergewöhnliche Mittel sann. Seitdem hat das Zeichen 
für Fisch auch zugleich die Bedeutung für Brief. 2 ) 

Dasselbe gilt von dem Zeichen für Wildgans; und eine „Wild- 
gans schießen" (sche-ien) heißt so viel, als einen Brief abschicken. 
Deshalb findet man auch diesen Vogel oft auf Briefumschlägen und 
Briefpapier. Ein chinesisches Geschichtenbuch (Han-schu-su-djan- 
tschuan) gibt uns darüber folgende Aufklärung : Zur Zeit der Han- 
Dynastie (206 n. Chr.) war einstmals Kaiser Sun mit seinem Gefolge 
auf der Jagd. Das erste, was der Kaiser erlegte, war eine Wildgans. 
Als man dieselbe aufhob, fand sich an ihren Füßen ein zusammen- 
gelegtes Stück Seide festgebunden. Bei genauerer Untersuchung 
stellte sich heraus, daß es ein Brief war, worin dem Kaiser wichtige 
Kriegsnachrichten mitgeteilt wurden. Der Ausdruck „ein Fuß weiße 
Seide" (su-tschi) hat in bezug auf dieses Ereignis seither auch die 
Bedeutung von Brief. 

Außer der Wildgans sieht man auch das Bild des „Geister- 
Kranichs" (sien-ho) auf Briefen und Umschlägen. Dieser Vogel soll 
sehr lanere leben oder gar unsterblich sein und auf seinem Rücken 

2 J Auf einer Inschrift ist zu lesen: 
Bringt das Fischlein einen Brief heran, vereinen sich die Herzen; Spielt ein 
Spätzlein in der Pforte, wohnt Friede dort und Einigkeit. 



— 127 — 

nehmen die „Buddha-Heiligen" (sien-jin) ihren Einzug ins Nirwana. 
Ein langes Leben aber gehört mit zu den meist erstrebten Glücks- 
gütern der Chinesen. Wer seinem Freunde solches im Briefe 
wünscht, tut es in Wort und Bild. 

Ahnliches gilt von Umschlägen, die mit Fledermäusen verziert 
sind. Fu heißt Glück, aber auch Fledermaus. Da der Ausdruck 
Glück ein abstrackter Begriff ist, gebraucht man ein Bild, das mit 
Glück den nämlichen Laut hat. 

Einem Gelehrten wünscht man den höchsten Kangknopf, die 
äußerste Sprosse auf der Weisheitsleiter. Ein Umschlag, der mit einer 
goldenen Blume geschmückt ist, soll Vermittler unseres Wunsches 
sein, weil der Glückliche, der das höchste Examen bestanden, am 
Tage seiner Ehrung mit einer goldenen Lilie geschmückt wird. 3 ) 

Wer einen Brief nach Hause schickt, der auf der Außenseite 
das Bild eines Pferdes oder Kamels trägt, kündet damit seine baldige 
Heimkehr an. „Der Pferdehuf tritt auf Blumen, und duftend kehrt 
der Reiter heim," heißt es in dem Text. 

Auf einem anderen Umschlage finden wir eine Art Glückwunsch: 
uen sehe ju ji. „Möge dir alles nach Wunsch gehen. u Oder wir 
sehen das Bild einer Sonne, die soeben aus dem Meere emporsteigt. 
Darüber ist zu lesen: Ju ji tschi schöng: „Möge dein Emporsteigen 
(zu Würden und Aemtern) gleich dem der Sonne sein." Wieder andere 
tragen ein Bild, das irgend eine Allegorie zur Darstellung bringt; 
einige Textworte alter Schriftsteller dienen dabei als Erklärung. So 
z. B. sehen wir einen Greis mit einem Krummstabe unter einer knor- 
rigen Fichte sitzen. Vor ihm steht ein Knirbs, der mit der Rechten 
nach Osten zeigt. Der Alte sucht seinen Freund, hat sich aber vom 
Wege verirrt; der Kleine zeigt ihm denselben. Die Nutzanwendung 
ist: Es gibt Zeiten, wo auch der Bejahrte noch die Jugend fragen muß. 

9 ) Das Anheften der Blume (an den Hut) geschah in früheren Zeiten von 
der Kaiserin selbst, imd jeder, der das höchste Examen (tsch'uan-juen) bestanden, 
hatte das Recht, eine kaiserliche Prinzessin zu ehelichen. Handelte es sich um 
einen Gelehrten, der das Zivilexamen gemacht, mußte derselbo bei der Zeremonie 
der Kaiserin seinen Rücken zuwenden. Hatte er aber das höchste Militärexamen 
bestanden, durfte er der Kaiserin gegenüberstehen und ihr sogar ins Gesicht 
sehen. Es hatte das darin seinen Grund, daß er als höchster Militär Kaiser und 
Kaiserin beschützen mußte, zurzeit von Kriegen aber in die Lage kommen konnte, 
wo ihm das persönliche Kennen von Nutzen war. Während der Sungdynastie 
(960 — 1126) stellte sich einst ein bemoostes Haupt von 82 Jahren, Lianhao mit 
Namen, um sein Examen zu machen, das er denn auch glücklich bestand. Als 
er dann um die Hand einer kaiserlichen Prinzessin warb, wurde ihm dieselbe 
verweigert, mit dem Bedeuten, diese Gunst bestehe nicht mehr — sie war soeben 
vom Kaiser aufgehoben und blieb es bis auf den heutigen Tag. 



— 128 — 

Aus der Monge anderer Symbole, womit vielfach die Brief- 
umschläge geschmückt sind, nenne ich noch folgende: Bambus, 
Pfirsichblüte, Pflaumenblüte, Chrysantemum, Schmetterlinge, Lotos- 
blüte, Wohlgeruchsgras (hiang-ts'ao), ein Schiff auf bewegten Wellen 
u. s. w. Die Erklärung des einzelnen würde uns zu weit führen. 
Auch Schriftzeichen in alter Form und eine Art Monogramme sind 
ein beliebtes Verzierungsmittel. Dieselben beziehen sich meistens 
auf die Glückseligkeiten der Chinesen als da sind: langes Leben, gutes 
Einkommen, Friede und Eintracht, eine Schar gehorsamer Söhne. 

Schreibt man Briefe an Freunde und Bekannte, wird in der 
Regel buntes Papier genommen mit allerhand Zierrat. Derselbe ist 
ähnlich wie bei den Kuverts. Aber auch Schreiben an Vorgesetzte 
und Höhergestellte dürfen derartigen Bilderschmuck tragen, falls es 
sich um keine Kung-sche (Geschäftssache) handelt. Es gilt sogar 
als vornehm, fünf Bogen zu benutzen, von denen jeder eine andere 
Farbe hat. Schreibt man zu Neujahr einen Brief oder gelegentlich 
freudiger Ereignisse, wird rotes Papier benutzt. Der Umschlag 
solcher Briefe darf indes niemals von der gewöhnlichen Form und 
Farbe abweichen. 

Auch das Falten der Briefe hat nach bestimmten Regeln zu 
geschehen. Für Sendungen an hochgestellte Personen gebraucht man 
meistens einen sehr großen Umschlag, so das die einzelnen Bogen 
nicht zusammengelegt zu werden brauchen. Außer dem Briefe liegt 
auch eine Visitenkarte bei, weil der Brief selber den Namen des 
Absenders nicht trägt. Zum Schlüsse ist nur bemerkt, daß man seinen 
Namen auf einer Karle eigens beigefügt hat. Besonders schwierig ist 
das Zusammenfalten von Briefen, die keinen Umschlag haben. Es 
gehört viel Geschicklichkeit und Übung dazu, um einen solchen Brief, 
wenn er geöffnet wurde, wieder in die alten Falten zu bringen. 

Was die Beförderung von Briefen angeht, so gab es schon 
seit grauer Zeit Regierungsbriefboten zu Pferde und zu Fuße. Die 
Briefboten zu Pferde wechseln ihre Tiere auf bestimmten Zwischen- 
stationen, der Reiter aber darf seine Sendung keinem andern anver- 
trauen. Der „Briefsack" ist meistens ein viereckiges Paket und dem 
Träger auf den Rücken geschnürt. In keinem Falle ist es erlaubt, 
dasselbe anderswo zu befestigen. Vielleicht glaubt man, das Pferd 
trüge leichter, wenn der Reiter sein Gepäck selber trägt. Es wer- 
den von solchen Boten oft in einem Tage ganz unglaublich große 
Strecken zurückgelegt, besonders wenn es sich um eine Eilsendung 
handelt, die» durch eine daran befestigte Hühnerfeder erkennbar 
gemacht ist (tji-mao-uin-schu). Dann wird keine Rücksicht genommen 



— 129 — 

auf Wind und Wetter, auf Tag oder Nacht. Unaufhaltsam geht es 
voran, denn wenn das bezeichnete Ziel zur festgesetzten Zeit nicht 
erreicht ist, wird der Postbote hart bestraft. Man erzählt, daß solche 
Boten während 24 Stunden bisweilen Strecken von 800 Li zurück- 
legen, d. h. einen Weg von 400 Kilometer = 80 Stunden. 

Besagte Boten vermitteln den brieflichen Verkehr der Beamten 
unter sich und besonders mit der kaiserlichen Hauptstadt. Dabei 
ist nicht ausgeschlossen, daß gelegentlich gegen gutes Trinkgeld 
auch ein Privatbrief mitgenommen wird, im übrigen aber mußte 
sich bisheran der gemeine Mann selber seinen Boten stellen, wenn 
er einen Brief zu schicken hatte. Erst in den letzten Jahren ist 
eine Art regelrechtes Postwesen geschaffen, Fast in jeder Bezirks- 
hauptstadt besteht eine Postagentur, welche auch den Verkehr mit 
dem Auslande vermittelt. Für uns Missionare bedeutet das eine 
ungemeine Erleichterung, da wir nicht mehr genötigt sind, weit aus 
dem Innern Boten an die Hafenplätze zu schicken, um die Sendungen 
aus Europa eigens abholen zu lassen. Freilich liegt das moderne 
Postwesen der Chinesen noch ziemlich in den Windeln, aber der 
Anfang ist doch gemacht. Ob das Kind gedeiht, hängt davon ab, 
ob die Chinesen selber tüchtig Briefe schreiben und daran hapert 
es eben. Viele Herzensempfindungen haben sie nicht auszugießen-, 
dazu verstehen wie anfangs bemerkt, jetzt noch sehr wenige Zopf- 
träger, zu schreiben; der Verkehr ist also so ziemlich nur auf die 
Geschäftsbriefe der Kaufleute u. s. w. beschränkt. 



Markt und Messe. 

jie Chinesen feiern keinen Sonntag, aber sie haben ihre 
Markttage, die für manche Zeiten der Ruhe und Erholung 
'*% bedeuten. Auf dem Markte gibt es etwas neues zu sehen 
§ und zu hören, und allerhand Leckerbissen werden feilgeboten, 
die man daheim nicht immer erhalten kann. Zudem schleicht das 
Leben in so einem Bauerndorf ungemein eintönig dahin; wenn es 
obendrein nichts zu arbeiten gibt, fängt selbst der Chinese sich zu 
langweilen an und bekommt das liebe Nichtstun satt. Doch in 
nicht zu weiter Entfernung ist alle fünf Tage Markt ; dorthin lenken 
sich dann die Schritte vieler, und die Wege zu dem Marktflecken 
gleichen beinahe den Kirchwegen am Sonntage in Europa. 

R. Pieper, „Neue Bändel". 9 




— 130 — 

Die großen Messen der Chinesen aber sind seine Festtage mit 
Oktavfeier. Auch den religiösen Gefühlen wird bei dieser Gele- 
genheit Rechnung getragen. Immer ist an solchen Plätzen irgend 
eine Pagode, worin während dieser Zeit eine Anzahl Bonzen besonders 
fleißig ihres Amtes walten. Ihr Werk besteht darin, daß sie die 
Opfersapeken der Frommen in Empfang nehmen und eine Glocke 
schlagen, wenn die Sapeken in die Kiste rollen. Dadurch soll der 
Geist aufmerksam gemacht werden, andernfalls könnte er die Bitte 
überhören, und der Arme hätte umsonst gefleht und geopfert. Nach 
der Menge der Sapeken richten sicli die Glockenschläge, ganz 
natürlich, denn je größer das Opfer, um so mehr Anspruch hat der 
Chinese auf Erhörung. 

Mit diesen Messen sind auch fast immer Theateraufführungen 
verbunden, die gleichfalls in der Nähe der Pagode auf einer Bühne 
gegeben werden. Selbstverständlich bildet das ein weiteres Moment, 
durch das nicht nur fromme Seelen angelockt werden, sondern 
alles, was nur Beine hat, denn schau- und hörlustig ist jeder 
Chinese. 

Die Messen fallen hauptsächlich in die Frühlings- und Herbst- 
tage. Um diese Zeit baut der gemeine Mann sein Haus und auf 
der Messe findet er das nötige Material an Holz; ja selbst Fenster 
und Türen kann er in genügender Menge und nach Belieben aus- 
suchen. Der Bauer findet an Ackergeräten, soviel er bedarf und 
die Hausfrau kann alles Mögliche für ihre Küche kaufen, falls ihr 
das nötige Geld nicht fehlt. Im Herbste werden Getreidekörbe 
ausgestellt und sonstige Bedarfsartikel für den Winter. Überhaupt 
gibt es kein Ding, das nicht auf dem Markte oder der Messe einen 
Abnehmer fände. „Wird etwas verkauft, fehlt es nie an Kauflustigen," 
sagt ein chinesisches Sprüchwort. 

Märkte und Messen sind vor allem ein Sammelplatz zweifel- 
hafter Elemente. Darum schickt der Mandarin auch immer einige 
Polizisten hin, die für Ordnung zu sorgen haben, Spielhöllen auf- 
suchen müssen und dio Diebe erwischen sollen. Zudem steht jedem 
Markte sowohl als ganz besonders der Messe ein „Haupt" vor, 
welches verantwortlich gemacht wird für etwaige Störungen. Aber 
das Markthaupt (Tsi-t'ou) und des Mandarinen Polizisten arbeiten 
unter einer Decke. Gauner, Taschendiebe und Spielhöllenbesitzer 
müssen eine Vergütung zahlen, und dann läßt man das Gesindel 
nach Belieben walten. Schon vor Beginn der Messe stellt sich der 
Diebekönig beim Tsi-t'ou vor, natürlich nicht mit leeren Händen. 
Er wird gefragt, mit wie vielen „Gesellen" er diesmal das „Geschäft" 



— 131 — 

betreiben wolle. Ist die Bande gar zu groß, so können nicht alle 
zugelassen werden, denn die Zahl der Diebe muß immer im Ver- 
hältnis stehen zur Größe der Märkte. 

Ist nun jemanden etwas gestohlen worden, wendet sich der 
Bestohlene an das Markthaupt, falls er nicht von vornherein auf 
Rückerstattung verzichten will. Handelt es sich um einen Mann 
mit wenig Grütze, und an solchen werden Diebereien mit Vorliebe 
verübt, so wird er mit guten Worten hingehalten. Andere aber, 
die sich damit nicht zufrieden geben, bekommen am nächsten Tage 
die ge'stohlenen Gegenstände zurückerstattet, natürlich gegen eine 
„Vergütung" für die Mühewaltung. Deshalb dürfen die gestohlenen 
Sachen erst nach drei Tagen verkauft werden, damit dem Eigen- 
tümer noch Gelegenheit gegeben ist, wiederum in den Besitz seines 
Eigentums zu kommen. Die Mühewaltungsgelder verteilt die noble 
Bande unter sich. Handelt es sich um gestohlenes Geld, so wer- 
den 20 bis 30 Prozent zurückbehalten. „Die ganze Summe war nicht 
mehr zu haben, u sagt der Tsi-t'ou, „da die Lumpen bereits einen 
großen Teil davon verbraucht hatten. u 

Bemerkt sei noch, daß ein Dieb, der sich erwischen läßt, 
nachher die empfindlichste Strafe von seinem Lehrmeister zu erwarten 
hat, und diesen deshalb vor allem fürchtet. Er hat seine Sache 
nicht gut gemacht und sich dadurch als ungelehriger Schüler erwie- 
sen. Die Lehrzeit dauert meistens mehrere Jahre. Versteht er 
es, mit einem halben Dutzend Schellen, die ihm an den Kleidern 
befestigt sind, herumzutanzen, ohne daß die Schellen einen Ton 
von sich geben, darf er sich allmählich an die Taschen seiner Mit- 
bürger heranwagen, um daraus zu stibitzen, was der Mühe wert 
ist. Meistens geschieht das im Gedränge, woran es auf Märkten 
und Messen ja niemals fehlt. 

Auf Märkten und Messen wimmelt es von Bettlern. Sie suchen 
das Mitleiden der Mitmenschen zu erzwingen, weshalb sie sich nicht 
selten das Gesicht mit Messern zerreißen und mit dem rieselnden 
Blute waschen. Will auch das nicht helfen, schmieren sie von dem 
Blute auf die ausgelegten Eßwaren, die ihnen dann unter Fluch- 
und Schmähworten überlassen werden. 

Zum Theater erscheinen auch die halbwüchsigen Töchter hei- 
ratslustiger Mütter. Denn ob die Tochter selber heiraten will, ist 
Nebensache ; will's die Mutter, dann hat die Tochter Aussicht dazu, 
sonst muß sie sich gedulden. Heiratsvermittler, männlichen und weib- 
lichen Geschlechtes, machen deshalb geflissentlich die Runde und 
dabei spinnt ihre Phantasie die Fäden künftiger Heiraten. 



— 132 — 

Zur Messe gehen heißt im Chinesischen -k'an miao* zur Pagode 
pilgern. Ahnlieh wie die Jahresmessen daheim einen religiösen 
Ursprung haben, sind auch die Jahrmärkte in China durch Wall- 
fahrten zu einer berühmten Pagode entstanden oder durch »wunder- 
bare Begebenheiten", die sich irgendwo zugetragen haben. Dali 
der geschäftssinnige Chinese da auch künstliche .Wunder* erfinden 
kann, ist selbstverständlich, zumal das Volk zum Aberglauben neigt 
und das Frauengeschlecht vielfach allerhand Nöten hat, die ein 
berühmter neugebackener Gott ihm abnehmen soll. Zu den Andäch- 
tigen und Frommen gesellen sich allmählich die Geschäftigen und 
in kurzem ist ein Wallfahrtsort fertig und ein Markt damit verbunden. 

Übrigens sollen die ersten Anfänge der Märkte sehr weit ins 
Altertum zurückgehen. Die Geschichtsbücher berichten, daß des 
Reiches Urahne, der große Kaiser Schinnung, zuerst mit der Ein- 
richtung von «Zusammenkünften* Cchui) begonnen hat, zum gegen- 
seitigen Austausch von Waren und Lebensmitteln. Es ist dort auch 
die Rede von -Brunnenmärkten* (tsche-tsing). Da die Brunnen 
von jeher Gemeingut des Dorfes waren, also ein Platz, an dem 
sich täglich viel Volk in der Frühe einfand, benutzte man dieselben 
zugleich als Yersammlungsstätte zum Kaufen und Verkaufen. 

Frauen sollen sich von den Märkten (im Gegensatze zu den 
Messen) fernhalten und deshalb ist ihr Geschlecht auf denselben 
auch nur spärlich vertreten. .Alte Weiber und Witwen gehen zum 
Markte,* sagt ein chinesisches Sprüchwort, -weil sie zu Hause weder 
Geld haben noch einen Mann.* Sie warten meistens bis gegen 
Abend, ehe sie ihren Gang dorthin machen, während die Bauern 
s^erne die Morgenstunden wählen und Kaufleute die Mittagszeit. 

Die Verzollung von Waren leitet Mentius von einem habsüch- 
tigen Menschen ab, der auf den Märkten herumspionierte, billige 
Gegenstände aufkaufte, um sie später wieder teuer zu verkaufen. 
(Mengtse IL 2.) 

Der so regelreiche Konfuzius (zumal reich an Regeln, die sich 
auf das Essen beziehen) verschmähte Fleisch, das man auf dem 
Markte gekauft hatte, fürchtend, daß es nicht rein sei. Wenn es 
zu damaliger Zeit schon war wie heutzutage, hat der ^alte Heilige" 
nicht ganz Unrecht gehabt, denn vielfach ist es zweifelhafte Ware, 
die dort zum Verkauf feilgeboten wird. 





— 133 — 

Reklame. 

er Durchschnittschinese betreibt die Reklanle noch in ihrer 
ursprünglichen Form: er bedient sich der Stimme. Tag 
- für Tag: Jahraus jahrein zieht er mit seinem „Warenlager 
BSkoS ÜDer die Straße und schreit von morgens früh bis abends 
spät, um das anwohnende und vorübergehende Publikum zu ver- 
anlassen, bei ihm zu kaufen. Oft hat er sich schon müde geschrieen, 
ehe jemand ihm etwas zu verdienen gegeben. Da klingt es denn 
bisweilen aus dem Tone seiner Stimme, daß er heute keinen guten 
Tag gehabt; fast so etwas wie vom Echo des Langohren Klage: 
„Die Natur schuf mich im Grimme, aber sie gab mir eine schöne 
Stimme". Hat er aber gute Geschäfte gemacht, war heute für ihn 
ein Glückstag, dann singt er ganz melodisch und wonnig ; es hört 
sich fast an wie das Gezwitscher einer Frühlingsamsel. Zumal sind 
es die Kinder, oft Knirpse von 8 — 10 Jahren, die mit ihrer metall- 
hellen Stimme Kleinigkeiten anpreisen, womit die Eltern sie auf 
die Straße geschickt haben. Mancher kauft denn schon etwas um 
des Kleinen willen, der so rührend singt. Aber es fehlt auch nicht 
an heiseren Kräh- Krächz- und Knarrstimmen, die allen Klang ver- 
loren haben, und auch ihren Inhabern wird etwas abgekauft — weil 
man des Geschreies überdrüssig ist. 

Der chinesische Straßenverkäufer betreibt seine Reklame nicht 
nur mit der Stimme, sondern in der Regel handhabt er auch ein 
Instrument. Bald ist es eine alte Trommel, bald ein zerbrochener 
Topf, bald eine ausrangierte Pfeife oder zerknicktes Blashorn, nicht 
selten begnügt er sich mit einem Stück Eisen oder Blech, an das 
er mit einem Nagel schlägt: Geräusch zu machen ist die Haupt- 
sache, und er wünscht, daß es ein originelles sei. Jedermann soll 
sofort heraushören, der Verkäufer so und so ist da. 

Lithaßsäulen zum Ankleben von Anschlägen gibt es in China 
nicht. Indes werden in den Städten mit Vorliebe die Tore der 
Umfassungsmauern benutzt, um dort meterlange Bekanntmachungen 
anzuheften. Darauf ist zu lesen wo ein neues Geschäft eröffnet 
und daß man dort unerhört billig und vorteilhaft kaufen kann. 
An die Stadttore läßt der Mandarin auch seine Bekanntmachungen 
kleben, sowie die Verordnungen seiner Vorgesetzten oder des Kaisers, 
falls sie das Volk betreffen. Reichen die Stadttore nicht aus, dann 
bieten die Außenwände großer Häuser eine beliebte Anklebefläche 
oder die Mauern von Pagoden. Angesehene Geschäfte lassen auch 
rote Zettel drucken, auf denen die Vorzüglichkeit der verkauften 



- 134 — 

Waren gepriesen wird; die Zettel werden in die Kisten oder Schach- 
teln zu den Waren gelegt. Anderen Gegenständen ist der Firmen- 
name angepinselt oder eingebrannt, wie z.B. den Schreibpinseln, 
Tuschen, Fächern, Porzelanwaren und dgl. 

Kino eigene Art von Reklame betreiben die chinesischen Bonzen, 
wenn Hie oine neue Pagode bauen wollen und das Geld dazu nicht 
Hießen will. Ein namhafter Asket läßt sich einen mit Nägeln voll- 
genpiokten Kasten zimmern; worin er nur mit knapper Not sitzen 
kann. Will er aufstehen oder sonst sich bewegen; so kommt er mit 
den Nägeln in Berührung; zwei Riesennägel aber stehen seinen 
Augen gegenüber und warten auf den Augenblick, wenn der arme 
Bonze vor Müdigkeit zu nicken beginnt. Ist an den Nägeln Blut zu 
Heben, ho gelten sie als Wundernägel und sollen eine Heilkraft besitzen 
gegen tausenderlei Gebrechen. Deshalb dauert es denn auch gar 
nicht lange, bis alle verkauft sind. Sobald der letzte verschwunden, 
ist der Asket erlöst; er hat gute Geschäfte gemacht, und die Pagode 
kann erbaut werden. Auf solche Pagoden besitzen die Bonzen ein 
Eigentumsrecht, während die anderen, welche durch Beiträge von 
Heiden erbaut wurden, den betreffenden Dörfern gehören, welche 
zum Bau beigetragen haben. Besagtes Kastensitzen heißt zuo-kuen- 
mu-hua, d. h. im Sarge sitzen und um Almosen bitten. Für den einen 
oder andern Bettler wird der Kasten in der Tat ein Sarg, weil er 
vor der Erlösung darin stirbt. Dafür gilt er denn aber auch als 
Heiliger und wird als solcher verehrt. Falls es der fromme Bettler 
aber nicht in seinem Sarge aushalten sollte, kann er mit Erlaubnis 
seines Vorgesetzten sich daraus befreien lassen; er hat dann aber 
auch sofort Abschied zu nehmen vor der Brüderschaft der Mönche, 
muß sich das Haar wachsen lassen und in die Welt zurückkehren. 

Auch verkaufen die Bonzen Reklamezettel mit Gebetserhörun- 
gen. Da steht z. B. auf einem : Ich N. N. bin eine gläubige Seele 
(sin-nü) und da habe ich der geliebten Göttin im Tempel N. N. 
seßhaft, 300 Bekanntmachungszettel versprochen, auf denen ich die 
mir angediehene Hülfe kundtue. Ich lasse dieselbe an allen Straßen- 
ecken aufkleben, und jeder der in Not ist, eile zur nämlichen Göttin. 
Solche Zettel haben meistens eine in die Augen springende Form 
oder Farbe oder werden in auffälliger Weise schief oder über 
Kreuz aufgeklebt, um die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu 
fesseln. Wer das Anheften aber besorgt, macht es sich in der Re- 
gel bequem; er zieht es vor, an einer Ecke mehrere Dutzend 
zusammenzuleimen; die Hauptsache ist ja, daß das Gelübde erfüllt 
wird, d. h. daß alle 300 Zettel verklebt sind. 



— 135 — 

Weithin schallende Reklame macht der chinesische Schmied mit 
seinem Stahlhammer. Unsere bezopften Cyklopen haben nirgends 
eine bleibende Stätte und sie müssen sich selber ihre Kunden suchen. 
Sind sie irgendwo in ein Dorf eingekehrt und flott an der Arbeit, 
schwingt der Altmeister seinen Stahlhammer und verarbeitet damit 
das glühende Eisen. Dieser Hammer ist viel kleiner als die zwei andern, 
welche Geselle und Lehrjunge handhaben; aber seinen Klang hört 
man meistens schon im nächsten Dorfe. Dann wissen die Leute dort 
auch, daß der Schmied seine Werkstätte aufgeschlagen hat und sie 
bringen ihm Arbeit oder laden ihn ein in ihr Dorf zu kommen. 

Einer Art blutiger Reklame bedienen sich chinesische Wund- 
ärzte die Wundermehl verkaufen für Wunden. Um das Publikum 
zu überzeugen, reißt sich der Verkäufer mit einem scharfen Messer 
die Waden los, streut vom besagten Mehl in die Wunde, nimmt 
einen großen Fächer zur Hand und fächelt so lange bis die Wunde 
„vernarbt" ist; und das ist in wenigen Augenblicken geschehen, 
wie sich die Menge augenscheinlich überzeugen kann. 

Schrecken erregende Reklame betreiben die chinesischen Man- 
darine. Die Eingänge zu ihren Tribunalen sind meistens mit aller- 
hand Mord- und Quälinstrumenten verziert, und auf der Hauptein- 
gangspforte erblickt man zwei mächtige Gestalten mit Glotzaugen 
und gewaltigen Schwertern in der Hand. Der ganze Apparat soll 
den Untertanen die nötige Achtung einflößen gegen ihre Obrigkeit 
und sie daran erinnern, daß der Herr über Leben und Tod hier 
seine Behausung hat. Haben die Mandarine einen armen Sünder 
um Kopfeslänge kürzer gemacht, muß der Kopf als Warnungszeichen 
am Orte der Tat oder vor dem Stadttore an einen Baum aufgehängt 
werden, damit er stumm die unerbittliche Gerechtigkeit verkünde, 
die ihn, — vielleicht den Unschuldigen — getroffen hat. Als ich 
vor einigen Tagen in die Bezirksstadt Kuentnch'eng ritt, sah ich vor 
dem östlichen Stadttore an einer Reihe Weiden 30 Köpfe baumeln : 
ein schauerlicher Anblick. Es waren die Häupter einer Räuber- 
schar, die es im vorigen Herbste gewagt hatte, am hellen Tage 
in die Stadt zu dringen und einen reichen Mann auszuplündern. 
Auch hatten die Räuber dabei die Waffen eines Militärmandarins 
erobert, der sich bei Zeiten aus dem Staube gemacht hatte. 

Wenn die gewöhnliche Reklame erfolglos bleibt, weiß der 
findige Chinese andere Mittel auszuspintisieren, um seine Ware an 
den Mann zu bringen. Hier ein Beispiel. Schreinermeister Laopa war 
tüchtig in seinem Geschäft und verstand sich darauf, seine Kunden 
zu befriedigen. Vor allem aber war er ein Meister darin, selbige 



— 136 — 

über die Ohren zu hauen, und dabei machte er die ehrsamste Miene 
von der Welt. Leider brach eine Hungersnot aus; die Bauern hatten 
wenig geerntet und darum auch wenig Geld. Anstatt sich Möbel 
machen zu lassen, verkauften sie noch die unnötigen, und Meister 
Lopa stand deshalb mit seinen Gesellen arbeitslos und brotlos da 
und mußte auf Rat sinnen. Seinen noch vorrätigen Holzbestand 
gebrauchte er, um Spinnräder daraus zu machen, und als er damit 
fertig war, fand er zu seiner Freude, daß es mehr geworden waren, 
als er anfangs zu bekommen gehofft hatte. Zweihundert Räder 
standen in seiner Werkstatt fix und fertig aufgestapelt, aber jetzt 
hieß es dieselben an den Mann zu bringen. Doch auch dazu fand 
Meister Lopa ein Mittel. Er schickte seine Gesellen und Söhne, 
vor denen jeder ein Spinnrad trug, mit den nötigen Unterweisungen 
in die Stadt. Die Gesellen kehrten vorläufig in eine Herberge ein. 
Einer der Söhne aber ging zu einem großen Allerleigeschäfte und 
hielt Nachfrage nach Spinnrädern. „ Können damit leider nicht die- 
nen," war die Antwort des Kaufmanns. Nun mußten auch die 
andern Söhne in gemessenen Zwischenräumen bei dem Geschäfte 
Anfrage um Spinnräder halten. Eigentümlich, so hatte schon der 
Ladenbesitzer gedacht, daß die Leute jetzt alle Spinnräder kaufen 
wollen. Das müssen wohl die schlechten Zeiten tun; die Weiber 
wollen sich mit Spinnen etwas verdienen. Gerade, als er so dachte, 
sah er jemanden über die Straße gehen, auf dem Rücken zwei 
Spinnräder tragend. Schnell rief er ihn herein und erkundigte sich, 
ob er die Räder verkaufen wolle. „Freilich,* antwortete jener, 
„zahlt mir einen Tiao dafür, so überlasse ich euch beide.* „Ein 
Tiao ist zu viel, ich gebe euch 500 Käsch, das ist mehr wie genug.* 
„Nun gut, gebt mir das Geld, dann bekommt ihr die Ware." Es 
dauerte gar nicht lange, da kam wieder jemand zum Laden herein, 
um ein Spinnrad zu kaufen. „Da kann ich dienen," antwortete 
der Besitzer. „Habe hier zwei Räder, sucht eines aus; jedes kostet 
einen Tiao." „Einen Tiao kann ich dafür nicht zahlen; ich gebe 
800 Käsch, mehr aber keinen." Der Kauf war abgeschlossen und 
jener ging mit seinem Rade davon. Bald darauf kam wieder je- 
mand, ein Spinnrad zu kaufen. Dieser aber mußte einen Tiao 
zahlen, dann es war das letzte. Ein herrliches Geschäft, dachte der 
Kaufmann ; habe ich da heute an zwei Spinnrädern, die gewöhnlich 
nur das Stück 200 Käsch kosten, fast einen Tiao verdient. Ich 
muß mich mit einem Schreiner in Verbindung setzen und mir eine 
größere Anzahl Spinnräder bestellen ; damit ist ja ein vortrefflicher 
Gewinn zu erzielen. Die Bestellung wurde bald abgeschlossen auf 



— 137 — 

200 Stück und zwar bei unserm Meister Laopa. Er bekam für jedes 
Rad 400 Käsch ausbezahlt und hatte mehr als das Doppelte der 
Herstellungskosten daran verdient. Der kluge Kaufmann aber war 
auf den Leim gegangen. Nach Jahr und Tag waren noch die Spinn- 
räder in seinem Hause aufgestapelt, denn es fand sich kein Abneh- 
mer. Und als er schließlich damit auf den Jahrmarkt zog, mußte 
er sie noch zur Hälfte verschenken. 



Der chinesische Wagen und sein Lenker. 

Jie viele Entrüstungsrufe sind nicht schon von Ausländern, 
y^ die in China längere Reisen auf einem Karren gemacht 
tt& haben, angestimmt worden über diesen „ Marterkasten ", 
tfäxJSj'ffS diese „ Hundshütte ", „dies noch übrig gebliebene Folter- 
stück aus der Inquisitionszeit", über so eine „ Buttermaschine u . 
Letztere Bezeichnung stammt allerdings von mir selber und daß sie 
nicht unzutreffend ist, wird jeder zugeben, der schon jemals in so 
einem Ding reiste. Er wird mit mir dem Schöpfer Dank wissen, 
daß es in China keine Milch zu trinken gibt. Wer damit seinen 
Magen beschwert und dann in einer Karosse ä la Chinoise eine 
Fahrt antreten müßte, dürfte bei der nächsten Mahlzeit ruhig auf 
die Butter verzichten. 

Dennoch geschieht dem Möbel viel Unrecht, wenn man so 
sehr darauf schimpft, denn es ist ehrwürdig durch sein Alter. In 
jener Urzeit, wo in unseren deutschen Gauen daheim die alten 
Germanen noch im Dickicht der Wälder hausten und von einem 
ähnlichen Beförderungsmittel noch nicht einmal eine Ahnung besaßen, 
hatte sich der chinesische Wagen schon derart ausgereist, daß in 
all der Zeit keine merklichen Änderungen oder Verbesserungen 
mehr daran nötig waren. Jetzt freilich würde er sich tief in den 
Boden schämen, wollte man ihn einem neumodischen Automobil 
gegenüberstellen, das wie auf Geisterflügeln nur so dahinfliegt. 
Doch sei guten Mut's, alter Kamerad, tröste ich ihn ; eines hast du 
und behältst du für dich: lao t'e t'e zuo niu tsch'e, uin tanti chin: 
„Sitzt die Matrone auf einem Ochsenwagen, ist sie gegen jeden 
Unfall gefeit" (chinesisches Sprichwort). Und schließlich ist Sicher- 
heit doch noch besser als Schnelligkeit, denn ins Jenseits können 
wir noch immer früh genug befördert werden. 



— 138 — 

Ich habe mir die Mühe gegeben, in den kanonischen, klassi- 
schen und anderen chinesischen Büchern den Wagenspuren nacli- 
zustöbern und habe da mancherlei entdeckt, was selbst einen 
europäischen Automobilisten noch interessieren dürfte. 

Zur Zeit des ersten Kaisers, den die chinesische Geschichte 
kennt, Huang-ti, soll bereits der Karren in Gebrauch gewesen sein. 
Als Gespann wurden anfangs nur Ochsen gebraucht. Erst während 
der Regierung des Kaisers Yü (2200 v. Chr.) kamen auch Pferde 
in Benutzung. Als die Bauern das erste Mal einen Karren zu 
sehen bekamen, sollen sie aufgejubelt haben, indem ihnen die 
Nützlichkeit eines solchen Dinges gleich einleuchtend war. 

Die ursprüngliche Gestalt des Karrens war viereckig. Sie sollte 
die Erde vorstellen, welche nach der chinesischen Anschauungsweise 
ein Viereck ist. Das darüber gepanntc Dach hatte die Form eines 
Gewölbes und sollte den Himmel bedeuten. Die rollenden Räder 
erinnerten an den Mond und die dreißig Speichen in jedem Rade 
versinnbildeten die dreißig Tage im Monate (Tschouli IH, 5). Man 
gebrauchte Wagen, die mit Rhinozerosfellen, Fischhäuten oder Matten 
überdeckt waren, je nach der Würde dessen, der darin fuhr. 

Schon im grauen Altertum unterschied man eine ganze Reihe 
verschiedener Gefährte. Es gab fünf, welche nur zum alleinigen 
Gebrauche des Kaisers dienten, desgleichen fünf für die Kaiserin 
und ferner fünf für Beamten und das gemeine Volk. Unter den 
kaiserlichen Wagen gab es goldene, mit Edelsteinen ausgelegte, 
elfenbeinene, lederne und hölzerne. Die ledernen (d. h. mit Leder 
überzogenen) dienten zu Kriegszwecken. Die Kaiserin benutzte 
einen anderen Wagen, je nachdem sie beim Herrscher vorsprach, 
Maulbeerblätter pflücken ging, den Göttern einen Besuch abstattete, 
anderswo eine Visite machte oder sich von Eunuchen spazieren 
fahren ließ. Die Wagen der Beamten hatten verschiedene Aus- 
staffierung, welche sich nach den Würden der Insassen richtete. 
Die Sitze waren mit Fellen oder Matten ausgepolstert; als Anstrich 
wurde Firniß benutzt, bald schwarzer, brauner oder roter. Die 
Kriegswagen waren mit Waffen ausgespickt. Als Abzeichen der 
kaiserlichen Wagen thronte über denselben ein ausgepannter Schirm 
und eine mächtige Fahne diente zur besonderen Zierde. 

Besondere Erwähnung verdient noch der Leichenwagen und 
das Gefährt mit der Magnetnadel. Ersterer war mit einer Art Thron- 
himmel überdeckt, welcher viele Aehnlichkeit hatte mit der Über- 
dachung unserer Leichenwagen. An den Seiten wurden sechs oder 
acht fächerartige Schilder befestigt, mit verschiedenen Emblemen 



— 139 — 

verziert, der Würde des Verstorbenen entsprechend. Diese Wagen 
durften nur durch Menschenkraft voranbewegt werden. Vorauf ging 
ein Herold mit einem Fahnenwedel, durch dessen Bewegung er den 
Wagenziehern die Beschaffenheit des Weges anzeigte, damit sich 
kein Unfall ereigne. 

Die den Weg zeigenden Wagen (tschi-naen-tsch'ä) sollen in 
ihrer äußeren Form mit dem „Trommel wagen u (ku tsch'ä) Ähnlich- 
keit gehabt haben. Eine hölzerne Statue auf demselben zeigte mit 
dem Finger ständig nach Süden. Kompaß- und Trommelwagen 
dienten besonders zu Kriegszwecken und bewegten sich dicht neben- 
einander an der Spitze des Zuges. Der eine war das Auge der 
Bewegung, der andere das Ohr. Die Kolonne marschierte nämlich 
nach bestimmten Schlägen des Tambours, dem seinerseits der Kom- 
paßwagen als Mentor diente. 

Im Buche der Lieder wird die Tüchtigkeit der Kriegswagen 
und der Rosse besungen: 

Fest zeigten sich die Kriegswagen, 

Man sah sie vorn wie hinten ragen (im Gleichgewicht). 

Die Hengstgespanne waren stark, 

Stark und geschult für alle Lagen. 

Ebendaselbst ist auch die Rede von einem Fürsten Tschou Chi 
(etwa 1000 J. v. Chr.), der tausend Wagen in den Krieg führte, auf 
denen Speere und Bogen steckten, geziert mit roten Gürteln und 
grünen Schnüren. 

Im Buche der Riten (Li-ki) fand ich bereits unterschieden 
zwischen Ein- und Vierspännern. Auf letzterem Gefährte mußten 
die „Insassen" stehen; dasselbe scheint besonders zu Repräsenta-' 
tionszwecken gebraucht worden zu sein. Der Einspänner heißt Ruhe- 
wagen (ngan-tsch'ä) ; nur Siebenzigjährige durften ihn benutzen und 
es sich bequem darin machen. 

Zu Zeiten des Konfuzius waren schon Galawagen im Gebrauch, 
denn der große Lehrer ermahnt seinen getreuen Schüler Jen-Huen, er 
solle einen Wagen nach dem Muster des Tju benutzen, diese seine 
einfach aber dauerhaft. (Luin-jü VIII, 5. 11.) Auch wird in dem 
Luin-jü (V, 10. 16) erzählt, wie sich Konfuzius beim Hinauf- steigen 
und Sitzen auf dem Wagen benommen habe. „In gerader Haltung 
ergriff er das Wagenseil ; beim Sitzen schaute er nicht nach hinten, 
sprach auch nicht vorlaut, noch zeigte er irgendwo hin mit dem 
Finger. u Der alteMentius hingegen scheint seinerzeit recht vornehm 
aufgetreten zu sein. Denn sein Schüler erlaubt sich die Frage, ob es 
schicklich sei, mit mehr als zehn Wagen und hundert Mann Gefolge 
bei Reichsbeamten vorzusprechen und auf deren Kosten zu leben. 



— 140. — 

Im Buche der Lieder ist meistens von Hengstgespannen die 
Rede, deren Tiere zu vier angekoppelt waren; die zwei mittleren 
liefen ein wenig vornauf, „wie im Kranichflug". Der Reichtum 
eines Beamten wurde nach der Zahl seiner Wagen geschätzt. Vom 
Beherrscher im Staate Tsin (gegen 900 n. Chr.) singt der Dichter: 

Er hat viele Wagen, die rollen heran, 

Hat manch' weißköpfiges Rossegespann. 

Und nicht früher sieht man den hohen Herrn, 

Es künd' ihn denn ein Verschnittener an. 

Die Räder eines Wagens, der richtig gezimmert ist, sollen ein 
Geräusch machen wie „ Trommelschall und Donnerrollen u . Heut- 
zutage noch untersucht der Chinese einen neuen Wagen vor allem 
auf diese Eigenschaft. „Die Achse ist nach einem vom Kaiser vor- 
geschriebenen Modell angefertigt u y damit die Wagenspuren im gan- 
zen Reiche die gleichen sind. Mit Bezug darauf sagt ein Sprüch- 
wort: „Daheim wird ein neuer Wagen gemacht, draußen bewegt 
er sich in den alten Spuren. u 

Ein Mann, der nicht zuverlässig ist, wird mit einem Karren 
ohne Deichsel verglichen, vor den sich weder Ochs noch Pferd span- 
nen läßt. (Luinjü 1. 1. 22.) Fünf Wagen voll Bücher muß einer 
studiert haben, will er Anspruch machen auf den Ruf eines Gelehrten. 
Das nämliche Zeichen, welches Fahren oder Fuhrmann bedeutet (jü), 
hat auch denn Sinn von regieren, den „Staatskarren führen". Die 
Minister des Reiches werden mit Wagenrungen verglichen, welche 
den Zweck haben, die Speichen zu schonen und verhüten sollen, 
. daß der Wagen im Moraste umfalle. Grundlose Wege bedeuten die 
Schwierigkeiten einer guten Regierung. Aus der Brust eines, der 
des Staatsdienstes überdrüssig war, singt der Dichter: 

Schiebe nicht den großen Wagen 

"Wirst vom Staub verhüllt nur werden. 

Denke nicht der hundert Plagen 

Machst dir selber nur Beschwerden. (II. 6. 2.) 

Besonders interessant sind allerhand Hegeln und Vorschriften, 
welche in einem klassischen Buche (Li-ki, von Tschou-kung im Jahre 
1122 v. Chr. verfaßt) dem Fuhrmann und seinen Wageninsassen 
gegeben werden. Es heißt darin: „Wenn des Regenten Wagen 
angespannt wird, soll 3ich der Fuhrmann mit der Peitsche in der 
Hand den Pferden gegenüberstellen. Sobald alles in Ordnung ist, 
gibt er ein Zeichen, schüttelt die Kleider, ergreift die Aufsteigeschnur 
und kniet auf den Sitz nieder. Vorläufig fährt er nur fünf Schritte 
weit, gleichsam zur Probe. Dann besteigt der Regent den Wagen, 
indem der Fuhrmann mit der Hechten ihm die Schnur darreicht, 



— 141 — 

während die Linke zu den Zügeln greift. Die Bedienung begibt sich 
dann ehrfurchtsvoll auf die Seite, während der Wagen davonrollt 
bis zum großen Tore. Dort berührt der Fürst die Hand des Fuhr- 
mannes und gibt dem Diener ein Zeichen. Dieser hat auf dem 
Wege, wenn die Fahrt durch Dörfer geht, auszusteigen, desgleichen 
wenn's über Flüsse oder Kanäle geht . . . Ein Gast soll nicht ohne 
weiteres durch das Eingangstor fahren, eine Frau darf im Wagen 
nicht aufrecht stehen. Hunde und Pferde soll man nicht mit ins 
Gastzimmer nehmen. Der Fürst soll unterwegs alte Leute grüßen, 
ebenso wenn er durch ein Dorf fährt. Begegnet ihm ein Würden- 
träger, hat er auszusteigen; fährt er durch andere Reiche, soll es 
mit Bedacht geschehen. . . . Fährt der Fuhrmann eine Frau, soll er 
die rechteHand in den Aermel ziehen (damit sie die Insassin nicht 
zu sehen bekommt!) und nur mit der Linken Zügel und Peitsche 
halten. Der Regent soll beim Fahren nicht auffällig husten, auf 
niemanden mit dem Finger zeigen; er soll seine Augen fünf Räder- 
längen voraus auf den Boden heften, beim Begrüßen aber hat er 
auf der Pferde Schweif zu sehen (wegen der Verbeugung), auch 
wende er sich nur höchstens bis zur Wagenachse um (um nicht neu- 
gierig zu scheinen). . . . Jeder Staatsbeamte hat den kaiserlichen 
Pferden ein Kompliment zu machen. Wer das Heu derselben mit 
Füßen tritt, wird mit dem Tode bestraft; desgleichen wer das Alter 
dieser Tiere verrät (denn falls sie nicht mehr jung genug wären, 
bedeute das eine Schmach für den Kaiser). 

Es erübrigt noch, die Persönlichkeit des Fuhrmannes in Augen- 
schein zu nehmen. Sein Geschäft wurde von jeher als Kunst 
betrachtet, freilich als keine freie, denn auch er hat nach alther- 
gebrachten Regeln sein Gespann zu lenken. Zudem ist Fuhrmann 
sein ein Ehrenamt und ein Zeichen von Tüchtigkeit. „Befragt über 
den Sohn des Herzogs sollst du antworten, er kann bereits fahren, 
wenn er schon erwachsen ist. Ist er aber noch minderjährig, sollst 
du sagen, er kann noch nicht den Karren führen. u (Li-ki.) 

Als ein Fuhrmannsideal gilt Manlian, von dem Mentius in seinem 
Buche erzählt. Er verstand es dermaßen, seinen Wagen zu regie- 
ren, daß ein schlechter Schütze, auf demselben sitzend, dennoch 
das Wild erlegte. (Mung-tse III, 2.) Einer, der noch nicht den 
Wagen fahren kann, gilt als minderjährig, d. h. er ist noch keine 
zwanzig Jahre alt. 

Wer das erste Mal den Namen des berühmten Konfuzius Schü- 
lers Mentius hört, sollte ihn schier für einen FuhrmaDn halten. 
Mentius, „die Wagenachse, der Gelehrte auf dem Wagenkasten u 



— 142 — 

(Mang-k'o, tse-jü) heißt er. Die Literaten behaupten, es habe das 
darin seinen Grund, weil das Schicksal des Weisen viele Aehnlichkeit 
mit einer Wagenachse gehabt, die vom Rade getrieben wird und 
nicht minder mit dem Wagenkasten, der über holperige Wege gefuhrt 
bald hier bald dort gerüttelt und geschüttelt wird. 

In bestimmten Zeitabschnitten, meistens wenn ein Weg von 
dreißig Li zurückgelegt ist, muß der Wagen geschmiert werden. 
Das ist ein Geschäft, das niemals versäumt werden darf: „Und wenn 
du des Weges in Eile fährst, hast du doch Zeit zum Wagenschmie- 
ren," sang schon vor dreitausend Jahren der chinesische Dichter. 

Zum Schluß noch einen flüchtigen Blick auf den Fuhrmann 
unserer Tage. Jeder Chinareisende hat mit diesem eigenartigen 
Patron schon Bekanntschaft gemacht. Er trägt nicht seinen ganzen 
Reichtum bei sich, läßt sich aber von ihm fahren. Wagen und 
Tiere sind die Erwerbsquelle, aus welcher für ihn und die Seinen 
der Lebensunterhalt fließt. Sitzt er da auf seinem Wagen, die 
Peitsche in der Hand, so fühlt er sich wie ein König auf seinem 
Throne, wenngleich die Untertanen nur zwei schäbige Maulesel 
sind. Aber auch der Wageninsasse kann nicht immer nach Belieben 
tun, sondern muß sich in vielen Fällen nach des Fuhrmanns Regeln 
richten. Dahin gehört z. B. die Einkehr in ein Wirtshaus. Wann 
das geschehen soll, bestimmt der Fuhrmann, desgleichen wann 
abends in die Herberge einzukehren ist und wann am Morgen 
abgefahren wird. Mancher Ausländer hat darob mit seinem Chine- 
sen schon allerhand Streithändel ausgefochten, bis schließlich der 
Chinese nach dem Grundsatz verfuhr, der Klügere gibt nach. Und 
daß er diesmal wirklich klüger gewesen, gesteht der Europäer nach- 
her selber ein : denn man hat lange in der Nacht umherirren müssen, 
um einen Unterschlupf zu finden; und als man ihn gefunden, war 
weder Futter zu haben für die Tiere noch Lebensmittel für die 
Reisenden. 



Der Kompaß. 




jp „Nadel* bezeichnet der Chinese seinen Kompaß auch, 
über nicht als Magnetnadel, sondern als die nach Süden 
zeigende Nadel — 3§£ #§ ff t™Q naen tschin. Ehe die- 
selbe als Wegweiser auf den Schiffen gebraucht wurde, 
stellte man sie in den Dienst der Fuhrleute, wenn selbige weite 



— 143 — 

Wege zu machen hatten. Jeder, der längere Zeit in China gelebt, 
wird schon des öftern von seinem Fuhrmann oder Begleiter auf 
Reisen gehört haben, die Himmelsrichtung sei ihm verloren gegan- 
gen: „tiao-lio chiang." Um wieder auf die rechte Fährte zu 
kommen, können ihm weder Sonne noch Mond nützen; er muß 
meistens seinen „ Dusel u erst verschlafen und wenn er am andern 
Morgen aufsteht, vermag er sich wieder zu orientieren. In jenen 
Zeiten nun, wo es noch keine Heerstraßen gab, Städte und Dörfer 
noch spärlich zerstreut waren, mußte sich der Fuhrmann auf die 
Himmelsrichtung verlassen um sein Ziel zu erreichen. Der Kompaß 
war ihm der beste Wegweiser und bei großen Karawanenzügen 
war der Anführerwagen immer mit einem solchen ausgestattet. 
Jemanden zum Vorbilde dienen heißt deshalb heutzutage noch: 
der Vorderwagen sei für den Hinterwagen ein Spiegel (]jjjf 3§f J$ 

«WS)- 

Was den Ursprung des Kompasses betrifft, so bezeichnet die 
Legende den Kaiser f|f ^ Huang-ti als den Erfinder. Er soll 
einstens, als er in einer Rebellion seinem Gegner jg "jfc Tsche-ju 
eine Schlacht lieferte, in sehr dichten Nebel gehüllt worden sein. 
Selbiger war durch magische Künste herbeigeführt worden und 
das Heer des Kaisers sollte, dadurch in Unordnung gebracht, den 
rechten Weg verlieren und so dem Feinde in die Hände fallen. 
Huang-ti stellte an die Spitze seines Heeres den Kompaß-Wagen 
und entging dadurch der drohenden Gefahr. 

Nach anderer Überlieferung wird ein gewisser Herzog Tschou 
aus dem Zeitalter der Tschou-Dynastie (111 — 1078 J?SJJÄ3:) als 
Erfinder des Kompasses bezeichnet. Tributäre aus dem Süden 
Chinas (Annam), welche dem Kaiser weiße Fasanen als Geschenke 
gebracht hatten, konnten den Rückweg nicht finden. Der Herzog 
beorderte fünf Kompaß- Wagen, welche die Fremdlinge in der 
Frist von einem Jahre zurück in ihre Heimat brachten. Während 
der Wirren zur Zeit der Han-Dynastie soll indeß das Geheimnis 
der nach Süden zeigenden Wagen abhanden gekommen sein, bis 
ein Gelehrter, namens JB§ §fj •${ Ma-tjüin-tschuo, unter der Regierung 
des Kaisers $j ^ Ming-ti (56 — 76) dasselbe wieder entdeckte und 
dem chinesischen Kompaß die heutige Form gab. 

Heutzutage benötigen die Fuhrleute keiner Magnetnadel mehr. 
Haben sie die Richtung verloren, so sind überall genu^g dienst- 
bare Geister zu finden, deren „ Glanz sie leihen u — fil :Jfc z * e " 
kuang — indem sie nach dem rechten Wege fragen. Hier und 
da findet man in Sänften einen Kompaß angebracht, der aber mehr 



— 144 — 

als Zierrat dient. Die Sänftenträger sind wegeskundig genuW; 
im Zweifel aber bietet sich allerorts Gelegenheit zu fragen. 

Auf Schiffen bediente man sich anfangs nur des .Wasser- 
Kompasses", bei dem die Nadel in einer Flüssigkeit schwimmt; 
die auf einer Spitze vibrierende ^trockene Nadel* soll erst später 
von Seeräubern in Gebrauch genommen worden sein. 

Ungleich mehr als für die Schiffahrt wird heutigen Tages der 
Kompaß in China als Wegweiser zum Glück benutzt. Fast jedes 
Dorf hat einen Geomanten, der mit Hülfe seiner „Süd-Nadel* ganz 
genau zu sagen weiß, in welchem Erdwinkel das Glück verborgen 
liegt. Um seiner habhaft zu werden, brauchen nur die Häuser 
recht gebaut und die Toten am rechten Fleck begraben zu werden. 
Begreiflicherweise wird da kaum eine Hütte errichtet, es sei denn, 
man habe sich zuvor vom Erdwahrsager eine gute Stelle bezeichnen 
lassen. Desgleichen muß er auch für den Toten das letzte Ruhe- 
plätzchen ausfindig machen, falls derselbe die Lebenden nicht 
chicanieren soll. 

JBf ü Luo-tjing ..Siebspiegel* nennt der Geomant sein Instru- 
ment, das die runde Form eines Siebes hat. In der Mitte desselben 
ist eine kleine Höhlung von einem Glas überdeckt, in welcher sich 
eine winzige Magnetnadel bewegt. Die Scheibe ist in 364 Grade 
eingeteilt, entprechend den Tagen des Jahres. Der Magnet wird 
im Gehirn einer Fischart (^ jjg JS huo t'ou jü, Feuerkopffisch) 
„genährt*. Besagter Fisch hat die Eigentümlichkeit sich im Wasser 
stetig nach Süden zu richten, mag er nun schwimmen oder sich 
ruhig verhalten. Diese Eigenschaft wird auch dem Eisen mitgeteilt, 
falls man es längere Zeit in die Gehirne einiger Feuerkopffische 
niederlegt. So behaupten die Chinesen — was Wahres daran ist, 
vermag ich nicht zu sagen, da ich selber ein derartiges Experiment 
noch nicht angestellt habe. Es verhält sich auch damit wohl ähnlich 
wie mit der Behauptung S "F ffi »H ts'an tse tsch'u jü: „Aus den 
Eiern des Seidenspinners entwickeln sich Goldfische. u Diese Über- 
zeugung ist dermaßen landläufig und festgewurzelt, daß der Chinese 
selbst dann noch daran glaubt, wann er den Versuch schon öfter 
vergeblich angestellt hat. 




— 145 — 

Die Blinden in China. 

jm dritten Tage im dritten Monat des chinesischen Jahres 
wurde dieses Jahr hier in der Nähe von Puoly ein Jahr- 
markt abgehalten, und ich wette, der freundliche Leser 
wird nicht erraten, wem derselbe galt. Da wurden keine 
Kälber und Kühe feilgeboten, auch fanden sich keine Kaufleute ein, 
um Geschäfte zu machen, oder ein schaulustiges Publikum, um sich 
zu amüsieren, sondern es war ein Markt, zu dem nur die Herren- 
welt freien Zutritt hatte. Diese „ Herren u heißen im Chinesischen 
sien schöng (Frühgeborene), wer ihnen aber diesen ihnen von 
Rechtswegen zukommenden Titel vorenthalten will, n ennt sie einfach 
chia-tse = Blinde. Also, es war ein Markt von Blinden, und zu 
Hunderten zählten die „ Herren ", die sich dort eingefunden. Bekannt- 
lich bilden die Blinden in China eine Gilde für sich, und alljährlich 
feiern sie irgendwo in einem großen Dorfe der einzelnen Provinzen 
das Fest ihrer Zusammenkunft, chia-tse chui „Blindenmarkt" genannt. 
Jeder Blinde muß eine bestimmte Summe Geldes mitbringen, welche 
an den Kassenführer abgeliefert wird. Davon werden die Auslagen 
bestritten, welche der Pesttrubel verursacht. Jeder neue Ankömm- 
ling hat sich dem Oberhaupte vorzustellen, dem Blinden-Mandariu, 
der aber gerade so gut nicht sehen kann, wie seine Untertanen. 
Hat sich irgendeiner im Laufe des Jahres nicht brav aufgeführt, so 
werden bei dieser Gelegenheit Strafen diktiert und ausgeteilt, die 
für gewöhnlich in Bambusprügeln bestehen. Freilich sind die prü- 
gelnden Schergen auch blind, aber sie sollen trotzdem den rechten 
Fleck meisterhaft zu treffen wissen. Das Oberhaupt der Blinden 
richtet dann von einer Empore herunter Worte der Ermahnung 
an seine Untergebenen: sie sollen niemand belästigen, sie sollen 
fleißig ihr Geschäft betreiben, sie sollen ihre Kunst nicht zu billig 
ausüben, u. s. w. 

Worin das Geschäft der Blinden besteht, werden wir gleich 
sehen ; die Kunst betrifft das Wahrsagen, und dafür wird alljährlich 
eine bestimmte Taxe festgesetzt, an die sich jeder halten muß, denn 
die „Kunst" darf nicht betteln gehen. Auch wird der nächstjährige 
Versammlungsort bestimmt, sowie das Datum festgesetzt, wann sich 
jeder einzufinden hat. 

Ist der geschäftliche Teil der Versammlung erledigt, so beginnt 
der gemütliche. Die Lösung der Magenfrage ist dabei die Haupt- 
sache, und wenn das in befriedigender Weise geschehen ist, fängt 
man an lustig zu werden. Da beim Essen auch Schnaps verabreicht 

B. Pieper, „Neue Bündel". 10 



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wird, ist das nicht mehr allzuschwer. Jeder gibt seine Kunst- 
stücke zum besten, und dann finden sich auch draußen genug 
schaulustige Sehende ein, umsomehr, da kein Eintrittsgeld erhoben 
wird, denn die Straße und der offene Marktplatz bilden die Vor- 
stellungsräume. Allerdings ist auch ein Theater aufgeschlagen, auf 
dem nur „gelernte Künstler* Zutritt haben. Und auch dem reli- 
giösen Gefühle wird Rechnung getragen, da ein Altar errichtet ist, 
auf dem die drei Hauptpatrone der Blinden stehen und von ihrem 
Schutzbefohlenen mit Kniefall und Weihrauch verehrt werden. Der 
Hauptgott heißt Tung-fan-schuo, und seine zwei Gefährten w r aren 
Schüler von ihm, sind also Gottheiten niederen Ranges. Tung-fan- 
schuo ist ein verkappter Heiliger gewesen, der ehemals als gemeiner 
Bonze auf den Bettel ging. In jener Zeit war es um die Existenz 
der Blinden noch traurig bestellt, denn das Recht dazu war ihnen 
vom Kaiser abgesprochen worden, und so mußten denn alle lebend 
begraben werden. Eine Mutter nun hatte ein Knäblein geboren, das 
erste nach sechs Töchtern, die ihm vorangingen, aber der Kleine war 
blind. Trotzdem war er der Mutter Liebling, die das kaiserliche 
Verbot mißachtend, ihr Kind versteckte und aufzog. Da kommt eines 
Tages Tung-fan-schuo heran und bittet um ein Almosen. Die Frau 
gibt ihm Brot, das er jedoch nicht nimmt. „Ich suche blinde Kinder 
auf", sagt er. Die Mutter erschrickt bei den Worten und glaubt, sie 
sei verraten. Doch der Bonze tröstet sie. „Sei nur zufrieden ", er- 
mahnt er, „von nun an wird kein blindes Kind mehr sterben. Gib 
mir deinen Sohn zur Erziehung ; ich werde ihm die Geheimnisse der 
Zukunft entschleiern lehren; dann kann er später als Prophet sein 
Brot verdienen, und niemand wird mehr sagen, die Blinden seien auf 
der Welt unnütz. u 

So geschah es denn, und der kleine Bünde wurde ein geleh- 
riger Schüler seines Meisters. Der erste, an dem er seine Kunst 
erprobte, war der Kaiser selbst. Dieser, erstaunt über das Wahr- 
sagetalent des Blinden, gab Befehl, fortan keinen Blinden mehr zu 
töten. Seit dieser Zeit wird Tung-fan-schuo als Schutzpatron und 
Retter von allen Blinden verehrt und angerufen. 

Und nun ist es für die des Augenlichtes entbehrenden. „Herren* 
nicht mehr sonderlich schwer, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. 
Bei uns heißt es: „Blinder Mann, anner Mann", was in China nicht 
ganz zutrifft. Man sieht die Blinden meistens reinlich gekleidet, 
und sie verursachen bei weitem nicht den abstoßenden Eindruck, 
den die ungewaschenen, zerlumpten Bettler machen. Wohl aber 
sind sie im allgemeinen sehr gefürchtet, und anstatt ihnen etwas 



— 147 — 

in den Weg zu legen, geht der zu allerlei losen Streichen aufge- 
legte chinesische Bube lieber in einem weiten Bogen um sie herum. 
Wer mit ihnen anbindet, zieht in der Regel den Kürzeren. „ Einen 
Bettler magst du als Freund erkiesen", sagt ein chinesisches Sprich- 
wort, „den Blinden aber halte aus deiner Nähe." Wer einen dieser 
„Herren" beleidigt hat, wird tagelang verflucht, und solches haben 
die Chinesen mehr auf dem Strich, als eine Tracht Prügel. Recht 
fatal aber wird die Sache erst, wenn ein Blinder seinem Beleidiger 
mit einer Eskorte von 50 bis 100 Mann „auf die Bude steigt" — 
dann muß er, ob schuldig oder unschuldig, schwere Sühne leisten. 
Sollte aber ein Bube, der den Blinden geneckt, diesem in die Finger 
geraten, dann kann er noch von Glück sagen, wenn er nur mit 
gebläuter Haut, und mit geschundenen Gliedern davonkommt. Mit 
Vorliebe gebraucht so ein Wüterich seine Zähne als Waffen, oder 
dem armen Buben werden die Glieder verrenkt. „Hat ein Blinder 
den Esel ergriffen", sagt der Volksmund, „so läßt er sich lieber zu 
Tode schleppen, als daß er den Strick los ließe." 

Die ganze Sippe der Blinden gilt als unbeständig, wetterwen- 
disch, hinterlistig und verschlagen, und für empfangene Wohltaten 
zeigen sie wenig Dankbarkeit. Während ein Bettler für geringe 
Liebesbeweise für seinen Wohltäter durch Feuer und Wasser läuft, 
spielt sich der „ große Bruder" gern als den Herrn auf und verlangt 
alle möglichen Rücksichten. Überhaupt haben auch in China alle 
die sogenannten „Gottgezeichneten" ihre Untugenden : „Der Kahl- 
kopf ist ein Schwätzer; der Blinde geht dreist drauf los ; der Einäu- 
gige hat einen störrlischen Charakter." 

Jeder Chinese betrachtet es als Lebensberuf, zu heiraten, und 
deshalb sieht sich auch der Blinde nach einer Lebensgefährtin um. 
Dafür hat er natürlich ebensowenig die Augen nötig, wie jeder 
andere, da ja der Heiratsvermittler als Zwischenperson das Suchen 
und Erwählen besorgt. Für den blinden Mann wird natürlich eine 
ebenfalls blinde Frau zum ehelichen Gespons erkoren. Das junge 
Paar geht dann mitsammen auf die Walze. Das Glück wird aber 
erst voll, wenn ein junger Weltbürger später den Führer machen 
kann. Schon unzählige Male habe ich blinde Eltern ihres Weges 
ziehen sehen ; hatten sie aber Kinder, so waren diese immer sehend. 
Zu dem Blindenjahrmarkte wird selbstverständlich auch die „alte 
Hälfte" mitgenommen. Der Chinese betrachtet sich selbst als die 
„bessere Hälfte", seine Frau aber benennt er ungalant die „alte 
Hälfte." Zur Zeit des Essens sitzen diese „alten Hälften" von den 
übrigen Gästen abgesondert an eigenen Tischen. Was nun die 

10» 



— 148 — 

Beschäftigung der viersinnigen „Herren" angeht, so widmen sie sich 
entweder der edlen Musik, ziehen als Wahrsager über Land, oder 
verdienen sich das tagliche Brot mit irgend einem Kleinhandel 
Jene aber, die zu all dem nicht tauglich sind, machen es dem Samson 
nach, d. h. sie drehen die Mühle. Dabei ist nur das Mahlen ihre 
Aufgabe, das Beuteln tun andere: „Tei muo bu kuen luo." Die 
gewöhnlichsten Dinge, welche die Blinden als Kleinhändler über die 
Straße tragen, bestehen in Salz und Spielkarten. Salz ist bekannt- 
lich kaiserliches Monopol in China, und es stehen schwere Strafen 
auf den Schmuggel mit demselben. Die 'Blinden aber dürfen sich 
solchen Schmuggel erlauben, da der Mandarin wohl weiß, daß der 
kleine Betrag, den der Blinde für Salz einnimmt, für seinen großen 
Beutel von wenig Belang ist. Unser Kleinhändler verkauft wohl- 
weislich nicht nach Gewicht, sondern nach Maß, und seine Hand 
wacht darüber, daß er nicht betrogen wird. Während die Rechte 
den Sack festhält, streicht die Linke über den kleinen Pfundbottich, 
und die dargereichten Geldstücke werden alsogleich im festen 
Beutel am Leibe verborgen. Das Chinesische Gesetz verbietet das 
Kartenspiel, und somit ist auch der Verkauf von Spielkarten nicht 
gestattet. Die Blinden machen auch hier wiederum eine Ausnahme ; 
hat ein Spieler seine Karten verbraucht, so sucht er die Blinden- 
bude auf, wo solche stets in genügender Anzahl vorhanden sind. 
Was die Musik angeht, so wird dem Blinden außergewöhnliche 
Feinhörigkeit nachgerühmt, dermaßen, „daß ein von ihnen veran- 
staltetes Konzert die Götter im Himmel ans Tanzen bringen soll." 
Von allen diesen Beschäftigungen wird aber die Wahrsage- 
kunst zumeist von den „Herren" bevorzugt, wohl deshalb, weil sie 
sich am rentabelsten erweist. Natürlich will das Wahrsagen auch 
erlernt werden, „denn niemand wird als Prophet geboren." Zu 
diesem Zwecke werden blinde Kinder einem Wahrsager in die 
Lehre gegeben, dem sie gewöhnlich als Wegweiser dienen. Freilich 
ist der kleine Führer selber blind, weil er aber vorangeht, fällt er 
zuerst in die Pfütze. Gerade wie anderswo auf der Welt sind 
die chinesischen Evastöchter in hohem Grade von der Neugierde 
geplagt und sie möchten gar zu gerne den Schleier der Zukunft 
gelüftet sehen. Ist der Mann nicht zu Hause, und zieht ein Blinder 
daher, so wird er sicherlich bei der Frau gute Geschäfte machen. 
Die Laute, welche er seiner Zymbel entlockt, klingen so vielsagend 
und geheimnisvoll, und auch das arme Chinesenweib, an der Korn- 
mühle schwitzend, hofft noch auf bessere Tage. Geriebene Frauen 
stellen bisweilen erst eine Probe an auf die Echtheit des Propheten, 



— 149 — 

denn es gibt auch „Blinde", die nur geschäftshalber die Augen 
zuzwicken, in Wahrheit aber damit sehen können. Es wird daher 
dem Ankömmling eine Schüssel voll Wasser in den Weg gestellt ; 
geht der „Blinde" an derselben vorbei, oder schreitet er über sie 
hinweg, ist es nichts mit seiner Kunst und aus mit seinem Geschäfte, 
und anstatt sich von ihm die Zukunft enthüllen zu lassen, hetzt 
man den Hund auf ihn. Stolpert er aber über die Schüssel, dann 
setzt es freilich einige chinesische Donnerwetter ab, und er verlangt 
nunmehr zu seinem Prophetenlohn noch neue Strümpfe und Schuhe 
oder einen Ersatz für seine durchnäßten Pedale. Aber was läßt 
man es sich nicht alles gern kosten, wenn bereits das Morgenrot 
einer 'glücklichen Zukunft zu dämmern beginnt! Arme Seele du! 
wiederum bist du um eine Handvoll Käsch ärmer geworden, und 
deine Zukunft bleibt so grau wie vorher. 

Einem, der vergeblich Geld und Talent verschleudert, bezeich- 
net man im chinesischen Sprachgebrauch als einen „Blinden mit 
der Laterne" ; umsonst verbrennt er Docht und Öl. Von einem 
Schlaumeier, der wenig spricht und viel denkt und sich täppisch 
benimmt, sagt das Sprichwort; „Der Blinde weiß auswendig, wieviel 
Klöße er gegessen." Lügen werden als „blinde Worte" bezeichnet 
(chia chua) und die Phantasie als „Herzensauge" (sin mu). Als 
Führer benutzt der einzelne Blinde einen langen Stab, den er 
„Lichtstütze" nennt; er selbst gilt in den chinesischen Schriftzeichen 
als ein Mann, „für den die Sonne untergegangen ist, der Mond sich 
aber versteckt hat." Confuzius soll jedem Blinden der ihm begegnete, 
ein Zeichen der Hochachtung gegeben haben, und von ihm sollen 
sie die ehrende Bezeichnung sien-schöng, „Herr", bekommen haben. 

Da es in China verhältnismäßig sehr viele blinde Kinder gibt, 
werden dem Missionar oft genug solche arme Wesen angeboten. 
In unserer Missionsstation Puoly haben wir deren nicht weniger 
als fünfzehn, alt und jung, männlichen und weiblichen Geschlechts. 
Die alten werden zumeist in der Mühle beschäftigt; die jungen 
müssen spinnen, Rosenkränze ketten und ihre Lektion lernen. Sie 
können das um so leichter, da ihr sehender Nebenmann die Lektion 
laut aus dem Buche vorliest, bezw. herunterschreit. 




— 150 — 



Schmuckgegenstände. 

SÄ^pJinger. Hände und Ohren waren fast bei allen Volkern schon 
^■Tgj' v.tn alters her die Hauptträger der menschlichen Eitelkeit. 



r^BjH» ' Vl,n »iwrs ner aie riauprirager aer mensciinciieii rriieiiteii. 
*YM^5 * n **™gen lindern, wo die Füße unbedeckt sind, werden 
J?5J<5§H3 iiuch diese noch mit in ihren Dienst gezogen und an den 
Gelenken mit einem oder mehreren Ringen geschmückt. Die Chniesen 
nun sind im Tragen von Schmuckgegenständen von jeher ziemlich 
nüchtern gewesen, ähnlich wie im Kleidertragen. 

Was zunächst die Ohrringe angeht, so ist wohl keine Frau 
und kein Mädchen zu finden, das nicht ein Öhr im Ohr hätte, 
ob aber immer ein Ring darin hängt oder ein sonstiges Gehänge, 
ist eine andere Frage. Dem Kinde wird schon beizeiten das Ohr 
durchlöchert, dann nämlich, „wann es noch nicht wehe tut". Die 
Mutter oder Großmutter nimmt zwei kleine Bohnen (|ft£ lü tou), 
legt das Ohrläppchen dazwischen und reibt dann eine Zeitlang die 
Bohnen gegeneinander. Dadurch soll das Blut von der zu durch- 
stechenden Stelle weichen. Tatsache ist denn auch, daß bei der 
Manipulation kein Tröpfchen Blut vergossen wird; ich habe mich 
selbst davon überzeugen können. Damit das Loch nicht wieder 
zuwächst, wird ein seidener Faden hindurchgezogen. Später muß 
das Kind dann selber sehen, womit es seine Ohrläppchen schmückt. 
Findet es ein Stück Draht oder einen krummen Nagel, so sind das 
schon taugliche Dinge dafür. Natürlich tragen in besseren Familien 
die Mädchen auch in jungen Jahren regelrechte Ohrgehänge von 
Silber oder gar von Gold. Doch auch das Kind aus armer Familie 
muß wenigstens einmal im Leben seine Ohren schmücken, wenn 
es nämlich als junge Braut die Hochzeit feiert. Wenn eben mög- 
lich, kaufen die Eltern versilberte Ohrringe; fehlt aber dafür das 
Geld, so werden solche geliehen von Freunden oder Nachbarn. Im 
allgemeinen haben die Ohrringe eine große Form und sind primitiv 
gearbeitet. Da es das ausschließliche Recht des weiblichen Geschlech- 
tes ist, sich die Ohren mit Ringen zu schmücken, so tun es die 
Männer nur höchst selten, nämlich dann, wann sie einem bösen 
Dämon weismachen wollen, der junge Weltbürger, der so eben das 
Licht erblickt, sei ein Mädchen. Es wird ihm deshalb auch ein 
Mädchenname beigelegt und ein Loch ins Ohr gestochen, und er trägt 
so lange ein Ringlein darin, bis man ihn seines Lebens sicher glaubt. 

Weniger wichtig und heutzutage auch weniger gebräuchlich 
ist das Tragen von eigentlichen Fingerringen. Eine Mannsperson wird 
damit überhaupt höchst selten gesehen. In früheren Jahren, als das 



— 151 — 

Bogenschießen noch recht in Brauch war, bedienten sich die Schüt- 
zen eines breiten Daumenringes aus Silber, Elfenbein, Schildpatt, 
Fischbein oder Jade. Derselbe diente zum Straffziehen des Bogens 
und wurde paen tsche Jß fä genannt. War jemand im Besitze 
eines recht kostbaren Bogenspanners, dann trug er ihn stets am 
Pinger, aus Furcht, er könne ihm anderswo abhanden kommen. 
Kostbar wird das Ding meistens durch sein Alter, „wenn die Kraft 
des Daumens hineingezogen ist". Auf derartigen Ringen entstehen 
durch das ständige Tragen bisweilen ähnliche Gebilde, wie wir sie 
auf alten Pfeifenköpfen aus Meerschaum sehen können. Es ist da 
erklärlich, daß auch der Bogenschütze a. D. noch seinen Ring bis 
ins hohe Alter hinüberträgt als Schmuck und als Erinnerung. 

Außer dem Bogenspanner tragen die Männer nur mehr „Ab- 
stinenzringe u . Es handelt sich dabei um solche Leute, die früher 
entweder dem Übermaße im Trinken fröhnten, arge Spieler waren 
oder dem Opiumgenusse huldigten. Wenn nämlich die Vorstellun- 
gen und Ermahnungen von Seiten der Verwandten nicht mehr 
fruchten, wenden sich diese an die Freunde des Unverbesserlichen. 
Diese sollen das letzte Mittel versuchen, damit der Sünder sein 
Lasterleben aufgebe. Die Freunde lassen einen silbernen Ring 
schmieden, auf dem zwei Charaktere eingraviert sind: tjä ziu, tjä tu 
oder tjä ien Jß 8S, ?fi 8S> JÖ5 5@l — Abstinenz vom Wein, Abstinenz 
vom Spiel oder Absiinenz vom Opium. Dann wird ein Fest ver- 
anstaltet, auf welchem der zu bessernde Freund die Hauptpersön- 
lichkeit bildet. Und bekanntlich geht auch bei den Chinesen der 
Weg zum Herzen über den Magen. Haben sich alle bei Speise 
und Trank gütlich getan und ist man in gehobener Stimmung, so 
wird der Abtinenzring hervorgeholt und dem nichts ahnenden 
Freunde an den Finger gesteckt. Doch er ist jetzt zu allen Opfern 
bereit: hoch und heilig verspricht er, hinfüro keinen Wein mehr 
anzurühren, keine Spielhölle mehr zu besuchen, dem Opiumgenuß 
vollends zu entsagen. Aber man will auch Beweise, daß es ihm 
Ernst ist mit seinem Versprechen. Er muß sich verpflichten, sobald 
er seinem Gelübde untreu geworden, alle Freunde zu einer Mahl- 
zeit einzuladen oder eine bestimmte Summe Geld zu zahlen. Man- 
cher wird durch das Mittel geheilt, mancher aber übertritt seine 
Vorsätze wieder, obschon der Ring an seinem Finger einen 
beständigen Appell an sein Ehrgefühl und nicht minder an seine 
Kasse richtet. 

Heiratsringe werden nur an der Frauenhaud gefunden. Die- 
selben werden tjä tsche J$ fä oder tjä liu JjJ fg genannt : „Meide 



— 152 — 



das Hinzeigen" — „hüte dich vor dem Herumspazieren ". Das 
weibliche Geschlecht soll immer gesittet sein, und dazu gehört vor 
allem, daß es seine Augen in Obacht nehme und bescheiden vor 
sich hinschaue. Wollte eine Frau aber gar mit dem Finger auf 
etwas oder jemand zeigen, 
dann würde sie als lose Per- 
son gelten. Überhaupt soll 
sie sich daheim aufhalten, d. 
h. innerhalb der vier Wände 
des eigenen Hauses; daran 
wird sie schon durch ihren 
Namen erinnert : Tja-Li, 
Hausfrau (wörtlich : „drin- 
nen im Haus"). Aber auch 
der Fingerring „Meide das 
Herumspazieren" soll sie 
beständig an ihre Pflicht 
ermahnen. Begreiflicherwei- 
se haben die Fingerringe 
da weniger den Charakter 
eines Schmuckgegenstandes 
als vielmehr eines Erinne- 
rungzeichens. 

Während in Europa die 
gefürchteten Schwiegermüt- 
ter meistens nur eingebildete 
„Hausdrachen" sind, ist die 
lao nian (äg Ig Schwieger- 
mutter) der Chinesen nicht 
selten ein solcher in Wirk- 
lichkeit. Unzählige arme 
Frauen haben sie zur Ver- 
zweiflung und damit in den 
Brunnen getrieben. Erst recht übel ist aber die arme Frau dar- 
an, wenn die Zeit kommt, wo ihr die Arbeit schwer zu fallen 
beginnt. Um nun die Schwiegermutter auf ihren Zustand aufmerk- 
sam zu machen, wurde in früheren Zeiten an den kleinen Finger 
ein Eing gesteckt. Nach Verlauf eines Monats wurde der nächst- 
folgende Finger mit einem Ringe versehen. Die Schwiegermutter 
sollte dadurch aufmerksam gemacht werden, daß die junger Frau 
mit mehr Schonung zu behandeln sei und daß sie ihr die Arbeit 




Waisenmädchen aus Puoly. 



— 153 — 

erleichtern möge und zwar um so mehr, je zahlreicher die Ringe 
an ihren Fingern sind. Nach dieser Version soll sich das Jß tjä: 
„enthalten" nicht so sehr auf die Frau beziehen, als vielmehr auf 
ihre Umgebung. Soweit uns die chinesischen Schwiegermütter 
bekannt sind, wäre nur zu wünschen, daß auch heutzutage eine 
derartige Einrichtung noch zu Ehren bestände. 

Die Hauptschmuckgegenstände des „schönen Geschlechts " in 
China bestehen in der Kopfbedeckung am Hochzeitstage und in der 
kleinen Fußbekleidung zeitlebenslang. Besagte Kopfbedeckung heißt 
Fung-kuen, gji, jfä „Phönixmütze", und hat Ähnlichkeit mit der 
Krone, wie sie in früheren Zeiten die chinesischen Kaiser trugen 
und wie sie heutzutage vielfach noch die Häupter der Götzen 
schmückt. Vom obern Rande hängen Perlschnüre herunter, welche 
die Stirne und teilweise auch das Gesicht der Braut verdecken. 
Für gewöhnlich aber trägt die chinesische Frau nur einen Haar- 
halter; will sie sich besonders fein machen, so wird eine Blume 
ins Haar gesteckt. — Jede Dame verfertigt sich selbst die Schuhe. 
Es ist das auch selbstverständlich; weiß doch jede am besten, wo 
sie der Schuh am meisten drückt, und für die chinesischen „Lilien" 
wäre überhaupt kein einheitlicher Leisten zu finden. Der Schuh 
bildet denn auch besonders den Hauptgegenstand, an dem die chi- 
nesische Frau ihr Künstlertalent erproben kann, wenn sie solches 
besitzt, zumal in der Kunststickerei. Wenn sie etwas Hervorragen- 
des darin leistet, tut sie sich nicht wenig darauf zu gute. Anders 
wird es, wenn kleine Kinder die Muttersorgen in Anspruch nehmen. 
Aber auch für das kleine Baby liefern wieder Kopfbedeckung und 
Schuhe die vorzüglichsten Verschönerungsmittel. Die Mutter ver- 
fertigt beide Dinge selber, und man gebraucht weder Meister Fips 
noch seinen Kollegen, den Schuhmacher. Verfügt sie über genü- 
gende Phantasie, so verwandelt sich der Hut des kleinen Knirpsse 
nicht selten in einen Löwenkopf, die Schuhe aber tragen am vor- 
deren Ende das Bild der „Mies". Als gewöhnlicher Schmuck für 
die Kindermütze wird ein kleiner Spiegel darauf genäht. Ist dem 
Kinde noch eine „trockene Mutter" beigegeben, so legt ihm diese 
alsobald ein silbernes Kettchen um den Hals, das nicht eher abge- 
nommen werden darf, als bis das junge Wesen zur Braut oder zum 
Bräutigam herangewachsen ist. Tags vor der Heirat wird dann 
das Kettchen von der „trockenen Mutter" abgenommen, und die gegen- 
seitigen Beziehungen nehmen hiermit ein Ende. Knaben tragen gele- 
gentlich am Fuße einen silbernen Ring, nicht allein zum Schmucke, 
sondern auch als Talisman zum Schutze gegen böse Geister. 



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Mit Monokel oder Kneifer schmückt der vornehme Zopfträger 
seine Nase nicht: diese Dinge passen nicht für ein Chinesenauge 
und eine Stumpfnase; aber eine gewaltige Hornbrille mit dunklem 
Krystall soll die Denkerstirn kennbar machen und zugleich der 
Visage den gewünschten Schönheitsstempel aufdrücken. Pfeife und 
Fächer geben, abgesehen vom praktischen Werte, auch noch Gele- 
genheit, einen Schmuckgegenstand daraus zu machen, und darum 
fächelt sich mancher Geck ohne daß es ihm heiß ist; er will nur 
seinen kunstvollen Windflügel bewundern lassen. Und gar mancher 
Nichtraucher trägt die Pfeife mit sich herum, weil sie viel Geld 
gekostet hat und in die Augen sticht. Zur Vervollständigung des 
Schmuckes gehört dann endlich noch ein Bündelchen Miniaturgerät- 
schaften, die meistens aus Silber gearbeitet sind und am obersten 
Knopfe des Bockes glänzen. Ohrlöffelchen, Zahnstocher, Augenpin- 
cette und ein Bartkämmchen sind die gewöhnlichsten Gegenstände 
dieser Art, welche zwar für den Gebrauch wenig Wert haben, aber 
zur Ausstaffirung eines chinesischen Gentleman gehören. Wer sich's 
leisten kann, kauft sich heutzutage eine Taschenuhr, um damit 
Großtuerei zu treiben, wie es auch wohl anderswo geschieht. Osten- 
tativ wird sie in einem fein gestickten seidenen Säckchen am Gürtel 
getragen, und fragt man den Besitzer, wie spät es sei, so fühlt er 
sich geschmeichelt. Wer die Windbeutelei aber voll machen will, 
schmückt seinen Gurt mit einem Riechsäckchen, das ebenfalls aus 
kostbarer Seide gestickt ist. Drinnen ist Moschus und allerhand 
Duftiges eingenäht, das aber für eine europäische Nase durchaus 
nicht immer angenehm zu riechen ist. 



Die Ziegelbrennerei. 

\*k> chinesischen Geschichtsbücher berichten, daß der Myten- 
kaiser Schen-Nung seinem Volke die Bereitung von Ziegel- 
jjK steinen zuerst gelehrt habe. Zur Zeit des Kaisers Schao- 
ÖtÖVfö * Kin soll die Anlage von Ziegelöfen besonders am Laufe 
der Flüsse gemacht worden sein, und als Material soll man den 
Flußschlamm verwendet haben. Die Gebrauchsgegenstände aus 
damaliger Zeit seien deshalb besonders stark, ja sogar unzerbrechlich 
gewesen. Jedenfalls haben die Chinesen seit vordenklicher Zeit so- 
wohl Ziegelsteine und Dachziegeln, als auch mancherlei Geratschaf- 



— 155 r- 

ten zu formen und zu brennen verstanden, so daß die Gefäße aus 
alter Zeit uns heute noch Bewunderung abnötigen. 

Was die Herstellung von Backsteinen und Dachziegeln betrifft, 
so steht diese auch jetzt noch auf äußerst primitiver Anlage. Wo 
man geeignete Lehmerde findet, wird mitten im Felde der Ofen 
gebaut. Er bildet ein Tonnengewölbe und wird in der Weise her- 
gestellt, daß man die Füllung des zu erbauenden Ofens zugleich 
mit der Außenwand emporführt. Als Material gebraucht man große 
Luftziegel; die unterliegende Füllung dient dem Gewölbe zunächst 
als Stützpunkt. Wenn dann die Steine gar gebacken sind, können 
sie ohne irgend welche Gefahr fortgenommen werden, und der Ofen 
ist fertig. So sind die Chinesen ungemein praktisch und erreichen 
mit äußerst einfachen Mitteln ohne besondere Auslagen ihr erstrebtes 
Ziel. Damit recht wenig Wärme nach Außen verloren geht, wird 
der Ofen mit einer mehrere Fuß dicken Erdschicht überdeckt. Er 
sieht von weiten wie ein kleiner Hügel aus. 

Auf dem Scheitel des Ofens wird eine Fläche hergestellt, die 
mehrere Meter im Durchmesser hat. Ein bequemer Weg führt von 
außen in Schlangenwindung hinauf. Ist die Fläche gut geebnet, 
wird sie einige Zentimeter hoch mit Ofenasche bestreut. Sobald 
nun die Heizung so weit vorangeschritten ist, daß die Steine durch 
und durch erglühen, werden die beiden Offnungen des Ofens (Feu- 
erung und ßauchfang) mit Erde hermetisch abgeschloßen und gut 
verschmiert. Sofort beginnt dann das Wassertragen. Ein Dutzend 
Arbeiter müssen stundenlang in Eimern das Naß zum Scheitel des 
Ofens schleppen, wo es auf die mit Asche bestreute Fläche gegossen 
wird. Die Asche hat den Zweck, daß sie das Wasser nur ganz 
allmählich durchsickern läßt. Auf diese Weise wird das Feuer 
gelöscht, und daher stammt die graue Farbe der chinesischen Ziegel. 
Als Grund dieses Verfahrens wird meistens angegeben, es sei dem 
gewöhnlichen Manne verboten, gelbe oder rote Steine zu benutzen. 
Der eigentliche Grund ist aber der, daß man durch diese Art des 
Löschens die Steine um vierzehn Tage früher aus dem Ofen tragen 
kann und nicht auf ein allmähliches Erkalten zu warten braucht. 
Den Ziegelbrennern liegt nämlich sehr viel daran ihre Zeit gut aus- 
zunutzen, da die zum Brennen günstige Zeit nur kurz bemessen ist. 
Während zwei bis drei Monate im Frühjahre und im Herbst müssen sie 
sich sputen. Sommer und Winter sind wegen der Witterungs Verhält- 
nisse zum Ziegelbrennen nicht geeignet. Tatsache ist freilich, daß 
für kaiserliche Bauten und Pagoden meistens gelbe oder rote Steine 
und Dachziegel benutzt werden. Die Farbe besteht aber in einer 



— 156 — 

Glasur, die eigens aufgetragen wird. Von Natur aus rote oder 
gelbe Steine backt der Chinese überhaupt nicht. 

Ist die Ernte gut gewesen und haben die Getreidekörbe ein 
behäbiges Aussehen, so gibt es auch Baulustige. Entweder will 
man massiver bauen lassen, oder die im Sommer baufällig gewor- 
dene Wohnung nötigt eine bessere an deren Stelle zu setzen. Oder 
ein Sprößling will in Bälde eine Lebensgefährtin zu sich nehmen, 
(d. h. die Eltern wollen es), und da muß für das neue Paar auch 
ein neues Heim geschaffen werden. Falls nun die Ernte gut aus- 
gefallen ist, baut man solide und gebraucht wenigstens zum Fun- 
damente Backsteine. Andernfalls „behilft man sich". In Erwägung 
dieser Umstände betreiben die Ziegelbrenner ihr Geschäft. Ist das 
Feld abgeerntet, so wird ein Ofeninhaber aufgesucht und mit diesem 
verakkordiert. Will er selbst das Oberhaupt machen, so muß er 
vorläufig für die Beköstigung der Leute sorgen, während diese 
die Luftziegel machen und den Ofen in Stand setzen. Ein guter 
Arbeiter kann am Tage achthundert Luftziegel herstellen, die nach 
einigen Tagen mauernweise aufgeschichtet und mit dem Brennmaterial 
überdeckt werden. Dieses besteht aus Hirsen- und Weizenstroh, 
Sorgho- und Maisstengeln. Am Meisten bevorzugt ist das Weizen- 
stroh; es soll die klangvollsten Steine liefern. Sind so viele Steine 
getrocknet, daß ein Ofen damit angefüllt werden kann, beginnt das 
Brennen. Mit dem Herstellen der Luftziegeln fährt man fort, bis 
der Frost einsetzt. Die Feuerung dauert in der Regel acht Tage lang, 
der erste Ofen aber muß noch einige Tage länger geheizt werden. 

Sind die fertigen Steine herausgetragen, so stellen flieh allmä- 
lich Käufer ein. Yon jedem Zehntauend Steine erhält das Oberhaupt 
ein Tausend. Zudem werden ihm jetzt die Auslagen für die Bekö- 
stigung der Arbeiter vergütet. Stellt sich heraus, daß man nicht auf 
die Unkosteu kommt, weil Kost und Brennmaterial zu teuer gewor- 
den sind, so nehmen die Arbeiter nicht selten Reisaus und lassen 
das „Oberhaupt" in der Patsche sitzen. Überhaupt ist bei der 
Ziegelbrennerei der Verdienst nicht sonderlich groß ; es sind gewöhn- 
lich arme Schlucker die sich damit abgeben. Es gilt als sprichwörtlich, 
daß das Oberhaupt einer Ziegelbrennerei sich auf Ungemach gefaßt 
machen muß. „Wer sich Verdrießlichkeiten aufhalsen will, der kaufe 
ein Kopfkissenland 1 ), mache einen Ziegelofen oder er nehme sich 
eine zweite Frau" sagt ein Sprichwort. 

l ) Kopfkissenland wird ein schmaler Streifen genannt, der der Länge nach 
zwischen den Lftndereien anderer Leute liegt. Diese werden dann beim Pflügen 
auf diesem Streifen kehrtmachen und die Frucht vertreten. 



— 157 •— 

Falls der Ofeninhaber aber nur die Benutzung des Ofens sowie 
den Lehm freistellt, woraus die Ziegeln gemacht werden, so kommen 
für jedem Ofen drei bis fünf Tiao in Auszahlung je nach der Menge 
Steine, die der Ofen fassen kann. In diesem Falle stellt sich ein 
anderer als Oberhaupt an die Spitze und nimmt die Beköstigung 
der Arbeiter in die Hand. 

Kleinbauern, die mehr Brennmaterial geerntet haben, als sie 
verbrauchen, tauschen den Überfluß desselben an Ziegelöfen gegen 
Steine aus. Zu Hause mag Niemand gerne einen großen Haufen Stroh 
und Sorghostengel aufbewahren, denn der Chinese sucht sich mit Vor- 
liebe dadurch an seinem Feinde zu rächen, daß er ihm den roten Hahn 
aufs Dach setzt. Bei der Ziegelbrennerei muß deshalb auch immer 
während der Nacht Jemand wachen, und man hütet sich ja, das 
Bettelvolk zu beleidigen. Die Ziegeleien sind daher eine Zuflucht- 
stätte für die Bettler während der Nacht. 

Als Schutzheiligen verehren die Ziegelbrenner den Lao-tse. 
Bevor der erste Ofen angezündet wird, bringt man ihm Opfer und 
verbrennt Weihrauch und sein Bild hängt irgendwo in einer 
kleinen Nische. Lao-tse soll nämlich fünf Schüler gehabt haben, 
von denen einer ein Ziegelbrenner war. 



« ceoccc w 




Der Chinesenköter. 

jjchon Manchen, die einige Zeit in China waren und sich bei 
Land und Leuten umhergeschaut, werden die schäbigen 
Hunde geärgert oder viellieicht auch gedauert haben. Ja, 
ANSI wen s °Ute auch ein so elendes Geschöpf nicht dauern, das 
da mit eingezogenem Schwanz und scheuem Blicke umherschleicht, 
meistens dort, wo es am meisten stinkt. Es scheint nur eine Be- 
schäftigung zu kennen, nämlich etwas zu erhaschen oder zu naschen, 
um seinen Hunger zu stillen. Gute Tage hat die arme Kreatur 
noch nicht viele gehabt, das sieht man ihr an, und bei ihrem An- 
blicke kommt einem so recht zum Bewußtsein, wie verschieden 
das Loos hienieden verteilt ist, selbst bei den Tieren. Wäre der 
elende Köter neidischer Gedanken fähig, ganz gewiß würde er sie 
bekommen, wenn er das Loos von manchem Teckel mit dem seinigen 
vergliche. Jener hat sogar einen Namen, auch scheint er höhere 
Bildung genossen zu haben, da sein Herr bisweilen englisch mit 
ihm spricht oder französisch — er muß sich mit dem allgemeinen 



— 158 — 

n lcou u begnügen, was Hund heißt und Niemand würdigt ihn eine« 
freundlichen Worte» oder Blicke». Nur wenn er al» Braten feil 
geboten oder von »einem harten Herrn »elb»t ver»pei»t wird, heißt 
er n tjuen u , das allerding» auch Hund bedeutet, aber doch der vor- 
nehmen Sprache entnommen i»t, 

So ein chine»i»cher Hund i»t denn auch taub und stumm gegen 
alle Lieben»würdigkeiten, und wenn man ihm »olche erweisen will, 
bezieht er »ie nicht auf »ich. Kuhig hält er »einen Schwanz zwischen 
den Beinen, die Wedelmu»keln sind bei ihm überhaupt nicht aus- 
gebildet. Bei Tage liegt er an der Straße oder noch öfter mitten 
darauf, und es ist ihm wenig daran gelegen, ob er überritten oder 
überfahren wird, denn an dem Leben hängt er durchaus nicht. 
Während der Nacht allerding» waltet er »einer Geschäfte, er bewacht 
Hau» und Hof und bellt mit, wenn andere Hunde e» ihm vormachen. 
So verdient er die »pärlichen Brocken, die von seine» Herrn Ti»che 
fallen. In der Regel aber fällt nichts herunter, denn Knochen gibt 
e» in den Bauernküchen gewohnlich nur zu Neujahr, und dann haben 
die Kinder »eibige schon abgenagt, und die Hausfrau hat sie zer- 
schlagen, um das Mark zu bekommen, so daß »elb»t ein Hundezahn 
nicht» mehr daran zu nagen findet. Er muß »ich mit Spülwa»ser 
begnügen und Häckselbrot {„Kang-uo-w"), im Übrigen aber ist er 
auf seine eigene Erfindungsgabe angewiesen, um seinen Lebens- 
unterhalt zu fristen. 

Armes Tier Du, nein doch nicht, denn je elender und 

räudiger Du bist, um so mehr hast Du Au»»icht, der Träger großer 
Kostbarkeiten zu »ein. 

In den chine»i»chen Apotheken gibt es ein Heilmittel, das 
unter dem Namen „h/u prw u bekannt i»t. Kou pao heißt Hunde- 
Kostbarkeit und diese Medizin wird dann in der Tat als Kostbar- 
keit für schwere» Geld bezahlt. Sie wiegt ungefähr Gold auf im 
Gewichte und soll ein unfehlbares Heilmittel sein gegen Krankheiten, 
die tief eingewurzelt und schlecht zu heilen sind. Besagte Medizin 
aber entstammt eben dem Schädel eines Koters, — absichtlieh sage 
ich Koter, denn bei wohlgenährten und schonen Hunden ist sie 
nicht zu finden — der obendrein noch recht alt »ein muß. Er- 
fahrene bewährte Aerzte können es meistens dem Hunde ansehen, 
ob »ich in seinem Kopfe so eine Kostbarkeit ausbildet, und wenn das 
der Fall ist, suchen »ie ihn zu kaufen, sollte er auch hoch im Preise sein. 

Um aber die kostbare Medizin zu bekommen, muß noch der 
rechte Augenblick abgewartet werden. Der Hund muß heulen. 
Heulen tut aber nicht jeder Hund; die meisten tun es nur dann, 



— 159 — 

wenn sie Vorgeschichten oder Spukbilder sehen oder Musik hören, 
und deshalb muß oft lange gewartet werden, bis die ersehnten 
Laute gehört werden. Sobald der Hund aber zu heulen beginnt, 
ist der Augenblick gekommen, die wertvolle Medizin in Empfang 
zu nehmen, und damit hat denn auch die letzte Stunde des armen 
Köters geschlagen. Während er seine Schnauze in die Luft streckt 
und recht jämmerlich heult, schleicht sich der bewährte Lebens- 
Terlängerungs-Praktikant von hinten heran und schlägt ihn mit 
einem Knittel in den Nacken. Husch — die Hunde-Kostbarkeit 
rollt in Gestalt einer roten Kugel dem Tiere aus der Schnauze: 
das ist die „Kou pao" ; der „Kou" aber stirbt sofort, selbst wenn 
der Schlag nicht tötlich war, denn er kann ohne die pao nicht 
mehr leben. — 

Also man verachte nicht zu sehr das chinesische Hundevieh, 
denn es ist bisweilen Inhaber seltener Schätze. Wer aber Zweifel 
an der Geschichte hat, besuche nur einmal eine chinesische Apotheke 
und verlange „kou pao" und lasse sich die Genesis des Wunder- 
mittels erzählen; er wird das Nämliche hören, was er hier gelesen 
— falls der Chinese nicht noch Neues dazu schwindelt. 



Das Pferd, 

wie es von den Chinesen betrachtet und beschrieben wird. 

Jer arm werden will, braucht nur mit lebenden Drachen 
tjh zu spielen. Das ist eine Regel, die jenen zur Beher- 
f^h ^g un & empfohlen wird, die passionierte Pferdeliebhaber 
C^ä^§?gFi3 sind und große Summen daran verschwenden, um mit 
Pferden prahlen zu können. Unter „lebenden Drachen" wird näm- 
lich ein Pferd verstanden, denn jedes Pferd soll eine halbe Drachen- 
natur haben. Handelt es sich aber um einen Durchgänger, der acht 
Fuß in der Höhe mißt und in der Zeit von vier und zwanzig 
Stunden einen Weg von tausend Li zurücklegt, so gilt er als eigent- 
licher Drache. Daß es solche Drachenpferde gibt, ist natürlich 
eine Fabel, aber die chinesischen Bauern glauben fest daran. 

Vor mir liegt ein Buch betitelt : fg JE$ f§£ (siang-ma-king) 
„ Betrachtung über das Pferd". Darin sind viele Belehrungen ent- 
halten, die sich auf die Behandlung der Pferde beziehen und 




— 160 — 

Unterweisungen, die bei ihrem Kauf zu beobachten sind. Es werden 
mancherlei Ratschläge darüber unterbreitet wie das Tier in gesunden 
und kranken Tagen verpflegt werden soll und dergleichen mehr. 

Zunächst lernen wir die Eigenschaften kennen, die ein gutes 
Pferd auszeichnen müssen. Der Verfasser scheint über eine reiche 
Phantasie verfügt zu haben, und der Leser muß bisweilen die 
eigene schon etwas anstrengen, will er die richtige Vorstellung von 
einem rechten und echten Pferde bekommen. 

Die Augen sollen wie ein hängender Spiegel sein; erscheint 
die ganze Gestalt des Menschen darin, so ist das Tier noch jung 
an Jahren; je älter es wird, um so weniger erblickt man darin vom 
eigenen Bilde. Kupferbraune Augen werden am meisten bevorzugt : 
ein Tier mit kleinen Augen ist furchtsam, große Augen sind ein 
Zeichen von Mut. Der Leib gilt als Pestungsmauer, die unten breit, 
sich nach oben hin verjüngt. Der Kücken stellt den Feldherrn dar, 
der tapfor im Streite, die schwersten Lasten zu tragen sich nicht 
scheut. Der Kopf ist wie ein König vom Ganzen ; er habe markierte 
Formen und sei kräftig gebaut. Das Zahnfleisch sei rot und glänzend, 
die Kniee rund wie Quitten. Ein Füllen, das ohne Haare zur Welt 
kommt, entwickelt sich zu einem „ Drachenpferde u und läuft in 
einem Tage tausend Li weit. Tut es aber beim Wasser lassen nach 
Hundeart, macht es nur die Hälfte des Weges. Die Brust sei breit 
und voll, die Hüftenknochen dürfen kaum hervorragen, die Beine 
seien vier Säulen gleich. Beim Laufen dürfen die Füße kaum den 
Boden berühren und keinen Staub aufwirbeln. 

Ein Pferd, das den Kopf hoch trägt, ist kräftig ; je weniger Fett 
im Gesicht hängt, um so mehr Kraft ist in den Beinen. Sind die Ohren 
klein, so ist auch die Leber klein, und das Tier vermag den Willen seines 
Herrn zu erraten. Große Ohren werden leicht taub und sind schlecht 
beweglich. Eine große Nase setzt eine große Lunge voraus, und diese 
befähigt zu schwerer Arbeit und schnellem Lauf. Auch beim bestge- 
nährten Tiere sollen die Knochen noch sichtbar sein, aber niemals darf 
es so mager sein, daß man kein Fleisch mehr daran entdecken kann. 

Als vorzügliche Pferdefarben gelten schwarz und weiß; ein 
weißes Tier aber, das schwarze Füße und einen schwarzen Schweif 
hat, wird am Meisten bevorzugt. Besondere Beachtung verdienen 
die Haarwirbel. Je nach der Stellnng die sie einnehmen, hat das 
Tier mehr oder weniger Wert. Mag das Tier sonst in jeder Bezie- 
hung einwandsfrei sein, so verliert es ganz bedeutend an Wert, 
wenn sich auf den vorderen Hüften die Haare zu einem Wirbel 
vereinen. Dasselbe gilt, wenn die Haarlinien beim Ansätze des 



— 161 — 

Schweifes einen Wirbel zeigen. Erstere werden jgg $j* (lei-chun) 
„Tränenwirbel* genannt, weil sie bestimmt sind, die Tränen der 
schwergeprüften Schwiegertochter aufzunehmen, wenn diese ihre 
Mutter besuchen geht. Eine junge Frau wird deshalb weder Pferd 
noch Esel besteigen, die mit Tränenwirbeln behaftet sind. Am Kopfe 
soll der Haarwirbel in Mitte der Stirne sein; stehen zwei dem 
Steigbügel gegenüber, so bedeutet das Glück für den Reiter. 

Beim Laufen ist darauf zu achten, daß der Schweif schlank 
herunterhängt ; ein Renner, der das Schweifende nach Kuhart etwas 
emporhebt, hat weniger Wert. Noch größer aber ist der Fehler, 
wenn der Schweif schief gewachsen ist; dann muß durch Stechen 
in die Haarwurzel nachgeholfen werden. Bleibt das ohne Erfolg, 
so bindet man einen Backstein an das äußere Ende der Haare und 
läßt ihn so lange hängen, bis die Krümmung verschwunden ist, und 
der Schweif ein schneidiges Aussehen bekommen hat. 

Begleiten wir unsern Gewärsmann auf den Markt zum Pferde- 
kauf. Zuerst muß man die Mängel kennen, von denen ein gutes 
Pferd frei sein soll. Es werden deren acht aufgezählt, nämlich: 
großer Kopf auf kurzem Halse ; schwacher Rücken auf dickem 
Bauche; kleiner Kopf und große Hufe; großer Kopf mit steifen 
Öhren; langer Hals mit ungelenkigem Rumpfe; spitzer Rücken, 
weiter Bauch; lange Rippen, kurze Flanken; räudige Haut, eckige 
Knochen. Von Weitem gesehen macht der Klepper einen großen 
Eindruck; erst wenn man ihn vor sich sieht, bemerkt man, daß er 
klein und dürr ist. Bei einem guten Rosse ist das Gegenteil der 
Fall. Für den Kauf gilt folgende Hauptregel: 
Aus der Ferne schau auf die Farbe j§£ ;jj — £g )fc. 
Nah bei, nimm die vier Füße in Augenschein j£ If BJ ÖL ffif • 
Große Augen, kleine Ohren, platte Schnautze B$ ^ 3J >J* ^ Bjf $F- 
Die Vorderfüße sollen stramm gleich zwei Säulen stehn fjjf |$ fä 

Die Hinterbeine müssen gekrümmt sein wie ein Bogen g£ $§ jfc 

Alle vier zusammen stehen in gerader Linie ßj J$R pg fj. 

Bas n Siang-ma-tjing a gibt des Weiteren Vorschriften über die 
Verpflegung des Pferdes. Es liebt einen trockenen Stand, in Feuch- 
tigkeit oder Nässe geht es leicht ein. Man vermeide Reisstroh zu 
füttern, denn davon wird das Pferd ungelenkig in den Beinen. Drei- 
mal im Tage verabreiche man ihm seine Portion in Wasser, Stroh 
und Getreide. Im Herbste oder Winter aber ist das Stroh mit 
Wasser anzufeuchten, während eine einmalige Tränkung am Tage 

H. Fiep er, „Neue Bänder. 11 



— 162 — 

genügt. Wenn das Tier Wasser genommen hat, soll es eine Zeit 
lang herumgeführt werden, dadurch werden die Lebensgeister an- 
geregt, und es bleibt flink auf den Beinen. 

Es wird eine ganze Reihe Krankheiten aufgezählt, von denen 
das Pferd befallen werden kann ; aber jedesmal sind auch die Mittel 
vorgesorgt, die zur Heilung dienen. Ein gedörrter Frosch z. B. der 
mit Alaun zu Pulver zerrieben ist, soll bei wunden Stellen auf dem 
Bücken mit wunderbarem Erfolge angewendet werden. 

Schließlich werden noch einige Aufklärungen über die Ver- 
wandbarkeit des Fleisches gegeben, die einen Pferdemetzger in- 
tressieren dürften. Die Natur des Pferdefleisches ist herbe. Es 
soll nur kalt genossen werden. Hat es einen sauren Beigeschmack, 
so ist es giftig; dasselbe gilt von dem Fleische unter dem Sattel. 
Weiße Pferde mit schwarzen Kopfe oder schwarzen Füßen dürfen 
nicht gegessen werden, denn das Fleisch ist schädlich. Der Genuß 
von Zelterfleisch ist besonders jenen zu empfehlen, die schwach in 
den Hüften sind. Wer giftiges Pferdefleisch genossen hat, kann durch 
Schnaps und Essig die schädlichen Wirkungen wieder gut machen. 

Soll ein Tier für die Rennbahn abgerichtet werden, muß es 
zuvor eine Entfettungskur mit durchmachen. In früheren Jahren 
wo das Militärexamen noch in Ehren bestand, und es viel von dem 
Pferde abhing, ob der Kandidat einen Rangknopf bekam oder nicht, 
mußten die Tiere erst tagelang eingedrillt werden. Mancher war 
selbst zu arm um ein eigenes Pferd zu halten; für solche standen 
Leihpferde zu Diensten, Ein Übungsritt wurde mit zweihundert Sa- 
peken bezahlt; beim Examen aber kostete der Ritt einen Tiao. 

Eine Entfettungskur besteht darin, daß unter das Futter eine 
Hand voll Teeblätter nebst etwas Alaun gemischt wird. Das Fressen 
wird nur einmal am Tage verabreicht und zwar gegen Abend. Das 
Tier wird aber von morgens früh bis gegen Sonnenuntergang herum- 
geführt und zwar so langsam wie möglich. Dadurch wird es der- 
art ermüdet, daß die Beine allmählich nicht mehr mitwollen. Zur 
gegebenen Zeit legt es sich sofort nieder und streckt alle Viere von 
sich. Diese Ruhe tut ihm besonders wohl. Denn es ist eben das Gute 
solcher Müdigkeit, daß sie nicht lange andauert. In kurzer Zeit 
wird das Tier wieder munter, und wenn ihm nun das Futter gereicht 
wird, frißt es wie ein Wehrwolf. Um aber den Appetit noch mehr 
zu reitzen, wird ein Korb mit Hexel so gehängt, daß derselbe immer 
auf die Seite weicht, wenn es mit der Schnautze daran will. Je 
reicher der Schaumabfluß aus dem Maule stattfindet, um so besser 
für das Tier. Das mit Schaum untermischte Futter soll ihm nicht 



— 168 — 

gut bekommen. Nachdem dann die Krippe gereinigt ist, beginnt 
das Futter. Hat es sich sattgefressen und dann wieder geruht, 
sind am Morgen alle Lebensgeister dermaßen erwacht und frisch, 
daß das Pferd „dahinsaust wie ein fliegender Drache. " Nach kurzem 
Ritt beginnt dann wieder das langsame herumführen bis gegen 
Abend. Nach Verlauf von drei Tagen ist das Roß gebrauchsfähig : 
„Das Fett hat sich in Fleisch und Sehnen verwandelt; alle Müdigkeit 
ist für immer verschwunden; Mut und Ausdauer werden seine 
stetigen Begleiter sein und Appetit hat es immer mehr als zu stillen ist. 

Ein junges Pferd, das nicht parieren will, wird hauptsächlich 
durch Beißen in die Ohren gezähmt. Und so ein Chinese hat meistens 
gute Zähne und „giftig" kann er auch schon werden. Dann werden 
die Ohren oft gebissen, daß das Blut herunterläuft. Der „Racker" 
aber ist dann t'ing-schuo (parierend) und folgsam wie ein Lamm. 

Eine Stute ist während der Tragezeit gut in Acht zu nehmen, 
daß sie nicht mit Ochsen an einer Krippe das Futter nimmt, denn 
in diesem Falle würde das Füllen ein hervorstehendes Unterkiefer 
bekommen und dadurch bedeutend an Wert verlieren. 

Die Pferde der Bauern vom Lande machen in der Regel einen 
klepperhaften Eindruck. Es sind das bejahrte Stuten, die man an 
erster Stelle der Mauleselzucht wegen hält. Mit Vorliebe werden 
alte dafür benutzt weil diese am tragfähigsten sind, ^g S$ ff 3 M 
„Ein altes Pferd macht drei Familien reich," gilt als Bauerngrund- 
satz. So ein Mauleselfüllen ist natürlich eine gute Einnahme neben- 
bei, denn die Stute muß auf Feld und Hof ihre Arbeiten ebenso- 
wohl tun, wie Bruder Ochs oder Esel, die meistens ihre treuen 
Gefährten sind. Und wenn das junge Füllen in den Flegeljahren 
des Vergnügens halber mit auf den Acker geht, erfreuen sich alle 
drei an seinen tollen Sprüngen. Der Bauer aber hat die größte 
Freude, wenn er das Tier für einen guten Preis verhandelt hat und 
wo möglich hundert Tiao dafür in die Tasche stecken kann. Und 
sein Sümmchen wird verhältnismäßig leicht verdient, da die Füllen 
verkauft werden, wenn sie noch jung an Jahren sind. J^ g $( if gfy 
Tse mä uja tjü gilt da als Regel: „Erwerbe nur ein zahnloses Füllen" 
(d. h. eines, das nur Milchzähne hat.) (7 M fö 3F8I) pu mä Hang 
ja lü „Einen Esel mit zwei Zähnen meide zu kaufen." Das Zahnen 
macht die Tiere mager, darum ist besser, sie mit Milchzähnen zu 
verkaufen. Wenn die Zähne aber einmal ausgewachsen sind, dann 
verstehen es die Chinesen einen alten Veteranengaul als „jungen 
Studenten" zu verschachern. Die Zähne werden mit Feilen bear- 
beitet wenn sie zu lang sind, und mit kleinen Bohrern macht man 



— 164 — 

künstliche Kunden (Vertiefungen) hinein. Einige Dosen Ansenik 
machen das Tier äußerlich blank und drall, und dermaßen sieht 
ein alter Klepper aus wie ein Junker auf Freiersfüßen. Doch hat 
die Freude des glücklichen Erwerbers nur kurze Dauer. Bald wird 
offenbar, was an der alten Haut gelegen ist. Aber der Betrug wird 
erst bemerkt, wenn es zu spät ist. Begreiflicherweise traut beim 
Handel keiner den andern und jedermann ist von vornherein der 
Überzeugung, daß er es mit einem Schelme oder Halunken zu tun 
hat, vor dem man sich in Acht nehmen muß. 

Je nachdem das junge Tier der Mutter voraufgeht oder nach- 
läuft, weiß der Chinese zu beurteilen, ob es bei Tage zur Welt 
gekommen oder während der Nacht: 

„Das Tagesfüllen spaziert vorauf, das Füllen der Nacht geht 
hinterher«. « % £ *, * B £ «• 

Ein echtes Mongolenpferd muß drei Tage fasten können, ohne 
daß es Schaden leidet oder den Marsch versagt. Die Fastenkur 
wird meistens vorgenommen, wenn das Tier aus dem Norden in 
das Innere Chinas geführt wird. Die Fütterung ist dort verschieden. 
In der Überzeugung nun, daß auch für ein Pferd Hunger der beste 
Koch ist, wird dem Tiere während der ersten drei Reittage über- 
haupt kein Futter verabreicht, es muß sich mit Wasser begnügen, 
das man ihm nach Belieben anbietet. Wenn dann aber noch drei 
Tage sich die Krippe mit Stroh füllt, schmeckt ihm das weit besser 
als das Gras der Steppe, und fürderhin verspürt es kein Verlangen 
mehr darnach. Je besser überhaupt ein Pferd frißt, um so wertvoller 
ist es. Die Aufnahme des Futters muß schnell von statten gehen, und 
man sieht es nicht gerne, wenn sich das Tier wählerisch dabei zeigt. 

Sicher ist, daß die Chinesen schon seit undenklicher Zeit das 
Pferd in ihren Dienst gestellt haben. Im Wörterbuch des Kaisers 
K'ang-chi befinden sich vierhundertzweiundfünfzig Schriftzeichen, 
die uns das Pferd in allen möglichen Eigenschaften, Altersstufen und 
Farben vorführen. Es begegnet uns da das mutige Pferd, das zor- 
nige Pferd, das Pferd mit weißen Füßen; das eine sehen wir 
springen, das andere wihern, ein drittes den Kopf tragen. Hat das 
Tier einen weißen Bauch, einen weißen oder schwarzen Schweif, 
einen Flecken auf der Stirne oder auf dem Bücken, so findet es 
eigene Benennung und Bezeichnung u. s. w. Mit dem Begriffe Pferd 
verbindet man auch den der Schnelligkeit. 1$ _£ (Ma-schang, zu 
Pferde) heißt: sofort; das Stichwort in Reclammeanoncen heißt ffe ££ 
wodurch bezeichnet wird, daß sich der Ruf von der Güte des ange- 
priesenen Artikels mit der Schnelligkeit eines Pferdes bereits auf 



— 165 — 

der ganzen Welk verbreitet hat. Einen talentvollen Knaben nennt 
man ft g$ Lung-tjä „ Drachenfüllen u . Als einen (2£ ÄJ Wu-ma) 
„Fünf-Pferdigen" wird der Mandarin bezeichnet, und die höchste 
Gelehrtenakademie in Peking, das Han4in-yüan wird ^ j$ f*] (Kin- 
ma-men) „die Türe mit einem goldenen Pferde u geheißen. Die 
Beamten in ihren Zeremonienkleidern tragen B| KJf |& (ma-ti-siu) 
„Pferdehufärmel, da die Umschlagsenden derselben (Vorderende) die 
Form von Pferdehufen haben. Über eine lange Toga zieht der 
Chinese bei feierlichen Gelegenheiten eine Rsffi^p (ma-kua-tse) einen 
„Pferderock," der bis an die Lenden reicht. Was man sich über 
den Ursprung dieser Kleidungsstücke erzählt, bedeutet heute freilich 
einen Spott auf die Zopfträger selbst. Ehemals als man die Mon- 
golen aus dem Reiche der Mitte vertrieben und zum Schutze gegen 
sie eine große Mauer aufgerichtet hatte, wurden die Besiegten 
behandelt wie das Vieh. Das waren ja keine zivilisierten Menschen, 
sondern Wilde, gleich den Pferden, die sie ritten. Zum Spotte wur- 
den ihnen denn (ma-kua-tse) „ Pferdekleider u angezogen, die den Sat- 
tel vorstellen sollten. Die Vorderende an den Ärmeln bedeuten (ma- 
ti-siu) die Hufe der Rosse, ein roter Haarbusch auf dem Hute sollte 
an die Pferdemähne erinnern; den Zopf in Mitte des glatt rasierten 
Schädels bezeichnete man den Pferdeschwanz. Und damit auch der 
Schmuck nicht fehle wurde eine Perlenschnur, (heutige Mandarinen- 
kette!) um den Hals gelegt, die das Schellenband vorstellen sollte, 
das die Reitpferde gewöhnlich tragen. Die Besiegten mußten sich 
das gefallen lassen; die Spottkleidung wurde allmählich National- 
kleidung. Als dann später die Mandschu den Drachenthron zurück- 
eroberten, behielten sie die Kleidung bei ohne sich weiter um die 
Philosophio derselben zu kümmern. 



Das verflixte Chinesisch. 

|icht nur europäische Ohren müssen beim Chinesischspechen 
gut „gespitzt" werden, wollen sie immer das Richtige hören: 
auch der Chinese versteht oft genug ganz etwas anderes, 
als was der Sprechende gemeint hat, und allerhand Miß- 
verständnisse sind gar keine Seltenheit. 

Da erscheint eines Tages, so erzählt eine chinesische Fabel, 
ein Gelehrter, der zeitlebens bei einer Schar Buben Lehrer gewesen 
war, vor dem Konige der Unterwelt, Jenwang. Dieser erkundigte 




— 166 — 

sich über die Verdienste und Verschuldungen des Mannes. Die 
„kleinen Teufel" traten mit seinem Sündenregister vor — das Ver- 
zeichnis der Tugenden war dem armen Manne verloren gegangen 
— und beschuldigten ihn vor allem, daß er während seines Lebens 
den Schülern so viele falsche Charaktere (Schriftzeichen) beigebracht 
habe. „Das ist eine recht schwere Sünde ", sprach Jenwang, „dafür 
mußt du in einen Hund verwandelt werden/ — »Ach, gnädiger 
Herr", flehte der arme Gelehrte, „wenn ich doch einmal zum Hunde 
verurteilt bin, dann laßt mich wenigstens eine Hündin werden." — 
„Eine Hündin, weshalb denn grade das?" — »Ach ich mochte 
gerne eine Hündin werden, denn im Litji (Buch der Ceremonien) 
steht geschrieben; Ist Reichtum im Anzüge, so schnappt ihn die 
Hündin fort: naht Ungemach heran, so geht ihm die Hündin aus 
dem Wege." Als Jenwang dieses hörte, schrie er in hellem Zorne: 
„Deine Dummheit hat keine Grenzen ! Selbst in meiner Gegenwart 
liest du noch die Bücher verkehrt. Für einen Hund bist du viel 
zu dumm, du würdest niemals richtig bellen; ein stummer Fisch 
sollst du werden!" Der arme Sünder wurde dann in Schuppen 
gekleidet und ins Meer geschickt. 

Der Text heißt im Ceremonienbuche : „Lin tz'e mu kou tei; 
lin naen mu kou mien. u Die Laute mu kou heißen Hündin; die 
Zeichen aber im Texte, welche auch mu kou gelesen werden, be- 
deuten sich nicht überstürzen, und dann kommt freilich ein ganz 
anderer Sinn heraus : „Ist Reichtum im Anzüge, so überstürze dich 
nicht, ihn fortzuschnappen; naht Ungemach heran, so überstürze 
dich nicht, ihm aus dem Wege zu gehen." 

Ein Chinese aus dem Süden wollte gern die Mandarinensprache 1 ) 
erlernen. Sein Name war Mingpei ; da er jedoch nichts weniger 
als ining-pei (klug) war, nannte ihn jedermann Hutu, d. h. dumm. 
Das gewöhnliche Platt des Landvolkes war für seinen hohlen Kopf 
nicht gut genug; er wollte gern mit den höheren Kreisen verkehren 
können, mit Gelehrten und Mandarinen und vor allem der Welt 
zeigen, daß er mit Fug und Recht seinen Namen trage. Da war 
es aber nötig, die Gelehrtensprache ordentlich zu verstehen und zu 
sprechen. Ein kleines Bündel mit wenigen Habseligkeiten war bald 
geschnürt, die Hauptsache darin waren einige Lot Silber; damit 



l ) Unter Mandarinensprache versteht man hauptsächlich das höhere Chine- 
sisch, wie es in den nördlichen Provinzen und besonders in Peking gesprochen 
wird. Der Dialekt im südlichen China ist davon vollständig verschieden, und 
deshalb versteht ein Südchinese den Nordchinesen in der ersten Zeit ebensowenig 
wie ein Franzose den Engländer. 



— 167 — 

gedachte Hutu seinen Lehrer, der ihm die Mandarinensprache bei- 
bringen werde, zu besolden. Ein Schiff brachte ihn nach wenigen 
Tagen ati( einen großen Hafenplatz. Dort war viel Volk versammelt, 
hauptsächlich Kaufleute und Kulis. Keinem fiel es ein, den „sim- 
pelen Südländer" (Naenmaentse) zu beachten, denn Fremde gab es 
dort alle Tage zu sehen. Hier werde ich schwerlich einen Lehrer 
finden, dachte Hutu; hier scheint die Weisheit keinen rechten Bo- 
den zu haben. Er nahm deshalb sein Bündel auf den Rücken und 
zog des Weges zu Fuß weiter. 

Als er einige. Tage marschiert war, kam er in ein kleines 
Dorf, . darin warv^j still und friedlich. Hier ist Ruhe und Einsam- 
keit, dachte unser Held, da kann ich ungestört der Weisheit dienen. 
Eben sah er eine Anzahl Leute aus einem niedrigen Hause kom- 
men, in schmutzigen und zerlumpten Kleidern, während andere vop 
gleichem Aussehen dort einkehrten. Da muß wohl eine Hochschulfe 
sein, murmelte Hutu still vor sich hin uud ging oh^e.^eitereB 
hinein. Der Ort war aber keine Hochschule, sondern eine Kneipe für 
Kartenspieler und loses Gesindel. „Vorsicht! kein As noch zwei!" 
rief ein Spieler in erregtem Tone. Das ist sicher Mandarinendialekt, 
dachte Hutu, näherte sich den Spielern und flüsterte mit beschei- 
dener Stimme: „Was sprecht ihr denn da?" — „Fort von hier!* 
schrieen ihm die Spieler zu, denn sie merkten wohl, daß er aus 
fremder Gegend kam. — „Ich habe Silber in meinem Bündel", 
sprach Hutu. — „Willst du denn auch mit einsetzen in unser 
Spiel?" — „Ich kann nicht spielen, aber ich möchte gern die 
Mandarinensprache lernen und bin auf der Suche nach einem Lehrer." 
Das ist ja ein dummer Südländer, dachten die Spieler bei sich, den 
müssen wir einmal etwas leichter machen. „Einen Lehrer suchst 
du, dann kommst du gerade recht. Du brauchst auch nicht viel 
Geld auszugeben und große Auslagen zu machen. Wir alle sind 
Lehrer der Wissenschaft, such dir beliebig einen aus, mache ihm 
Zuo-j (Manipulation mit den Händen beim Begrüßon) und begrüße 
ihn. Dann kaufst du einen Krug Wein, läßt eine Schüssel Fleisch 
herrichten, deinen Lehrer zu bewirten. „Ich", sprach der Haupt- 
spieleiy .»verzichte auf eine Mahlzeit mit vier Schüsseln, acht Tellern 
und einem großen Topfe Fleisch. (Eine Mahlzeit, die einigermaßen 
etwas sein soll, muß wenigstens acht verschiedene kleine Gerichte 
in Tellern haben und vier größere Gerichte in Schüsseln.) Ich will 
dir die Weisheit lehren als Freund und gebe die Versicherung, 
wenn du in die Heimat zurückkehren wirst, wird niemand so gut 
die Mandarinensprache verstehen als du." Wie sich der Südländer 



— 168 




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so glücklich fühlte, als ihm derartige glänzende Aussichten gemacht 
wurden! Sogleich ging er auf die Straße, kaufte Schnaps und eine 
Schüssel voll Fleisch, warf sich vor dem Spieler auf den Boden und 
begrüßte ihn als seinen Lehrer. Dieser ließ sich Fleisch und Schnaps 
gut schmecken, während Hutu zur Seite stand und bediente. Der 



— 169 — 

Schnaps brachte den „Lehrer" bald in fröhliche Stimmung, und ehe 
er fertig gegessen, sprach er zu seinem Schüler: „ Jetzt, Junge, 
geht das Lernen los. Was ich dir vorspreche, mußt du schön 
nachsagen. Sprich: Ich." — „Ich" wiederholte Hutu. — „Sprich: 
Zum Spaß." — „Zum Spaß," antwortete wiederum Hutu. — „Jetzt 
kommt der letzte Vers; gib wohl acht, damit du ihn gut behältst. 
Sprich: Jawohl." — „Jawohl", wiederholte gehorsamst unser Hutu. 
„Hast du jetzt alles behalten? Sprich das Ganze einmal zusammen." 
— „Ich — Zum Spaß — Jawohl" (Uo nao tschao uöl schi). „Recht 
so; jetzt kannst du mit jedem Mandarine verkehren und in deinem 
Dorfe den Aeltesten machen. Kehre nun heim, damit deine Weis- 
heit auch anderen zu gute komme." Freudestrahlend zahlte Hutu 
seinem „Lehrer" die Hälfte des mitgebrachten Silbers, schnürte von 
neuem sein Bündel und machte sich auf den Heimweg. Kaum 
konnte er den Augenblick erwarten, wo er die Seinen wiedersehe. 
Ein günstiger Wind brachte ihn in einigen Tagen über das Meer. 
Noch hatte er zehn Stunden zu gehen, aber auch diese legte er 
ohne Rast zurück. Eben war es Mitternacht, als er vor der Türe 
seines elterlichen Hauses stand. Mit einem Steine, den er vom 
Wege aufhob, schlug er recht unsanft gegen die Türe: ku-tung, 
ku-tung! klang es durch die stille Nacht. Die Hunde stimmten ein 
allgemeines Geheul an, als ob ein Trupp Räuber gekommen sei. 
Die Mutter hatte zuerst den Lärm vernommen, und sie eilte schleunigst 
an die Tür. „Wer ist das?" fragte sie ein wenig schüchtern. „Ich", 
antwortete Hutu. (Von hundert Chinesen, welche klopfend an der 
Türe stehen, wird kein einziger seinen Namen nennen auf die Frage : 
wer da sei. Alle antworten mit „Uo u (ich). „Wer ist das Ich?" 
(schemno uo?) — „Ich." — „Nenne deinen Namen." (Sing sehe- 
muo?) — „Ich." — (Merkwürdig, daß niemand auf der Welt gern 
seinen Namen nennt.) „Weshalb klopfst du so schrecklich gegen 
die Tür?" — „Zum Spaß", antwortete er da daußen. Die Mutter 
verstand das nicht und lugte deshalb durch die Türritze, um den 
Ruhestörer zu erkennen. Als sie ihren Sohn erblickte, machte sie 
schleunigst auf, und ihre erste Frage war: „Mein Sohn, bist du 
wieder da, hast du jetzt die Mandarinensprache erlernt?" — „Ja- 
wohl", antwortete der gelehrige Sohn. Im Nu war das ganze Haus 
auf den Beinen. Groß und klein hüpfte vor Freude, alle taten, als 
ob sie trunken seien. An ein Schlafen war nicht mehr zu denken. 
Jetzt ging's ans Beratschlagen, wie man den Helden des Tages 
am besten feiern könne. Es wurde beschlossen, alle Bekannten 
und Verwandten und alle Nachbarn der „vier Ecken und acht Winkel" 



— 170 — 

zu einem gemeinschaftlichen Schmause einzuladen, damit sich der 
Ruf des gelehrten Sohnes recht weit verbreite. Die Eingelade- 
nen freuten sich dann königlich an dem Schmause und noch mehr 
darüber, daß man jetzt einen „Aeltesten" im Dorfe habe: jetzt 
dürfe der Mandarin nur mal getrost kommen, jetzt sei jemand da, 
der mit ihm reden könne. Die Gelegenheit hierzu sollte sich denn 
auch bald bieten. 

Im Dorfe war ein Mord vorgefallen. Als der Mandarin davon 
Kunde erhielt, machte er sich sofort auf zur Leichenschau. (Vergl. 
U. S. 165.) Als er sich nach dem Tatbestand erkundigte und die 
Umstehenden befragte, verstand aber auch kein einziger ein ein- 
ziges Wort von allem, was der Beamte gesprochen hatte. „Was 
seid ihr doch für einfältige Leute! Habt ihr denn niemanden hier 
im Dorfe, der die Mandarinensprache versteht?" — „Ja doch", er- 
widerte der Vorsteher und ging sofort unsern Hutu suchen. Als 
dieser angekommen, fragte ihn der Mandarin: „Weißt du, wer diesen 
Mann hier umgebracht hat?" — ,Jch", antwortete Hutu. — „Du 
hast den Mann ermordet? Weshalb hast du das denn getan?" — 
„Zum Spaß", erwiderte Hutu entschlossen, gerade wie er es ge- 
lernt hatte. — „Zum Spaß jemanden morden, das nennt man Lust- 
mord (Chi-scha). Dieses Verbrechen wird gemäß den Vorschriften 
des kaiserlichen Gesetzbuches mit dem Tode durch den Strang be- 
straft, nach vorhergegangener Kerkerhaft." — „Jawohl", sprach 
Hutu und glaubte nun was wunders er geleistet habe. Die Ge- 
richtsdiener aber, welche der Manderin mit sich geführt hatte, 
ergriffen sogleich den armen „Sprachenkenner", legten ihm die 
Fesseln an und führten ihn mit sich ins Gefängnis. Der Mandarin 
berichtete den Vorfall an den Kaiser, welcher die Todesstrafe be- 
stätigte. Als das kaiserliche Schreiben angekommen war, wurde 
Hutu durch das Westtor 1 ) zur Stadt hinausgeführt und dort an 
einen Galgen gehängt — die „Mandarinensprache" hatte ihm das 
eingebracht. 



-) Der Westen gehört zum Jin (Prinzip des Todes, der Finsternis, des 
Bösen usw.). Die Exekution wird gewöhnlich zu Winteranfang vorgenommen, 
weil der Winter gleichfalls zum Prinzip des Jin gehört. (Vergl. U. S. 706). 




Zweiter Teil. 

Erinnerungen aus Peking. 



China ist ein großes Land und die Chinesen sind ein zahlrei- 
ches Yolk. Die Hauptstadt Chinas heißt Peking und als Hauptflüsse 
werden der Huang-ho und der Jang-tse-kiang genannt. 

So viel und vielleicht noch etwas mehr Geographie hat man 
schon in seiner Jugend gehört „selbst wenn es nur eine Yolksschule 
war die wir besuchten. So ein bischen vergißt man auch nicht leicht 
mehr, zumal wenn des öftern die Rede von einem Lande gewesen 
ist und darüber geschrieben wurde, wie es in dem letzten Jahren 
besonders zur Zeit der Boxer über China der Fall gewesen. 

Aber nicht jedem ist es beschieden, je in seinem Leben nach 
China zu kommen und der Hauptstadt des „himmlischen Reiches" 
einen Besuch abgestatten. Auch ich hätte mir das in der Jugend nicht 
träumen lassen. Das es dennoch geschehen, brachten die Umstände, 
so mit sich. Als Missionar in Süd-Schantung jahrelang tätig, wurde 
ich von meinem Bischöfe beordert für einige Zeit die Stelle eines 
Militärseelsorgers bei der deutschen Besatzungstruppe in Peking, 
Lang-fang und Jantzuin zu vertreten. Während meines halbjährigen 
Aufenthaltes daselbst nun, habe ich mir denn zur gelegenen Zeit 
die Hauptstadt des Chinesenreiches selber ein wenig angesehen. 
Allerdings nur oberflächlich und was ich gesehen, ist auch nicht 
viel. Es gibt in Peking weder eine Tramway noch eine Elektrische 
oder sonst ein Beförderungsmittel mit dem man schnell vom Flecke 
kommt. Die Stadt aber ist sehr weitläufig und ehe man am gewünsch- 
ten Ziele ist, dauert es oft stundenlang. 




— 172 — 

In Folgenden will ich dem freundlichen Leser meine Pekinger 
Eindrücke in Form einer losen Plauderei unterbreiten. Vielleicht 
können ihm dieselben zur Zeit der . langen Winterabende etwas 
Abwechselung verschaffen. Bemerkt muß noch werden, daß seit- 
dem einige Jahre verflossen sind und daß sich die geschilderten 
Verhältnisse unterdcß in mancher Beziehung wohl verändert haben 
mögen. Peking steht ja auch stark unter den modernen Einflüssen, 
die nicht verfehlen selbst dem Stadtgebilde allmählich eine ver- 
änderte Physiognomie aufzudrücken. Ich lade zunächst ein zum 

Spaziergang auf die Mauer der Hauptstadt 
des himmlischen Reiches. 

jlso gleich in höhere Regionen aber vom Himmel doch noch 
weit genug entfernt. Aber wir haben hier oben den nicht 
zu unterschätzenden Vorteil Pekings Staub weit unter den 
Füßen entfernt zu wissen und nur die allerfeinsten Molo- 
küle schwingen sich zu unserer Nase empor. 

Nicht doch auf die Mauer, höre ich ein schwaches Gemüt bitten ; 
ich leide an Schwindel und könnte ja herunterfallen. Nur ohne 
Sorgen und rein gar nichts gefürchtet. Auf der ganzen Welt gibt 
es wohl keine Umfassungsmauer in derart massiven Verhältnissen, 
wie sie die Stadtmauer von Peking aufweist. Man kann sich dort, 
wo die Aufstiege sind (es gibt deren sechszehn), gemütlich in einem 
Wagen hinauffahren oder in einer Säefte tragen lassen, kann auch hin- 
aufreiten per Esel oder Pferd, gerade wie es beliebt. Nur die Chinesen 
dürfen sich solches nicht gestatten; ihnen ist es in der Regel nicht 
einmal erlaubt, still bescheiden zu Fuße eine Stadtmauerpartie um Pe- 
king zu machen, da die Mauer zum Schutze der Bürger dienen soll, 
nicht aber, damit diese ihre Promenade darauf machen. Die Ausländer 
nun freilich sind anderer Ansicht und ihnen bietet der hohe, luftige 
Weg ein beliebtes Sanssouci, zumal während der heißen Jahreszeit. 
Voriges Jahr hatten gar mehrere Italiener eine Kneipe dort aufgeschla- 
gen, die ungemein starken Zuspruch hatte, besonders von den Solda- 
ten, und die Kneipianer sollen gar nicht erbaut gewesen sein, als eines 
guten Tages von Polizeiwegen mit der Bude aufgeräumt wurde. Die 
Chinesen sollen sich über den Unfug geärgert haben und die gesitteten 
Europäer noch mehr. Wer jetzt eine Runde auf der Mauer macht, 
nimmt sich etwas Proviant mit und eine Flasche Wein oder Bier und 
in der Regel stellt sich der Appetit schon ein, ehe man die halbe Runde 



— 173 — 

vollendet. Eh bedarf nämlich fünf voller Stunden und wenn man es 
gemütlich tun will und sich hier und da etwas aufhält, kann man 
ungefähr auf einen Tag rechnen. 

Die Mauer in der Nähe betrachtet, macht einen ernsten trot- 
zigen Eindruck; doch geben ihr die gewaltigen Dimensionen und 
das grauschwarze Gestein auch ein altehrwürdiges Aussehen. Unwill- 
kürlich denkt man beim Anblick derselben an die XJnsume von Zeit, 
Mühe, Arbeit und Geld, welche da zusammengeschichtet ist. Wie 
viele Millionen Hände haben sich regen müssen, und wie viele 
Schweißtropfen mögen nicht die schweren Steine benetzt haben. 
Und all die Hände haben längst zu arbeiten aufgehört und auch 
jene sind zu Staub zerfallen, die das imposante Werk ersonnen 
und ins Dasein gerufen. Es war das an erster Stelle der Kaiser 
Yung-luo (1406 bis 1437), einer der berühmtesten Monarchen aus 
der Ming-Dynastie. Er war es auch, welcher aus der südlichen 
Kaiserresidenz Nan-king seinen Hauptsitz zum Norden nach Pei-king 
verlegte, während er in Nan-king seinen Sohn als Kegent zurück- 
ließ. Unter Yung-luo wurde Pei-king zu dem gemacht, was e.s in 
seinen Hauptzügen jetzt noch ist. Von ihm rühren auch der Glocken- 
und Trommelturm her, sowie die bedeutendsten Pagodenanlagen, 
die wir jetzt noch bewundern. 

Das unterste Fundament der Mauer besteht aus einer Misch- 
ung von Kalk und Kieselerde, die in einer Mächtigkeit von mehreren 
Fuß festgestampft ist und eine steinartige Härte erlangt hat. Auf 
dieser Schicht liegen die gewaltigen Fundamentquadersteine, von 
denen einzelne Blöcke nicht selten mehrere Meter lang sind. Auf 
dieser Quarzsteinmauer, die einen Meter hoch sein mag, erhebt sich 
dann die Mauer aus gebrannten Ziegeln. Dieselben entstammen 
der Kaiserlichen Brennerei; jeder einzelne wiegt 60 Pferd und ist 
mit einem Siegel versehen. Außer den Kaiser!. Bauten dürfen 
selbige für andere Zwecke nicht verwandt werden. Das Material ist 
von besonderer Güte und Festigkeit und ich konnte bei Gelegen- 
heit einer Mauer-Reparatur beobachten, wie solche Steine aus einer 
Höhe von 20 Fuß auf den Boden geworfen, heil und unbeschädigt 
blieben. Es wäre ein interessantes Rechenexempel, zu untersuchen, 
wie viel Steine zum Baue der Pekinger Mauer verbraucht worden 
sind; wäre ich lange genug in Peking gewesen und ein Rechen- 
meister, hätte ich mir sicher die Mühe gemacht, solches herauszu- 
finden. Die Aufeinanderschichtung der Steine ist derart, daß jede 
Schicht nach oben um einen Fingerbreit nach innen rückt ; ein guter 
Kletterer könnte somit wohl hinaufkrabbeln, falls er nicht das 



— 174 — 

Gleichgewicht verlöre. Sollen es doch chinesische Diebe verste- 
hen, sich an platter Wand mit Händen und Fußen hinaufzubewegen , 
ähnlich wie die Fliege an der Wand. 1 ) 

Doch da wird's dem Leser wieder seh windlich, ehe wir über- 
haupt die Mauer einmal bestiegen ; auch habe ich ihm so Mancherlei 
vorgeplaudert, daß es jetzt die höchste Zeit wird, den Aufmarsch 
zu wagen. Wir schlendern gemütlich den sanft aufsteigenden breiten 
Weg hinan. Derselbe ist an der Außenseite mit einer starken Brust- 
wehr versehen, die das Herunterfallen unmöglich machen soll. Oben 
angelangt, vergeht der Schwindel vollends, denn wir haben da nicht 
mehr die Empfindung, als befänden wir uns auf einer Mauer, sondern 
vielmehr auf einer gewaltigen Promenaden-Straße, die mit gebrannten 
Steinen säuberlich gepflastert ist. Aber auch die Natur hat sich 
dort eingenistet. Wir finden die ganze Mauer stark mit Strauch- 
werk bewachsen, dessen Wurzeln sich in die Fugen der Steine 
eingeklemmt haben. Nur in der Mitte ist ein schmaler Gehweg. 
Auch an der Außenseite der Mauer haben hier und da Bäume und 
Sträucher ein Plätzchen gesucht und wo sie ein solches gefunden, 
ihre lebende Kraft gezeigt. Bisweilen ist das starke Gemäuer in 
die Höhe gehoben, mächtige Steine haben die Wurzeln zersprengt 
oder aus den Fugen gedrängt; kleine Bäumchen sind aber allge- 
mach zu starken Bäumen emporgewachsen. Die Chinesen lassen 
die Natur an solchen Stellen nach Belieben walten und Keiner denkt 
daran, daß sie das Mauerwerk beschädigt. Wir finden deshalb z. B. 
auf Pagodendächern ganze „Waldungen", die selbst monumentale 
Bauten zum Falle bringen. 

Dort, wo die Gesandtschaftsviertel sind, hat man mit der Natur 
an der Mauer aufgeräumt und oben einen passablen Weg hergestellt. 
Die Mauer ist so breit, daß drei Gespanne neben einander Platz 
finden, ja man kann sagen, einem vierten noch ausweichen können. 
Da ich kein Metermaß bei mir hatte, schritt ich die Breite der Mauer 
ab und fand, daß dieselbe 25 Schritt beträgt. Alle 117 Schritte sind 
bastionartige Ausbreiten, die 18 Schritt im Gevierte haben. Die 
Mauer ist also an diesen Stellen 43 Schritt breit. — Nun kann sich 
der verehrte Leser ungefähr eine Vorstellung machen von der Größe 
des Pekinger Promenadenweges : Eine Mauer, die zur ebenen Erde 
41 Fuß hoch ist und oben eine Breite von 25 Schritt hat; alle 

*) Die italienischen Bersagliere, erzählt man sich, verstehen es auch, an 
alten Mauern emporznklettern, falls Finger- nnd Zehenspitzen sich nur irgendwo 
anhaken können, ähnlich wie der Specht am Baume. Die Chinesen haben es 
also in derartigen Kunststücken noch eine Stufe weiter gebraucht 



— 175 — 

117 Schritt gegliedert von Kanonentürmen; kreneliert von manns- 
hohen Schießscharten ; an den vier Ecken gefestigt durch burgartige 
Ausbauten; belebt durch neun palastartige Tortürme und eine Fläche 
umschließend, die mehr als vier Stunden im Quadrat hat. Und 
geradezu überwältigend ist der Ausblick zumal von den südlichen 
Mauern, wo wir den Aufstieg unternommen. Man glaubt sich da 
in Mitte zweier Städte versetzt und ist es in der Tat. Rechts 
haben wir die Tartarenstadt mit den Kaiserlichen Palästen, den vielen 
Pagoden, den modernen Bauten der Gesandtschaften, den herrlichen 
Türmen der katholischen Kathedrale. Links liegt die Chinesenstadt 
und hart an der Mauer hören wir das Dampfroß vorbeischnauben, 
links nach Tientsin, rechts nach Pao-ting-fu. Das Haupttor der 
Tartarenstadt (Tsien-men) ist flankiert von zwei Bahnhöfen; einer 
besorgt den Verkehr zum Osten, der andere zum Westen. Aus der 
Chinesenstadt bemerken wir als Hauptsehenswürdigkeit in der süd- 
lichen Ecke den Himmelstempel emporragen ernst und feierlich, 
und azurn glänzen seine Dachziegel gleich dem blauen Himmel, 
den er vorstellt. Auch die Chinesenstadt ist mit einer ähnlichen 
Mauer umgeben wie die Tartarenstadt, nur ist selbige etwas niedriger; 
doch wollten wir auch diese in den Bereich unseres Spazierganges 
ziehen, würden wir an einem Tage nicht fertig Vwerden. 

Verfügen wir uns zunächst zur Tsien-men. Auf dem Wege 
dorthin fällt uns als erste Sehenswürdigkeit der deutsche Gesandt- 
schaftsgarten in die Augen. Wenn in denselben anfangs Mai die 
vielen Fliedersträucher ihr Aroma ausströmen, vergißt man für eini- 
ge Zeit, daß man in Peking ist von wegen des ungewöhnlichen 
Wohlgeruches. Der Garten ist seit der Boxerzeit um ein gutes Stück 
vergrößert worden. Vor allen anderen Gesandtschaftsgärten hat er 
den hohen Vorzug, daß man aus demselben direkt auf die Mauer 
steigen und somit bequem die Gartenpromenade mit der Mauer- 
promenade verbinden kann. Und hat man sich dort oben an den 
beiden Städten rechts und links satt gesehen,^ dann schweift der 
Blick hinaus in die Ferne zu den Bergen, die Peking in Huf- 
eisenform amphi theatralisch umgeben. Ein herrliches ^Panorama 
das, und wenn auch sonst nichts auf der Mauer unseren Blick 
fesselte, lohnte sich schon der Aufstieg. Nur schade, daß die Berge 
vielfach von einem Dunstschleier umhüllt sind und ihre Konturen 
weniger scharf hervortreten. Im Winter aber, wenn die Luft rein 
und der Himmel wolkenlos ist, erscheint das Gebirge gleich 
einer Kiesenmauer in seinen äußeren Formen und Umrissen klar 
und deutlich. 



— 176 — 

Ja das war wahrhaftig ein Platz, geeignet für eine Kaiser- 
8tadt als Metropole des „Himmelssohnes." Von drei Seiten durch 
die Natur geschützt, sollte sie auch noch durch Menschenhand ge- 
festigt zu einem Bollwerke gemacht werden, an dem die Feinde 
vergebens ihre Macht erprobten. Der Gedanke, in einer wohlum- 
festigten Stadt zur Zeit der Not Schutz und Asyl zu finden, beflügelte 
den Mut des Volkes und hunderttausende fleißige Hände regten sich 
jahrelang und schufen ein Werk, das uns heute noch in Bewunder- 
ung setzt; Puscherei und Überarbeiten bei dem Baue gab es da 
nicht, denn jeder wußte, daß der Schade des Ganzen auch seinen 
eigenen Schaden bedeute. Überdies galt es ja dem Himmelssohne 
eine Feste bauen und für den war eben das Beste gut genug. 

Gleich an den Gesandtschaftsgarten stößt das deutsche Post- 
haus, ein stattlicher zweistöckiger Bau. Auf dem Schilde über dem 
Eingangstor sehen wir den preusischen Adler seine Fänge spreizen. 
— Und das chinesische Post- Verwaltungsgebäude ? Das ist beschei- 
den in einer alten Pagode untergebracht. Man sieht, das Verkehrs- 
wesen liegt in China noch in den Windeln und es wird erst 
größeren Aufschwung nehmen, wenn die Chinesen gelernt haben, 
Briefe zu schreiben und die Lust dazu verspüren. Jetzt ist wohl 
fraglich, ob von 500 Zopfträgern (von den Frauen gar nicht zu 
reden) auch nur einer die Empfindungen seines Herzens zu Papier 
bringen kann. Im Übrigen beschäftigt er sich auch nicht viel mit 
Herzensempfindungen und huldigt dem Grundsatze : Aus den Augen, 
aus dem Sinn; es sei denn, ein in der Ferne weilender Freund 
oder Bruder habe vorrätige Batzen und sei geneigt, solche zu ver- 
schenken. Dann aber geht er selber hin und holt sie sich, ohne 
einer postlichen Beihülfe zu benötigen. Die deutsche Post versorgt 
auch größtenteils den Verkehr für die in Peking weilenden Ita- 
liener und Österreicher und hat sich seit ihrem Bestände (drei Jahre) 
schon gut rentiert. 

Dem Postgebäude gegenüber ist in der Stadtmauer ein neuer 
Durchgang geschaffen zum Bahnhofe Peking-Tientsin. Die alte 
Riesenmauer wurde von oben bis unten eine Strecke weit bloßge- 
legt, dabei kam auch ihr Innerstes zum Vorschein. Der Kern 
besteht aus festgestampfter Erde, aber stellenweise verbindet sich 
das beiderseitige Mauerwerk der äußeren Umhüllung zu einem 
Ganzen. Nachdem der tunnelartige Durchgang fertig gestellt, ist 
die Mauer nach oben wieder in ihrer früheren Form aufgeführt. 
Peking ist aber um ein neues Tor bereichert worden: die Pforte 
der Ausländer. 



177 — 




K. Pieper, „Neue Bündel* 



12 



— 178 — 

Gehen wir weiter voran, erblicken wir zur Rechten ein freies 
Terrain. Es ist das der Exerzier-, Renn- und Spielplatz der Ame- 
rikaner, die dort ihre Gesandtschaft und Schutztruppen haben. Finden 
militärische Übungen statt, dann hat sich an der nördlichen Straße, die 
nur durch Pallisaden abgesperrt ist, regelmäßig eine Schar Chinesen 
postiert, welche mit großem Interesse das Treiben der Ausländer 
betrachtet. Zumal ist das beim Pferderennen der Fall und erst 
recht, wenn Damen daran teilnehmen. Nur will es den Chinesen 
nicht praktisch erscheinen, daß die Frauen so „Überzwerg" auf den 
Pferden sitzen und sie betrachten es als ein halbes Wunder, daß 
dieselben bei schnellem Reiten nicht herunterfallen. Die chinesi- 
schen Damen, zumal junge Frauen, wenn sie „Muttern besuchen 
gehen", reiten auch mit Vorliebe ein Tier, in der Regel aber einen 
Esel, und dann muß der Mann auch gewöhnlich noch den Escls- 
führcr machen. Sie setzen sich aber auf das Tier gerade wie die 
Männer. Damensättel sind in China unbekannte Dinge. 

Dicht beim amerikanischen Anwesen liegt die holländische 
Gesandtschaft. Dieselbe ist in einem Pagodenhofe untergebracht, 
und die Götzentempel dienen dem Vertreter der holländischen Nation 
als Aufenthaltsort ; auch die Soldaten haben es sich in den Tempeln 
wohnlich gemacht, nachdem sie die Götzen auf die Straße gesetzt. 
Jedenfalls waren mehr Götzen darin als jetzt Soldaten : im Ganzen 
soll es ein Dutzend sein, bestimmt den Chinesen den nötigen Re- 
spekt einzuflößen und den Gesandten zu beschützen. Wenn es 
darauf ankäme, würde wohl das eine ebenso schwierig sein, wie 
das andere. Die Hauptsache ist wohl, daß die Holländer auch 
sagen können: ecce nos: „wir sind da" — ebenso wie die Spanier, 
Italiener und Österreicher, die wie man sagt, in China alleweile 
doch noch bitterwenige Interessen zu vertreten haben. Wenn aber 
„Wilhelminchen" mal einen Spaziergang machte da oben auf der 
Mauer und an dieser Stelle ihre Blicke nach rechts schweifen ließe 
und dann die rot-weiß-blaue Fahne in den Lüften flattern sähe — 
dann würde sie zweifelsohne Befehl geben, entweder Holland „stan- 
desgemäß" zu vertreten oder lieber gar nicht. Der ganze Tem- 
pelhof ist ein wahres Tohuwabohu von alten Steinen. Ziegeln und 
allerhand Gerumpel. (Wie ich später erfahren, hat man bereits 
begonnen, ein eigenes Gesandtschaftsgebäude u. dergl. aufzuführen). 

Wir befinden uns jetzt „im Herzen Pekings". Der Platz, 
wo wir stehen, war noch vor einigen Jahren überbaut von der 
Tsien-men (vorderes Eingangstor) auch Tschöng-gi-men (wahres 
Sonnentor) genannt, die von der Chinesenstadt in die Tatarenstadt 



— 179 — 

führt. Würde uns das gegenüberliegende mit vergoldeten (?) 
Nägeln beschlagene rote Tor geöffnet, dann ständen wir in wenigen 
Minuten in Mitte der Mysterien der kaiserlichen Residenz. Doch 
wird durch dieses Tor keinen gewöhnlichen Sterblichen Eingang 
gewährt; nur wenn der „Himmelssohn" selber die Stadt verläßt, 
knarren die schweren Tore in ihren Angeln um sich allsogleich 
zu verschließen, wenn der Herrscher wieder heimgekehrt. Ich sah 
dieselben einmal geöffnet bei Gelegenheit der Frühlingsopfer, als 
der Kaiser zu den Begräbnisplätzen seiner Ahnen in die westlichen 
Berge (si~ling) gewallfahrtet war. Der alltägliche Verkehr zur ver- 
botenen Stadt bewegt sich durch Nebentüren, die stetig von Soldaten 
strenge bewacht werden. Vor dem Eingangstore zur Kaiserstadt 
ist ein großer, mit Pfahlwerk abgetrenntes Karree, „Schachspiel- 
brett" genannt (chia-tji-paen) und obgleich drei Hauptstraßen auf 
demselben münden und der direkte Durchgang eine bedeutende 
Verkehrserleichterung bedeuten würde, darf weder Tier noch Wagen, 
ja nicht einmal der stille Wanderer gerade ausgehen, sondern muß 
den freien Platz in weitem Bogen umkreisen. Uns Ausländern 
kommt das rätselhaft, ja lächerlich vor: der Chinese findet solches 
selbstverständlich, weil es alleweile immer so gewesen ; und als zur 
Zeit der provisorischen Regierung in Peking die Europäer den 
Pallisadenzaun bei Seite geschafft und ihren Weg geradeaus ge- 
nommen, wurde der „Abusus" sofort eingestellt, als die Chinesen 
das Regiment wieder in die Hand genommen. Es scheint, der 
Kaiser will „keinen Lärm vor der Türe haben" und zu diesem 
Zwecke ist ein weitläufiger abgesperrter Platz vor die Türe gelegt, 
der alle Lärmmacher abhalten soll. Nur den Torwächtern und ihren 
Kindern ist es erlaubt auf dem mächtigen „Kaiserschachbrette" ihr 
Spiel zu treiben, freilich mehr als todte Schachfiguren; denn jugend- 
licher Übermut paßt nicht zum feierlichen Ernste der mystischen 
Umgebung. Trotzdem wird genug Unruhe die Einsiedlerruhe des 
Regenten stören: selbst das Rollen der Eisenbahnzüge und das 
Pfeifen der Lokomotive wird den Himmelssohn und seine Frauen 
täglich an die abendländische Kultur erinnern und an die Gegen- 
wart der verhaßten Ausländer. 

Der Überbau der Tsien-men ist während der Boxerzeit abge- 
brannt. Es muß das ein grausiges Schauspiel gewesen sein, als 
der mächtige Bau vom Feuer ergriffen, lichterloh in Flammen stand, 
gleich einer gewaltigen Fackel, die die Riesenstadt und besonders 
auch die Stadt des Kaisers im Dunkel der Nacht geisterhaft erhellte. 
Das verheerende Element fand reichliche Nahrung, denn die Torbauten 

12* 



— 180 — 

sind mit Ausnahme des Daches nur von Tannenholz gezimmert. 
Und als der hohe Bau in sich zusammenstürzte und Feuergarben 
und Funken in weitem Umkreis herumflogen, sollen viele Chinesen 
schmerzerfüllt geweint haben. Der Kaiser auf der Flucht, die Kaiser- 
stadt in Händen der „Barbaren": da regte sich doch bei vielen so 
etwas wie Patriotismus. Jetzt ist von der ganzen Herrlichkeit nichts 
mehr zu sehen außer den Fundamenten der Säulen, worauf der 
Bau ruhte. Wir zählten sechs Reihen, in jeder Reihe zehn Stück; 
also ein Wald von sechzig Säulen stützte ehemals den stolzen 
Riesenbau. 

Ein phantasievoller Franzose hat gemeint, Peking von der 
Mauer aus betrachtet, sehe im Sommer aus, wie eine Riesenschüssel 
Spinat, bekränzt mit Rieseneiern. Darunter verstand er die gelben 
Dächer der Kaiserstadt, die aus dem Grün vieler Bäume freundlich 
hervorlugen. In der Tat ist von sonstigen Gebäuden außer den 
Spitzen einiger Pagoden und den gelben Dächern der verbotenen 
Stadt nicht viel zu sehen, das die Kronen der Bäume überragte. 
Macht man in den Straßen Pekings einen Spaziergang, so fallen 
die Bäume weniger in die Augen, da sie meistens in den inneren 
Gehöften stehen. So etwas wie Straßenalleen gibt es aber nicht; 
das ist für das alte Kambolick zu modern und zudem würden die 
ständig auf den Straßen verkehrenden Esel und Maultiere die Rinde 
der Pflanzungen bald abgenagt haben. Zur Zeit der provisorischen 
Regierung säumten die Franzosen in der Nähe der Pei-tang eine 
ganze Straße zu beiden Seiten mit herrlichen Akazien ein, die sich 
schon im ersten Jahre prächtig entwickelten. Jetzt sind nur noch 
verdorrte Strünke übrig, die wie wehklagend ihre entblätterten 
Zweige in die Lüfte recken. Aber von der Mauer aus betrachtet 
hat im Sommer die Stadt mehr das Aussehen eines Parkes oder 
Waldes denn das einer Stadt, und gewährt in dieser Beziehung 
ein freundlicheres Gesicht als unsere modernen Großstädte mit ihren 
„ Himmelskratzern u und Fabrikschloten. 

Gegen die Abendstunden, wenn die Sonne allmählich hinter 
den westlichen Bergspitzen verschwindet und der Himmel dieselben 
gleich einer Riesen-Coullisso im feurigen Rot scharf abhebt, nimmt 
mancher Europäer in Peking hierher seinen Spaziergang, um sich 
von den Anstrengungen des Tages zu erholen. Erst recht effectvoll 
und anziehend wird das Bild, wenn sich nach dem Regen weiße 
Wolkenschleier um die altersgrauen Häupter der Bergkuppen legen 
und ein sanfter Wind die vom Staub gereinigte Luft aus der Ferne 
herüberfächelt. Das Rendezvous der Ausländer ist meistens in der 



— 181 — * 

Nähe der Tsien-men. Um diese Zeit kommen auch die Züge ferne 
von Tientsin und Pautingfu, und von der Stadtmauer aus kann 
man mit einem Blick die reisende Welt überschauen und sich ver- 
gewissern ob Bekannte darunter sind. Hat der Kaiser aber mal 
die verbotene Stadt verlassen um im Himmelstempel oder sonst wo 
Opfer zu bringen, muß er sich's gefallen lassen auch von hier aus 
als Beschauungsobjekt der Europäer zu dienen, während sich die 
Chinesen in die vier Wände ihrer Wohnungen einsperren lassen. 
Wenn der noch im Bau befindliche Schienweg der Lu-Han Eisen- 
bahn, welcher Peking mit Hankou am Jangtse verbinden soll, ein- 
mal fertig gestellt sein wird, dürfte dem „Herzen" Pekings noch 
mehr Blut und Leben von Außen zugeführt werden. Dann wird 
sich das Riesengerippe der Außenmauer, die jetzt noch so viele 
leere Flächen umschließt, vielleicht auch immer mehr anfüllen mit 
Wohnungen und vielleicht auch noch mit — Fabrikschloten. Wäh- 
rend unsere Städte Daheim im Allgemeinen zu klein werden und 
das Leben immer mehr nach außen flutet, sind fast alle chinesischen 
Städte zu groß geworden, so daß ganze Flächen brach liegen oder 
höchstens als Gartenfeld benützt werden. 

Von der Tsien-men bis zum westlichen Ende der Mauer finden 
wir den ganzen Weg mit Buschwerk dicht bewachsen. Nur ein 
schmaler Pfad für Fußgänger ist offen getreten. In unbewachten 
Augenblicken wagen sich Ziegen und Schafe auf die Mauer um 
das Blättergrün abzuweiden. Im Herbste aber, wenn an dem 
Strauchwerke die schleenartigen Beeren reif geworden, werden sie 
von Kindern abgepflückt und gegessen ; wer aber recht viele gesam- 
melt hat, läßt Schnaps daraus brennen. 

Beim Passieren des Huen-u-men (Tor des gewaltigen Militärs), 
welches den letzten Durchgang in der südlichen Stadtmauer bildet, 
habe ich vergessen, meinen Begleiter auf die Trümmer der Naen- 
t'ang 1 ) aufmerksam zu machen. Dieselbe lag ganz in der Nähe des 
Huen-u-men und es war für die Boxer ein leichtes, dieselbe von 
der Stadtmauer aus zu bombardieren. Jetzt sind die Trümmer 
ziemlich wieder aufgeräumt und aus denselben sind bereits einige 
Wohnungen für Arbeiter und Katechisten eingerichtet; auch das 
Gotteshaus soll demnächst in seiner früheren Pracht neu erstehen. 

Durcheilen wir die westliche Strecke der Mauer, so springt 
uns als Hauptbauwerk die Pei-t'ang in die Augen mit den vielen 
zugehörigen Residenzhäusern. Die Pei-t'ang macht mit ihren zwei 
gothischen Türmen einen gefälligen Eindruck. Dieselbe liegt mitsamt 

l j -Naen-t'iuig = Bildliche Kirche; Pei-t'ang = nördliche Kirche. 



— 182 — 

den Missionsanstalten innerhalb der verbotenen Stadt. Grund und 
Boden wurden im Jahre 1887 vom Kaiser eingetauscht, gegen den 
früheren Platz nebst Kirche und Residenzgebäude. Das ehemalige 
Besitztum war ein Geschenk des Kaisers Khang-hi. Da es aber 




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hart an die kaiserlichen Palaste grenzte, war dem Hof die allzunahe 
Nachbarschaft der Missionare schon längst unbequem gewesen und 
seit vielen Jahren suchte man nach einer Gelegenheit, sie zu ent- 
fernen, am Liebsten aus dem Bereiche der verbotenen Stadt. Da 
aber Rom und der Bischof Tagliabue auf solches Ansinnen nicht 



— 183 — 

eingingen, verstand man sich dazu, der Mission ein anderes Grund- 
stück zu geben, das größer war als das abgetretene, aber noch 
innerhalb der Kaiserstadt lag. Überdies trug die Regierung alle 
Baukosten für die neue Ansiedlung. Die alte Kathedrale steht noch 
äußerlich unverändert; nur sind die Kreuze von den grauen Türmen 
genommen, welche wie wehmütig auf die heidnische Umgebung 
des Kaiserhofes herniederschauen. Sollte es der alten Kaisermadam 
einmal einfallen sich zu bekehren, so könnte die Kathedrale sofort 
als Privat-Kapelle dienen. 

Als höchster Punkt im Stadtgebildc gilt der Pavillon auf dem 
Kohlenhügel; derselbe ist auf dem Rundgange um die Stadt überall 
zu sehen. Der Ausblick von hier über die Stadt soll wundervoll 
schön sein. 

In früheren Jahren stand dem besseren Publikum Park und 
Kohlen hügel zum Besuche offen; daß er später geschlossen wurde, 
ist das Verdienst eines Ausländers gewesen, der sich dort lümmelhaft 
betragen hatte. Der Hügel dehnt sich nach Ost und West wellen- 
förmig aus und jede Wellenspitze krönt ein kleiner Pavillon. Er soll 
einen liegenden Phönix vorstellen mit ausgebreiteten Flügeln. 

Das zweite Tor (Si-tsche-men) im westlichen Ende der Mauer, 
führt zum kaiserlichen Sommerpalaste (Uen-schou-schen, Berg der 
zehntausend Jahre) und der ganze Weg dorthin ist mit glatt gemei- 
selten Quadern belegt. Der Verkehr an diesem Tore ist ziemlich 
rege und es halten sich dort besonders viele Bettler auf. Da wir 
von oben heruntersehen, schaut zu uns ein Armer empor; was ist 
es, was aus seinem Blicke spricht! Flehentliche Bitte um Erbarmen, 
stumme Verzweiflung, Bitterkeit und Wehe. Der Unglückliche hatte 
ein halb verfaultes Bein; der Fuß ist schon längst verschwunden 
und auch das Bein liegt blos ; ein Schwärm Fliegen peinigt ihn noch 
mehr; mit einem schmutzigen Fächer sucht er sich zu wehren. 
Flüchtige Menschenwogen eilen beständig an ihm vorüber; wer aber 
beachtet oder würdigt ihn eines Blickes? Wir stehen da ein Weilchen, 
bemerken aber nicht, daß ihm jemand auch nur eine Sapeke 
in die dargebotene Hand legte. Wir werfen 50 Sapeken von der 
Mauer herunter und sie fallen vor ihn auf die zerrissene Matte. 
Dankbare Blicke begleiten uns noch lange, da wir schon weiter ge- 
schritten. Der Arme freut sich königlich über die „königliche Gabe"; 
soviel hat ihm wohl sein Leben lang noch Niemand geschenkt. 

Fällt mir da ein Geschichtchen über einen anderen Bettler 
ein, das ich selber miterlebt und zur Kurzweil erzählen will, während 
wir die nördliche Mauerstrecke abschreiten. Im deutschen Militär- 



— 184 — 

Lazarett war auch abseits eine kleine Unterkunft für kranke Chine- 
sen eingerichtet, die dort vom Militärarzt in Behandlung genommen 
und unentgeltlich verpflegt wurden. Eines Tages fand man in der 
Nähe einen Mann liegen, dem die Füße halb erfroren waren und 
der über alle Maßen erbarmungswürdig aussah. Er flehte um Auf- 
nahme in das Krankenheim. Nicht mehr imstande, selber zu gehen, 
wurde er hineingetragen und zunächst etwas mit Speise und Trank 
erquickt. Es tat ihm das notwendig, denn schon seit vielen Tagen 
hatte er nichts Warmes mehr in den Magen bekommen. Er erzählte 
dann, daß er hoch vom Norden aus der Mongolei zurückgekehrt 
sei, wo er einen Bruder habe aufsuchen wollen. Da er denselben 
nicht gefunden, sei ihm auch das Reisegeld für den Rückweg aus- 
gegangen und er habe sich durch Betteln den Unterhalt erwerben 
müssen. Hunger und Kälte haben ihm derart zugesetzt, daß er eini- 
ge Abende nicht mehr imstande gewesen sei, ein Obdach zu errei- 
chen und da er im Freien übernachtet, seien ihm die Füße erfroren. 

Der Militärarzt stellte bald fest, daß der eine Fuß zur Hälfte 
abgenommen werden müßte, falls der Kranke mit dem Leben davon 
kommen sollte. Und auch dann dauerte es noch mehrere Monate, 
ehe sich der Bettler so weit erholt hatte, daß er mit Hilfe eines 
Stockes umhergehen konnte. Doch da begannen auch allmählich 
die Lebensgeister wieder zu erwachen. Daß er jetzt wieder geheilt, 
war ihm schon recht, daß er aber an einem Fuße die Zehen ver- 
loren, meinte er, sei doch eine Schande, und solche Schande müsse 
ihm vergütet werden. „Wer ihm die Zehen abgeschnitten, habe 
auch die Verpflichtung, selbige zu bezahlen; er bestehe darauf, daß 
der Militärarzt ihm Geld dafür zahle, mit 100 Tiau (ca. 120 Mk). 
wolle er sich abfinden lassen." Als ich von der Sache hörte, suchte 
ich den wunderlichen Kauz auf, in der Meinung, es müsse wohl ein 
Mißverständnis vorliegen. Aber nein, auch mir gegenüber kramte 
er mit seiner sonderbaren Forderung heraus : Die Zehen gehörten 
ihm und man hätte ihm selbige nicht abschneiden sollen ; er wolle 
sie bezahlt haben. — Die Folge war, daß der undankbare Zopf- 
träger baldigst an die Luft gesetzt wurde. Er wird zweifelsohne noch 
lange erzählt haben von den ungerechten Tei-kui-gin (Deutschen), die 
ihm die Zehen „gestohlen" und selbige nicht haben bezahlen wollen. 

An den vier Ecken der „Würfelstadt" sind bastionartige Aus- 
bauten, deren Dach sich gleich einem Pavillon in die Höhe schwingt. 
Diese Ecklürme sowie die Tore der Stadt bringen Abwechslung 
und Gliederung in die lange Einförmigkeit der Mauer. Richtet man 
aus der Ferne einige Zeit seine Augen auf die unzähligen Zinnen, 



— 185 — 

so fangen selbige allmählich zu tanzen an und das Auge sucht nach 
einem Ruhepunkte; es findet denselben in den Tor- und Eckbauten, 
welche durch ihre gewaltige Monumentalität etwas Beruhigendes an 
sich haben. Die Mauerzinnen nennt der Chinese nü-öl „Mädchen- 
Knabe" ; die einzelne Zinne bildet gleichsam ein Wesen für sich und 
die chinesische Phantasie betrachtet sie als die „Kinder" der Mauer. 

Während wir auf der nördlichen Mauerstrecke fürbaß schreiten, 
gesellt sich ein Wächter zu uns und da er sieht, daß wir auch chi- 
nesisch plaudern können, will er uns nicht mehr verlassen. Von 
ihm erhalten wir Aufschluß über die vielen Häuschen, an denen wir 
bereits vorübergegangen sind, ohne recht zu wissen, was sie bedeu- 
ten sollen, noch auch was die schmierigen Gesellen darin machen, 
die im Vorbeigehen uns beständig anglotzen. „Die Mauer," so führt 
unser Begleiter aus, „hat den Zweck, die Stadt zu beschützen, aber 
sie selber bedarf auch des Schutzes und wir sind bestimmt, ihr" 
diesen zu gewähren. Unsere Aufgabe ist es zu verhüten, daß niemand 
ohne Erlaubnis die Mauer besteigt ; nur ihr Europäer habt die Ver- 
günstigung, hier einen Spaziergang zu machen. Während der Nacht 
spähen wir in die Ferne, damit kein Feind die Stadt überrumpelt." 

Im ganzen sind 28 Wachthäuschen in bestimmten Abständen 
auf der Mauer verteilt und zu jedem Häuschen gehören 11 Solda- 
ten, welche sich gegenseitig im Dienste auswechseln. Dort oben 
wird gekocht, gebraten, geschmort, Tee getrunken und Schnaps, 
Opium geraucht und Tabak, Karten gespielt und Schach, mit einem 
Worte ein wahres Faullenzerleben wird da geführt, und hätte uns 
unser Begleiter nicht eines Besseren belehrt, ich hätte schier geglaubt, 
die Kerle hätten keine andere Beschäftigung, als die Mauer zu dün- 
gen und den Leuten auf die Köpfe zu spucken. 

Doch allen Respekt vor dem chinesischen Nachtwächterdienst. 
Daheim wurde in der „guten alten Zeit" ja auch fleißig gewacht 
und es gehörte mit zur Poesie der Nacht, wenn hoch vom Turm 
der Wächter um die zwölfte Stunde sein Liedchen sang, gleichsam 
eine Geisterstimme im Dunkeln und wohl für manchen, der es gehört, 
war es ein Weckruf, an Gott zu denken und an sein Seelenheil. 
In China besitzt ungefähr jedes Dorf einen oder mehrere Nacht- 
wächter und ist das Dorf recht groß, hat es oft ein Dutzend. In 
den Städten patroulliert fast auf jeder Straße einer. Freilich viele 
Poesie verbreiten diese Wächter nicht um sich ; den ihre hölzernen 
Klepper „klingen" arg trocken und dürr, und schlagen sie auf den 
Tam-tam, dann ärgert man sich, daß einem der Schlaf vertrieben 
wird. Das „Sion des Nordens" nun marschiert, was Nachtwächterdienst 



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— 18? — 

darf. Ist Pulver in der Nähe, so wittert er es alsobald und macht 
sich aus dem Staube. Übrigens haben die Chinesen gern einige 
Krähenfamilien als Nachbarn im Gehöfte, selbst auf die Gefahr hin, 
daß sie die jungen Küchlein fortholen. Wo die Krähe ihr Heim 
aufschlägt, da soll os gut sein, Wohlstand und Reichtum sollen das 
Gefolge bilden. Der Rabe von Peking scheint sich übrigens auch 
die fortschreitende Kultur zu Nutzen zu machen; des öfteren konnte 
ich beobachten, wie sich im Winter, da es sehr kalt war, einzelne 
Raben auf den Rand der Schornsteine setzten, zweifelsohne in der 
Absicht, sich die Füße zu wärmen, da sie im Sommer den Schorn- 
steinen wohlweislich fernbleiben. Auch scheint der schwarze Geselle 
in Peking mit mehr Verständnis zu krächzen als anderswo. Bald 
hört sich der Ton seiner Stimme schmeichelhaft an, bald gebietend 
oder zornig, es ist als ob er unter dem Einflüsse stände von Über- 
mut und Laune. 

In der nordöstlichen Ecke der Tatarenstadt hatten die Russen 
früher eine Gemeinde. Während der Boxerunruhen ist dieselbe 
zerstört; Häuser der Christen und Wohnungen der Popen wurden 
verbrannt oder zerstört. Der Ort sieht sehr verwahrlost aus und 
wehmütig nebenan liegt der Kirchhof, wo die Ermordeten begraben 
sind. Es müssen viele gewesen sein, denn wir sehen einen ganzen 
Wald von weißen Kreuzen und es kommt über uns eine Rührung und 
Heimatsweh, da wir der Armen gedenken, die hier ihr Leben gelassen. 

Da wir oben einen Augenblick in Betrachtung weilen, ruft 
ein kleiner Knirps hao, hao zu uns herauf und steckt dabei den 
Daumen seiner rechten Hand hervor. Es ist das vielfach die Be- 
grüßungsformel der chinesischen Jungen in Peking geworden, wenn 
sie in abgelegenen Teilen der Stadt eines Europäers ansichtig werden. 
Das Jan-kui-tze (europäischer Teufel) hört man fast nirgends mehr, 
statt dessen wird jetzt ein Kompliment mit hao, hao gemacht. „Gut, 
Gut" heißt das zu deutsch und um die Gutheit noch einen Grad 
höher hinaufzuschrauben, wird der Bas-Finger ausgestreckt. Die 
Pekinger sollen das von den französischen Soldaten gelernt haben, 
welche die „Gut-Phrase" überall und immer anwandten, da sie eben 
kein anderes Chinesisch verstanden. 

In der östlichen Mauerstrecke, südlich vom Tsi-hua-Tor liegt 
die Estrade zum Betrachten der Bilder (kuan-siang-t'ä) Sternwarte 
zu deutsch genannt. Jetzt allerdings ist von der ganzen Herrlich- 
keit nichts weiter mehr zu sehen als die Ausbuchtung der Mauer, 
auf welcher einst die astronomischen Instrumente aufgestellt waren 
und die Fundamentsteine, deren feine Ziselierung noch Zeugnis 



— 188 — 

ablegt, daß hier dermalen eine besondere Sehenswürdigkeit gestanden. 
Und in der Tat, wenn in früheren Jahren die Tributländer Chinas 
aus Süd und Norden ihre Gesandten in die kaiserliche Metropole 
schickten, verließ keiner dieselbe, ohne vorher die drei Hauptsehens- 
würdigkeiten und Wunderdinge des Nordens betrachtet zu haben. 
Besagte Weltwunder waren die große Mauer (die zehntausend Li lange 
Stadt: uen li tch'ting), die dreizehn Hügel (sche-saen-ling) und die 
Sternwarte von Peking. Mehr als ein halbes Jahrtausend hatten die 
ältesten Instrumente hier gestanden (aus der Zeit des Kaisers Kublai 
1279) ein Gegenstand der Bewunderung für Ausländer und Chinesen. 

Pater Verbiest, der damalige Leiter der Sternwarte, ließ im 
Jahre 1673 die großen Instrumente durch neue, nach europäischen 
Prinzipien konstruierte ersetzen, während die alten in einer Halle 
am Fuße der Terrasse untergebracht wurden. Gewiß hat er nicht 
geahnt, daß selbige nach einem Vierteljahrhundert noch übers Meer 
gebracht würden, um anderswo Parade zu machen. Ohne Zweifel 
bilden die kunstvollen Bronzestücke auch in Berlin und Paris eine 
alte historische Sehenswürdigkeit, aber nur schade, daß die Art 
der Erwerbung eine gar zu wenig ehrenvolle ist. Es verschlägt 
wenig dabei, daß die Gegenstände später von der Kaiserinwitwe 
zum „Geschenke" gemacht worden, denn damit wollte sie uns nur 
ein „Mißgesieht a ersparen. Mehr Gesicht aber hätte unser Name 
in den Augen der Chinesen gehabt, wenn das Präsent mit einem 
deutschen Kout'ou zurückerstattet worden wäre. 

Von der Sternwarte-Terasse sieht man in südöstlicher Rich- 
tung die Prüfungshallen (Kung-juen) liegen. In Mitte derselben 
erhebt sich ein mehrstöckiger Turm für die Prüfungs-Kommissäre. 
Turm und Hallen sind sehr in Verfall geraten; wollte man von 
ihrem Aussehen auf die chinesische Wissenschaft schließen, wäre es 
traurig um sie bestellt. Die Armen finden an den Hallen der 
Examina-Kandidaten einen beliebten Sammelplatz für Brennmaterial. 
Es scheint, die chnesische Polizei läßt sie ruhig gewähren und es 
wird gar nicht lange dauern, dann ist von dem ganzen Gebäude- 
Komplex nichts mehr zu sehen als ein großer Trümmerhaufen. 
Alles Brennbare wie Sparren, Fenster und Türen ist schon so 
ziemlich verschwunden. 

Ebenso verfallen wie die Prüfungshallen sind die Kaiserlichen 
Getreidespeicher, welche wir am östlichen Knde der Mauer außer- 
halb der Stadt gewaren. Man sieht, daß dort hungerige Mäuse 
und Hatten kaum mehr den nötigen J Lebensunterhalt finden werden 
und die Speicher sich schon längst nicht mehr öffnen für den 



— 189 — 

Haushalt des Kaisers. Statt daß aber die Regierung solche aus- 
rangierte Gebäude abbrechen ließe, überläßt man sie einfach ihrem 
eigenen Geschicke, das in gänzlichem Verfalle besteht mit dem 
Untergange des noch verwendbaren Materials. Reparieren ist in 
China eine viel weniger beachtete und geübte Kunst als bei uns 
in Europa. Ein Loch im Dach, das mit wenigen Kellen Kalk 
wieder verstopft wäre, läßt man offen, ein unbedeutender Schaden 
im Flußdamm bleibt unbeachtet, einen Riß in Hose oder Kamisol 
läßt man weiter reißen — bis der Bau in Trümmern liegt, der 
Fluß die Sperre durchbrochen und das holde Menschenkind aus 
allen Fugen und Spalten seiner kleidernen Behausung zum Vor- 
schein kommt. Die Chinesen haben ein Sprichwort: „Tjiuti pu t'jü, 
Sinti pu le" „Wenn mit dem Alten nicht aufgeräumt wird, giebts 
ja nichts Neues." Und das Neue hat auch für den Zopfträger 
seinen Reiz, wenns nur nicht von den Ausländern kommt. 

Die chinesische Majestät hat einen weitläufigen Haushalt und 
die Augen vieler warten auf seine Huld. Da heißt es Brot besorgen 
für Tausende von Tataren-Soldaten und eine unzählige Diener- 
schaft und Beamtenschaar und ein ganzes Harem von Weibern. 
Hoch im Norden reift aber nur schlechtes Getreide, Roggen und 
Buchweizen ; deshalb muß Reis herbeigeschafft werden aus dem 
Süden, der als die beste Kost gilt. Reis ist das eigentliche Essen 
und alles Andere, was sonst auf die Tafel kommt, gilt nur als Vor- 
und Nachtisch. In früheren Jahren war eine eigene Wasserader 
hergestellt, die den Süden mit dem Norden, die fruchtbaren südlichen 
Reisprovinzen mit Peking in Verbindung brachte und alljährlich 
zogen viele Tausende Schiffe hinauf, um dem Kaiser Proviant zu 
bringen. Aber die beständigen Überschwemmungen zerstörten den 
Wasserweg bald hier, bald dort und die Reparaturkosten verursach- 
ten dem Reiche jedes Jahr viele Auslagen. Deshalb wird nunmehr 
der Reis auf dem Seewege nach Tientsin geschafft und von dort 
per Eisenbahn in die Kaiserlichen Speicher, die jetzt nicht mehr 
in der Nähe des Kanals liegen, sondern innerhalb der Stadt erbaut 
sind. Der „Fluß zur Beförderung des Getreides", (jüin liang ho) 
gemeiniglich Kaiserkanal geheißen, gerät deshalb immer mehr in 
Verfall und ist für die meiste Zeit im Jahre nur stellenweise befahr- 
bar. Der in den Speichern aufbewahrte Reis ist meistens derart 
muffig und abgelagert, daß er an das gewöhnliche Volk verkauft 
wird, jene aber, die ihre bestimmte Portion vom Kaiserlichen Pro- 
viantamt geliefert bekommen, kaufen sich für verkauften Reis andere 
Kost, die ihren verwöhnten Gaumen besser zusagt. 



— 190 — 

Wie anderswo große Städte und besonders Hauptstädte die 
größten Gegensätze beherbergen: Proletariat und reiche Philister- 
haftigkeit, satte Blasiertheit und nie gesättigten Hunger, so ist es 
auch in China. Der Bettler in Peking darbt noch mehr als sein 
Leidensgenosse auf dem Lande und der gewöhnliche Arbeiter 
verzehrt viel schlechtere Kost als der Bauer auf den Dörfern. Alle 
Lebensmittel sind bedeutend höher im Preise und in mancher dunk- 
len Gasse ist das Elend ständig zuhause. 

Aber da weht uns ja die deutsche Fahne entgegen und sehen 
wir recht, ist der Fähnrich ein Kuhjunge. Da muß doch untersucht 
werden, ob es die Kühe sind, die unter dem Schutze der deutschen 
Flagge das spärliche Mauergrün abweiden, oder ob der Chinesen- 
bube landesverräterische Absichten im Schilde führt und gar in der 
Kaiserlichen Hauptstadt für das Deutschtum schwärnlt. Die Kühe 
allerdings scheinen aus der Pharaonischen Zeit zu stammen und 
sehen aus wie die sieben mageren Zeiten, was allerdings nicht zu 
verwundern ist, denn auf der Bekumer Stadtmauer hätten sie wohl 
mehr Gras gefunden. Was sie alleweile hier zu weiden bekommen, 
sind Blätter von Dorngestrüpp, unter dem hier und da ein ver- 
krüppelter Blumenstumpf steht, dem schon hunderte Male das Haupt 
abgenagt wurde. Auf dem Rot der Fahne sind schwarze chinesi- 
sche Schriftzeichen gepinselt und da ist zu lesen : „Schlachtvieh 
der deutschen Besatzungstruppe." Als ich dem Kuhjungen mein 
Befremden darüber äußerte, daß die Kühe gar so mager seien, 
sagte er, sie sollten erst noch fett gemacht werden; man habe sie 
erst kürzlich gekauft und es dauere mehrere Monate, bis selbige 
als schlachtfähig an das deutsche Militär abgeliefert würden. Jetzt 
sei das Vieh noch Privateigentum, aber es werde ihm die deutsche 
Fahne vorangetragen, damit es ungenierter weiden könne. 

In der südlichen Stadtecke ist ein Platz eingerichtet zum 
Preisschießen für die Deutschen Pekings, besonders für die Offiziere 
der dortigen Besatzungstruppe. Das Leben wird mit der Zeit eben 
eintönig und man sorgt deshalb selbst für etwas Abwechselung. 
Die Sehenswürdigkeiten in und um Peking sind bald gesehen und 
dann gibt es nichts mehr zu sehen als das tägliche Einerlei, an 
das sich der an beständige Abwechslung gewöhnte Ausländer nur 
schwer gewöhnen kann. 

Nicht weit vom Schießplatze liegt ein Totenacker, auf dem 
die während der Boxerunruhen in Peking gefallenen deutschen 
Soldaten begraben sind. Auch die Gefallenen der österreichischen 
und italienischen Heeresabteilung haben hier ein stilles Plätzchen 



— 191 — 

gefunden. So sind die im Leben Verbundenen auch im Tode noch 
vereint und harren weit von der Heimat im Schatten der grauen 
Pekinger Mauer dem Auferstehungsmorgen entgegen. Wahrlich es 
wird dem Sterbliehen an der Wiege nicht gesungen, wo er der- 
einstens sein Grab finden wird. Glücklich, der in den Vaterarmen 
Gottes seine ewige Ruhe findet, dann ist es gleichgültig, wo die 
sterbliche Hülle im kühlen Grabe gebettet liegt. 

Doch nun Ade, Freund Leser, unser Rundgang ist beendet; 
habe Dich ohnehin lange herumgeschleppt und Du wirst gründlich 
müde sein. Im Glänze der scheidenden Sonne leuchtet die ver- 
goldete Kuppel der russischen Gesandtschaftskirche zu uns herüber 
und wäre es gerade Sonntag, würde ihr melodisches Geläute uns 
das Herz noch mehr erweitern. Nicht selten habe ich still gelauscht, 
wenn durch das Gewirre des Straßenlärms die klaren Glockenstimmen 
an das Ohr drangen, als wollten sie jedem ein „Sursum corda" 
entgegenrufen. Doch die geschäftige Welt kehrt sich wenig daran, 
die heidnischen Chinesen aber lauschen lieber dem Marktgeschrei 
und dem Geklingel der Theaterspieler. Die soeben fertiggestellte 
katholische . Gesandtschaftskirche (von Bischof Favier erbaut) zeigt 
mit ihren zwei schmucken Türmen mahnend zum Himmel hinauf, 
aber auch ihr Wink wird schlecht verstanden und wenig beachtet. 
In christlicher Atmosphäre ist es nicht einmal immer leicht, Auge, 
Herz und Ohr offen zu halten für das, „was oben liegt* — doppelt, 
ja hundertfach schwieriger ist es im Heidenlande. Du, Freund 
Leser, merke Dir den Dichterspruch: 

„Daß das Herz dir größer werde, 

Blicke von der kleinen Erde 

Zu den ew'gen Höh'n empor." — 



Von Puoly nach Peking. 

Peking, den 10. Februar 1904. 

|Im ich vor gut zwei Jahren den Weg von Tientsin nach 
Puoly machte, mußte ich es auf einem verdeckten Wagen 
tun, denn an allen Ecken und Enden übten die Boxer 
und bereiteten sich auf den Gewaltstreich vor, den sie 
auszuführen gedachten. Sie wollten mit einem Schlage allen Euro- 
päern den Kopf abhauen oder sie in das Meer treiben und so das 
Reich der Mitte von den Ausländern säubern. Ich kam damals in 




— 192 — 

meinem verdeckten Wagen anstandslos durch; mochte es auch wohl 
dem einen oder andern Boxer gelüsten, die „Schöne"*' in dem Wagen 
mit einem Blicke zu erspähen, so hatte doch keiner das Vergnügen. 
Das Gefährt war fest verhangen, und hinter den Vorhang darf kein 
anständiger Chinese schauen, wenn er ein weibliches Wesen dahin- 
ter vermutet. 

Jetzt sind die Schascharen, gemeiniglich Boxer genannt, von 
der Bildfläche verschwunden. Schascharen hätte man die Sippe 
taufen sollen im Gegensatze zu den Tataren. Der Schlachtruf der 
letzteren lautete ja bekanntlich „ta-ta" „schlagt drauf, schlagt drauf"; 
die Boxer aber schrieen noch ärger: „scha-scha" „tödtet, tödtet* 
die europäischen Teufel. Chinesen und Boxer: die beiden Begriffe 
meine ich, passen nicht zusammen. Zum Boxen sind die Chinesen 
viel zu phlegmatisch und vielfach auch nich gelenkig genug. Doch 
lassen wir die Sektirer heißen, wie sie wollen ; die Hauptsache ist, 
daß sie uns fortan in Ruhe lassen und niemals wieder so tolle 
Einfälle wie vor zwei Jahren bekommen. Hoffentlich haben sie 
genug Lehrgeld zahlen müssen und sind ein für alle Mal überzeugt, 
daß sich die Europäer nicht so leicht hinauswerfen lassen. 

Auf der ganzen Reise konnte ich mir einige Soldaten, die 
mich von Bezirk zu Bezirk eskortieren mußten, nicht vom Halse 
halten. Man mochte den Mandarinen sagen lassen, es sei nicht 
notwendig, man wünsche keine Begleitung und wolle kein Aufsehen 
machen: Alles war umsonst. Die guten Herren sind wirklich be- 
sorgt um das Leben der Ausländer, aber meistens nur dann, wenn 
keine Gefahr vorhanden ist. In den Gegenden, wo s. Z. die Boxer 
besonders gehaust hatten, schauten die Leute jetzt ganz verwundert 
auf den Europäer, aber auch kein einziges Mal hörte ich ein Schimpf- 
wort fallen. Die meisten GaÖer sahen ziemlich angstvoll drein, 
ähnlich dem Schulbuben, wenn er eben welche auf die Finger 
bekommen. 

In Wirtshäusern, besonders in der Nähe von Tientsin, sah man 
noch an den schwarzen Wänden Fratzen eingeritzt und chinesische 
Charaktere, die auf die Boxer Bezug hatten. So das „Porträt" des 
Tuan-wang, des Tung-Fu-hsiang und anderer Haupthelden. Auch 
hatte man versucht, einen europäischen Soldaten an der Wand zu 
verewigen; daß es ein solcher sein sollte, sah man an den Hosen 
und dem Hute. 

Manche edlen „Schlacht rosse *, die an die Chinesen verkauft 
wurden, sind jetzt dazu verurtheilt, den chinesischen Wagen zu 
ziehen. Die Tiere machen .einen recht traurigen Eindruck; man. 



— 193 — 

sieht es ihnen deutlich an, daß für sie der Haferkorb hoch hängt. 
Mit dem Putzen und Kämmen ist es für sie jetzt auch vorbei. 
Höchstens fährt der Chinese hier und da einmal mit dem Besen 
über den Rücken des Tieres, und damit ist die Toilette dann für 
einige Tage abgemacht. 

Obwohl ich volle acht Tage reisen mußte und die Reise grade 
in den La Yüo, den letzten Monat des chinesischen Jahres fiel, 
wann man nach hiesigen Grundsätzen keine lange Reise machen 
soll, war das Wetter doch die ganze Zeit vorzüglich. Überhaupt 
ist der diesjährige Winter ein außergewöhnlich gelinder. Die Chi- 
nesen meinen, es käme das daher, weil die Reise des Kaisers grade 
in den Winter gefallen sei; da müsse der Himmel doch einige 
Rücksichten nehmen, damit der „Himmelssohn" unterwegs nicht 
allzuviel Ungemach zu erdulden habe. Nicht unmöglich ist es aber, 
daß „das dicke Ende noch nachkommt/ Wenn es nicht wintert, 
dann sommert es auch nicht, sagt man bei uns zu Hause. Die 
Chinesen haben fast denselben Gedanken und kleiden ihn in die 
Worte : Ke long pu long, pu tscVöng ngm-tjing : „Wenn es kalt 
sein sollte und ist nicht kalt, dann gibt es ein schlechtes Jahr." 
Und sie fügen noch hinzu: Ke gä-ti pu gä, pu tsch'öng sche-tjä: 
„Wenn es warm sein sollte und wird nicht warm, dann geht es mit 
der Welt zu Ende", was ja wohl wahr sein mag, wenn sich die 
Sonne einmal ausgeschienen hat. 

Der Handel von Tientsin nach dem Innenlande scheint wieder 
recht zu blühen. Den ganzen Weg entlang reihte sich fast Karren 
an Karren mit allerhand ausländischen Waren, besonders aber sah 
ich viele Petroleumkisten und Baumwollenzeug. Auch begegnete 
mir manche Heerde Ponies aus der Mongolei. Da werden die 
Pferde im Innern voraussichtlich wieder billiger; weil im vorigen 
Jahre keine Zufuhr aus dem Norden kam, waren die Preise sehr 
in die Höhe gegangen. Aus dein Innenlande hingegen werden viele 
Ochsen nach dem Norden getrieben ; ferner sieht man Karren voll 
Geflügel und Hasen dorthin fahren. Die Lebensmittel steigen aber 
desto höher im Preise, je mehr man sich Tientsin nähert. 

Wer nach Jahren einmal wieder Peking besuchen kommt, ist 
nicht wenig erstaunt über die Veränderungen, die er hier vorfindet; 
unwillkürlich drängt sich ihm der Gedanke auf : Die Chinesen sind 
vom Hegen in die Traufe gekommen. Anstatt daß es ihnen ge- 
lungen wäre die Ausländer mit „Stumpf und Stiel" auszurotten, haben 
sich diese nur um so fester eingenistet, haben sich in noch größerer 
Anzahl eingefunden als ehedem. Der Gesandtschaftenkomplex ist 

».Pieper, „Neue Pandel*, tf 



— 194 — 

um das Doppelte, ja Vierfache vergrößert. Nicht nur Besitztum 
des gewöhnlichen Bürgers wurde annektiert, sondern auch kaiser- 
liches und zwar in unmittelbarer Nähe der verbotenen Stadt. 

Wie eine Riesenbatterie liegen die fremden Mächte, die eine 
neben der anderen gruppiert, auf dem Terrain zwischen zwei 
Hauptstadttoren, der Hatamen und der Chienmen, und nach Norden 
haben sie als nächsten Nachbarn — den Kaiser. Der Süden aber 
ist von der Stadtmauer begrenzt, und diese steht, soweit die auslän- 
dischen Besitzungen reichen, unter Bewachung der Deutschen und 
Amerikaner. Neben der Hatamen haben die Deutschen oben auf 
der Mauer einen Wachtturm gebaut. Mittels eines eisernen Gitter- 
tores kann die Mauer nach Osten hin abgesperrt werden. Von dem 
Turme aber ist es ein leichtes, den Feind auch aus der Ferne zu 
erreichen und sich ihn vom Leibe zu halten. 

Wo einstens bescheidene Einfassungsmauern standen, erheben 
sich jetzt vielfach trotzige, mit Gräben umgürtete, festungsartige 
Türme, und die Mauern sind mit Schießscharten gespickt; es brau- 
chen nur die Kanonen aufgefahren zu werden, und in kurzer Zeit 
kann der ganze Kaiserpalast in Trümmern liegen. Das Militär der 
fremden Mächte ist in massiven Kasernen untergebracht, und die 
Offiziere wohnen in mehrstöckigen, vielfach villenartigen Häusern. 
Der Kaiser braucht nur den Kohlenhügel zu besteigen, um die 
fremden Soldaten exerzieren sehen zu können. Lange Reihen 
Häuserkomplexe sind fortrasiert, weil sie im Wege standen und 
eventuell militärischen Operationen hinderlich sein konnten. 

Das Hauptverbindungstor der Chinesen-, Tataren- und der 
Verbotenen Stadt, das Chienmen, bildet zugleich nach Osten hin 
die Endstation der Tientsin-Pekinger Bahn; nach Westen aber die 
Anfangsstation der Peking-Paotingfuer Bahn. An das Pfeifen und 
Rollen der Eisenbahnen wird man sich in der Verbotenen Stadt 
schon längst gewöhnt haben; denn die Lokomotiven pfeifen oft 
und auch laut genug, um es „da drinnen" mit Leichtigkeit hören 
zu können. Daß die Bahn so weit in das Herz der Stadt gedrun- 
gen, ist auch eine Errungenschaft des Krieges, und ohne denselben 
hätten die Diplomaten wohl Jahrzehnte lang verhandeln können, 
und auch dann hätte sie die chinesische Regierung wahrscheinlich 
noch mit einem quod non — pu ching — verabschiedet. Man 
sieht, viel Federlesens ist seiner Zeit beim Baue der Bahn nicht 
gemacht worden, und man hat einfach dorthin den Weg genommen, 
wo er am vorteilhaftesten schien. Die Folge war, daß eine ganze 
Reihe Toter in ihrer Grabesruhe gestört wurden, und daß sie ihre 



— 195 — 

Stätte haben wechseln müssen. Aber das ging alles so selbstver- 
ständlich und friedlich vor sich und machte nicht die geringsten 
Schwierigkeiten. Die Chinesen suchten sich einige neue Bretter- 
schreine zusammen, darin lasen sie die Gebeine auf, verbrannten 
Papier und Weihrauch und der Tote wurde anderswo von neuem 
bestattet. Als der Schienenstrang vor die Mauern der Chinesen- 
stadt kam, wurde einfach eine Bresche hineingebrochen, und auch 
das kam den Pekinger Bürgern selbstverständlich vor; denn sie 
begriffen sehr wohl, daß die Bahn weder über die Mauer hinweg- 
steigen noch darunter horkriechen konnte. 

Tatsache aber ist, daß der Zug jedesmal gestopft voll von 
Chinesen ist, mag er nun von Tientsin kommen oder von Peking 
abfahren. Zu bequem hat man es freilich den Zopfträgern nicht 
gemacht; sie fahren nicht eimal so gut wie daheim das liebe Vieh, 
das wenigstens noch ein Schutzdach über dem Kopfe hat. Es 
scheint, man betrachtet hierzulande die Chinesen als lebloses Ma- 
terial; denn sie werden auf die nämliche Weise per Bahn dritter 
Klasse (und selbstverständlich fährt fast jeder dritter Klasse) beför- 
dert wie Steine und Sand und dergleichen Dinge. So haben sie 
freilich den Vorteil, immer frische Luft und freie Aussicht zu 
genießen, aber dafür müssen sie auch alles Ungemach der Witterung 
über sich ergehen lassen: Schnee, Regen, Sonnenschein und was 
sonst aus der Höhe kommt. 

Die Zerstörungen, welche der Krieg angerichet, werden immer 
mehr ausgemerzt; überall wird fleißig gebaut. Tag für Tag kommen 
Kamelkarawanen herangezogen mit Kalk beladen, und lange Reihen 
Frachtwagen fahren von morgens früh bis abends spät Ziegelsteine 
herbei und sonstiges Material. Es bauen der Kaiser und die Ge- 
sandtschaften, es bauen die Missionare und die Kaufleute. Der 
Kaiser läßt einen kleinen Pavillon am Kohlenhügel wieder aus der 
Asche erstehen, ferner ein nördliches Tor zur verbotenen Stadt, 
das Houmen, welches seiner Zeit die Japaner verbrannt hatten. 
Die Gesandtschaften ergänzen das ; was vom vorigen Jahre zu tun 
übrig war. Im allgemeinen haben sich alle, wie es scheint, recht 
wohnlich eingerichtet. 

Auch hat die Tatarenstadt ein neues Stadttor bekommen. 
Das ist jedenfalls ein wichtiges Ereigniß. Fast ein halbes Jahr- 
tausend ist die kaiserliche Metropole mit neun Toren ausgekommen, 
und es hätten vielleicht nochmals fünfhundert Jahre vorübergehen 
können, ehe es jemanden eingefallen wäre, in das alte, ehrwür- 
dige Stadtumfüge, einen neuen Durchgang zu brechen. Selbst der 



— 196 — 

Himmelssohn würde das kaum ohne Skrupel und mancherlei Wider- 
rede haben tun können. Was die Chinesen nicht gewagt, das haben 
die Ausländer gewagt sonder Skrupel und Bedenken. Heute zählt 
die Tatarenstadt zehn Tore und zwar ist das neue ein eisernes; 
denn eisern war ja auch die Faust, welche eine Bresche in die 
graue Riesenmauer legte. 

Der Durchgang ist an der nämlichen Stelle, wo im August 
1900 die ersten Befreier eindrangen und der hart bedrängten, tapfe- 
ren Schar die lang ersehnte Hülfe brachten. Unten geht der mit 
starken Tannenbohlen überdeckte Kanal, welcher aus der verbotenen 
Stadt fließt. Das besagt auch die über dem Torbogen angebrachte, 
etwas prosaisch klingende Inschrift „ Watergate u mit der Jahreszahl 
1900. Das Tor hat keinen Aufbau und fällt deshalb nach Außen 
nicht weiter in die Augen. 

Der Platz ist gut gewählt: nicht nur wegen des historischen 
Momentes, sondern auch in Bezug auf die praktische Seite. Hier 
liegt so ziemlich das Zentrum zu allen Gesandtschaften. Zunächst 
stoßen das deutsche und amerikanische Gesandschaftsviertel an. Nur 
wenige Schritte vom Tore entfernt liegt das deutsche Postgebäude, 
das vielleicht auch wohl die Torschlüssel in Verwahr bekommen 
dürfte. Die Europäer, die mit der Bahn von Ticntsin kommen, 
sind jetzt nicht mehr gezwungen, den weiten Umweg durch das 
Chienmen zu machen durch das Gedränge der Chinesen über die 
ausgetretene, halsbrecherische Straße zwischen der russischen und 
amerikanischen Gesandtschaft. So kommen sie nicht nur früher 
nach Hause, sondern verspeisen auch eine Portion weniger Staub. 

Wenn sich jetzt Jemand abends verspätet hat und nach Tor- 
schluß um Einlaß bittet, wird ilim hoffentlich geöffnet werden, ohne 
daß er stundenlang zu Warten braucht und womöglich auch dann 
noch keinen Einlaß erhält, weil er sich nicht genugsam als ehrlicher 
Bürger ausweisen konnte. 

Ob mit dem neuen Tore auch neue Kultur einziehen wird 
in die alte chinesische Kaiserstadt ? Lange genug wurde an dem 
Tore gebaut: hoffentlich wird es um so fester sein. Hoffentlich 
wird es nicht nur dem Zahne der Zeit lange Widerstand bieten, 
sondern auch — den Gelüsten der Chinesen, falls es ihnen einfallen 
sollte, ihre Hand nach den Schlüsseln auszustrecken. Sonst dürfte 
es eines Tages heißen: Die Ausländer haben ein Tor gebaut für 
die Chinesen : der Schlüssel ist in ihren Händen, und dann wäre es 
wohl bald um die Existenzberechtigung des „ Watergate u geschehen, 



s 



- 147 - 

Eis und Blumen in Peking. 

ekini^ ist die Stadt der vier Jahreszeiten, sagte mir neulich 
J ein befreundeter Mandarin. Aber wie ist denn das zu ver- 
^Mlu^ stehen? fragte ich ihn. In Peking, antwortete er, sind 
^/(MOT? jahraus jahrein die vier Jahreszeiten vertreten. Dort gibt 
es beständig Blumen des Frühlings, Früchte des Sommers, Trauben 
des Herbstes und Eis des Winters. 

Und der Mann hatte recht. Was Blumen und Eis angeht, so 
muß man ihm vollkommen zustimmen, denn diese gehen in Peking 
niemals aus. Die Früchte des Sommers und die Trauben des Herb- 
stes reichen wohl nicht für das ganze »fahr, aber doch für den weitaus 
größten Teil. Ende Mai gibt es noch Trauben, frisch wie vom 
Stock, und Birnen so viel als man haben will, desgleichen mancherlei 
andere Früchte. 

Anderswo freilich kann man auch so etwas haben, z. B. in 
Berlin und selbst in kleineren europäischen Städten. Aber der Unter- 
schied von der Hauptstadt des Chinesenreiches liegt darin, daß 
Peking beständig die vier Jahreszeiten innerhalb seiner Mauern 
birgt, während man in Europa ihre Erzeugnisse vielfach erst im- 
portieren muß. Und dann hat es Peking schon jahrhundertelang 
so gehabt, auch damals schon, als die meisten europäischen Städte 
noch kaum bestanden oder doch wenig Ahnung davon hatten, 
wie kalt das Eis im Sommer schmeckt und wie süß die Traube 
im Mai. 

Peking ist ein Eldorado der Blumen. Die meisten, welche 
von Peking gehört und gelesen, haben freilich den Gesamteindruck, 
daß Peking ein verstaubtes, schmutziges, übelriechendes Nest ist. 
Das will ich nicht in Abrede stellen, aber dabei bleibt doch wahr, 
daß die Reichshauptstadt des blumigen Reiches der Mitte doch auch 
Blumen in Fülle hat, mehr als eine andere Stadt Chinas. Wer sich 
davon überzeugen will, mache nur früh morgens, wenn der Tag 
eben zu grauen beginnt, auf den Blumenmarkt (Huasche) einen 
Spaziergang. Die Pracht, die er sich dort entfalten sieht, wird ihn 
schier vergessen lassen, daß er in dem schmutzigen Peking ist. 
Lange Straßen entlang, zu rechts und links ist nichts zu sehen als 
lauter Blumen in allen möglichen Farben und Formen. Und die 
sind so — täuschend ähnlich gemacht, daß man beim ersten An- 
blick meinen sollte, es seien natürliche. Erst wenn man Verkäufer 
sieht, die nichts als Blätter oder Stengel ausstellen, und andere, 
die nur Knospen und Blüten anbieten, entdeckt man, daß die 



— 198 — 

Blumen künstlich sind. Um das sommerliche Bild aber erst recht 
zu vervollständigen, fehlen auch die schillernden Schmetterlinge 
nicht aus farbigem Glas, Seide oder Papier. 

Auf diesen Markt eilen in aller Frühe, wenn es noch nicht 
staubt, zärtliche Gatten, die ihrer jungen Frau mit einer herrlichen 
Blume das Haar schmücken wollen, weil sie heute ihre Schönheit 
vielleicht besonders zur Schau stellen soll; vorsorgliche Mütter, die 
ihrer Tochter Brautblumen und Schmetterlinge kaufen wollen für 
die Hochzeit; zweifelhafte Elemente (und deren gibt es leider Gottes 
in Peking sehr viel), die keine andere Beschäftigung kennen als 
sich zu schmücken und zu schminken und mit der Sünde Handel 
zu treiben. Händler kommen aus der Ferne, um Pekings Flora viele 
hundert Meilen weit ins Innere zu tragen. Für sie hauptsächlich 
sind die Blätter, Stengel und Knospen ausgestellt, die sich leicht 
in größerer Menge verpacken lassen. Zu Hause machen sie fer- 
tige Blumen daraus und verkaufen sie für einen drei-, ja sechsfach 
höheren Preis. 

So verschieden die Blumen in Form und Farbe sind, ebenso 
verschieden ist auch das Material, aus dem der Künstler sie herstellt. 
Man findet Blumen von feinsten Seidenstoffen, andere sind aus buntem 
Papier gemacht. Während das Mädchen armer Leute einen gläser- 
nen Schmetterling im Haare trägt, glitzert auf den glänzenden 
Locken einer Mandarinentocher ein Schmetterling von Gold und 
Edelstein. Derartige Kostbarkeiten aber, ebenso wie die teuersten 
Blumen kommen nicht auf den Markt, sondern werden in Geschäften 
verkauft. Die Anwohner des Blumenmarktes sind fast alle Fabri- 
kanten von Blumen, und sobald der Markt aufgehoben ist, wird die 
Ware ins Haus getragen. Es geschieht das schon bei Sonnenauf- 
gang, denn um diese Zeit beginnt der Straßenverkehr mit Wagen 
und Schiebkarren ; es erhebt sich der Staub, der den Blumen schadet 
und ihnen den zarten Schmelz benimmt. 

Die Bevölkerung auf dem Lande trägt nur zu Neujahr Blumen, 
auch dann tun es meistens nur junge Mädchen oder aber verheiratete 
Frauen. In Peking aber schmückt sich alles damit, was sich weiblich 
nennt, vom kleinen Backfisch bis zur vergilbten Schachtel : ja auch 
ihr muß noch im spärlichen oder falschen Haare eine knallrote 
Pfingstrose glühen. Freilich halten die künstlichen Blumen länger 
vor als die natürlichen, aber nach einigen Tagen sind doch auch sie 
verstaubt und müssen durch neue ersetzt werden. Kein Wunder 
also, daß die Blumenverkäufer in Peking jeden Morgen Geschäfte 
machen, bisweilen sogar gute. Ist es jemand gelungen, eine Neuheit 



- 199 - 

zu erfinden (denn auch die Blumenmoden wechseln) und damit An- 
klang zu erregen, dann ist die Bitte aller eitlen Evastöchter : Bitte, 
Mann, eine neue Blume! Die Wirkung einer solchen Bitte ist 
jedenfalls ähnlich so, alswenn anderswo andere bitten : Bitte, Mann, 
einen neuen Hut. 

Aber auch Floras natürliche Kinder gibt es in Peking mehr 
als in den meisten anderen chinesischen Städten. Selbst ausländische 
Blumensorten, z. B. Kaktus, Geranien, Veilchen und dergl., haben 
sich längst eingebürgert. Die Chinesen haben eine rechte Fertig- 
keit in Behandlung derselben, so daß man fast zu jeder Jahreszeit 
alle möglichen Blumen haben kann. Im Mai sah ich einen Verkäufer 
mit blühenden Herbstastern und Georginen. Es stehen den Gärtnern 
freilich keine Treibhäuser zur Verfügung, sondern sie müssen sich 
mit ganz einfachen Mitteln behelfen, um im Winter die Kälte fern- 
zuhalten und die notwendige Wärme zu binden. Zum Aufbewahren 
der Blumen im Winter dienen Erdgräben, die gegen Norden durch 
eine Mauer oder einen Wall geschützt sind. Bei Tage, wenn die 
Sonne scheint, werden dieselben geöffnet und warme Strahlen 
fallen auf die Pflanzen. Während der Nacht werden sie mit 
Strohmatten sorgfältig zugedeckt. Die Hauptgartenanlagen liegen 
außerhalb der Stadt, weil das dortige Wasser den Blumen zu- 
träglicher ist; denn auch das Wasser in Peking ist nicht überall 
frei von Beimischungen, die selbst den Pflanzen weniger bekömm- 
lich sind. 

Als Stellvertreter des Winters während der heißen Sommer- 
zeit gibt es in der kaiserlichen Hauptstadt zehn mächtige Eiskeller, 
welche auf die einzelnen Stadtteile verteilt sind. Vier davon gehören 
Sr. Majästät, drei dienen zum Gebrauche der Prinzen, das Volk muß 
sich mit dem Rest begnügen. Einer der kaiserlichen liegt in der 
verbotenen Stadt, die übrigen sind außerhalb derselben. Aber auch 
das Eis aus den Kellern des Kaisers und der Prinzen darf an den 
gemeinen Mann verkauft werden, falls der „Sohn des Himmels* 
und seine Prinzen nicht alles benötigen sollten. 

Der Eishandel in Peking bildet eine Art Monopol. Neue Keller 
dürfen ohne kaiserliche Erlaubnis nicht angelegt werden. Diese 
wird nur selten erteilt, wer sie aber erhält, bekommt ein Dokument 
(Lung-P'io) als Ausweis. 

Das aufbewahrte Eis entstammt dem Wasser des „ Perlenflusses u 
(Jüho) in der verbotenen Stadt, und diesem wird es vom Berge der 
„zehntausend Lebensjahre u (Uenschou) zugeleitet, wo der Kaiser 
seinen Sommersitz hat. Im Winter wird das Wasser gegen Bezahlung 



— 200 — 

an die kaiserlichen Beamten, welche die Schleusen offnen, in 
den Stadtkanal gelassen, wo es gefriert. Tag und Nacht wird dann 
gearbeitet und in langen Reihen ziehen die Eiskarren, um die Keller 
zu füllen. Jeder Keller besteht aus zehn Abteilungen; jede Abtei- 
lung hat ungefähr zehn Schritt im Geviert. Darin liegt das Eis 
in zehn Schichten aufeinandergestapelt. Die einzelnen Stücke haben 
1—2 Fuß Dicke und bilden ein Quadrat von 2—3 Fuß. 

Es läßt sich nichts Einfacheres denken als solch einen Keller, 
und dennoch hält sich das Eis ganz vortrefflich darin. Für die 
Anlage wählt man trockene Eni wälle von einigen Metern Höhe. 
An die Nordseite derselben werden zimmerartige Höhlungen gegraben. 
Das Eis wird darin aufeinandergeschichtet und dann mit trockener 
Erde und Sorghostengeln zugedeckt. An den Seiten wird ebenfalls 
trockene Erde aufgeschüttet und die sogenannte Türe mit Luft- 
ziegeln vermauert und zugeschmiert. Damit ist die Anlage fertig. 
Man hat nur darauf zu achten, daß von oben der Regen und 
von unten das Grundwasser keinen Zutritt finden. Wird eine 
Abteilung zum Gebrauch geöffnet, so sucht man die Sonnenstrah- 
len durch ein Mattendach abzuhalten, im übrigen aber hat Wind 
und Luft freien Zutritt; ja nicht einmal eine Türe verdeckt 
den Eingang. 

Die große Menge Eis, welche in unmittelbarster Nähe beiein- 
anderliegt, trägt wohl hauptsächlich dazu bei, daß es die oft gewal- 
tige Sommerhitze nicht schneller zum Schmelzen bringt. Auch 
behaupten die Chinesen, wenn ein neuer Keller angelegt würde, 
so halte sich in dem ersten Jahre das Eis nicht. Der Boden müsse 
erst „durch und durch erkalten" (Han toulio). Wenn das geschehen 
sei, hätten Sonne und Wärme nicht mehr viel Einfluß und „der 
Winter im Sommer behaupte sein Recht". 

Eine Jbesondere Art Eiskeller gibt es noch in Peking zum Auf- 
bewahren des Obstes. Darin liegt denn auch das Geheimnis der 
wunderbaren Erhaltung desselben, so daß man im Sommer noch 
frisch scheinende Trauben des vergangenen Herbstes essen kann. 
Das aufzuwahrende Obst wird bei der Ernte sehr forgfältig sortiert 
und alles nur etwa Schadhafte entfernt. Dann wird es in Körbe, 
Kisten oder in steinerne Töpfe gelegt und zugedeckt. Besagte Be- 
hälter werden auf Eislagen gestellt und bleiben dort so lange ste- 
hen, bis man sie gebraucht. Das Obst hält sich auf diese Weise, 
wenn es gut geht, ein volles Jahr. 

Die Ausländer sind in der Regel sowohl Freunde von Eis als auch 
von Obst. Deshalb machen die Obstverkäufer und Eiskellerbesitzer 



— 201 — 

in Peking ganz vorzügliche Geschäfte. Dabei sind die Preise 
verhältnismäßig recht billig. Der Chinese selbst gebraucht das Eis 
weniger zum Abkühlen der Speisen als vielmehr zum Aufbewahren 
derselben. 1 ) Besonders können Fleisch- und Fischverkäufer ohne 
Eis keine frische Ware halten. Kühle Getränke trinkt der Zopf- 
träger nicht, weil sie seiner Ansicht nach doch den Durst nicht 
löschen. Will er aber einmal im Sommer die Freuden des Winters 
genießen, so nimmt er ein Stück Eis in den Mund und ein Stück- 
chen Zucker dazu. Soll der Genuß aber recht vollkommen sein, 
so legt er sich eine saftige Traube ins Eis und läßt sie gehörig 
erkalten. Wenn er dann hoch im Sommer die eisigkalte Traube 
des Herbstes verkostet, wird ihm lenzwonniglich zu Mute und er 
denkt: Peking ist doch wirklich die Stadt der vier Jahreszeiten. 



aoOQQQQao o s 




Chinesischer Zellenschmelz. 

ur Zeit als die alten Römer Wände und Fußböden ihrer 
Paläste mit Mosaikarbeiten zierten, haben die Chinesen ihr 
Tafelgeschirr und allerhand Schmuckgegenstände durch 
tii JU'Wi bunten Zellenschmelz (Email cloisonne) verschönert. Beide 
Künste haben Ähnlichkeit mit einander; sie bilden gleichsam die 
tättowierende Malerei. Bilder, die sonst Pinsel und Farbe des Ma- 
lers auf der Oberfläche festhält, fügt und brennt die Mosaik und 
der chinesische Zellenschmelz „in Fleisch und Blut". An solchen 
Gebilden nagt lange vergeblich der Zahn der Zeit, noch auch ver- 
mag sie die Sonne zu bleichen. 

Wer das erste Mal diese teppigbunten, farbenglänzenden Arbei- 
ten in chinesischem Zellenschmelz sieht, begreift kaum, wie dieselben 
nur hergestellt sein mögen. Es gehört denn auch die Geduld, Aus- 
dauer und Feinfingerigkeit eines Chinesen dazu, derlei Dinge zu 
schaffen. 

Schon seit Jahrhunderten gab es in Peking Werkstätten, in 
denen Emailgegenstände angefertigt wurden. Indes kam die Kunst 
erst während der Mingdynastie, zur Zeit der Regierung des Kaisers 
King-t'ae in Schwung und Blüte. Dieser Kaiser war ein besonderer 

J ) Im Ta-chiao (einem Werke, das z. Z. des Konfuzius, vielleicht von ihm 
selbst verfaßt wurde) ist die Rede von kaiserlichen Beamten, welche für das Zer- 
kleinern des Eises zu sorgen hatten bei Gelegenheit der Ahnenopfer. Das Eis 
wurde zum Aufbewahren des Fleisches benutzt; ein Beweis, daß es schon zu 
damaliger Zeit eine Art Eiskeller gegeben hat. 



— 202 — 

Liebhaber derselben, und zu seiner Ehre werden die Emailarbeiten 
King4'ae laen genannt: cloisonne des Kaisers King-t'ae. Obendrein 
hat man ihm eine Pagode erbaut, und bringt man ihm Opfer, wenn 
die Sachen gut ausfallen und das Geschäft flott vorangeht. Auch 
heute ist es noch ausschließlich Peking, wo die eigentlichen echten 
Zellenschmelzgegenstände angefertigt werden. Da sich gerade 
Gelegenheit fand, habe ich mir einigemal die Werkstätten der 
Arbeiter angesehen; und kann nunmehr bezeugen, daß die Her- 
stellung eine überaus mühsame Arbeit ist. 

Zunächst wird die grobe Form der Sachen, welche angefertigt 
werden sollen, in Rotkupfer oder Bronze zurechtgehämmert. Dann 
werden die zu emaillierenden Flächen glatt poliert. Hierauf wan- 
dern sie in die Werkstätte der Zellenaufleger. Es sind das meistens 
noch junge Leute, die vor allem gute Augen und sichere Finger 
haben müssen. Die Zellen bestehen aus drahtartigen Kupfer- oder 
Messingfäden, die jedoch nicht rund, sondern im Durchschnitt vier- 
eckig sind. Im allgemeinen werden die Zellen, bevor sie aufgelegt 
werden, zuerst fertig gebogen, nach bestimmten Mustern und Vor- 
lagen. Mit Hülfe einer Pinzette und Zange wird dann mit unsäg- 
licher Mühe und Sorgfalt so lange gepaßt, gebogen und verkleinert, 
bis die gewünschten Arabeskenformen, Drachenmuster oder sonstige 
Ornamente erscheinen. Um die so aus Draht gebildeten Zellen auf 
der polierten Fläche vorläufig zu befestigen, gebraucht man eine 
dicke, klebrige, aus Baumwurzeln gekochte Masse, Peitsche genannt. 
Sind alle Formen angebracht, so wird das Ganze mit feinstem 
Silberstaub überstreut und dann der Glühhitze ausgesetzt. Der Silber- 
staub schmilzt, fließt an den Zellen herunter und lötet sie am Un- 
tergrund fest. Will man das Muster noch vervielfältigen, so werden 
die Zellen mit etwas Tusche übertupft, ein weißes Stück Papier 
wird dagegengedrückt und die ganze Zeichnung steht schwarz auf 
weiß. Auf diese Weise werden auch leicht etwaige Mängel ent- 
deckt und können noch verbessert werden. 

Hierauf beginnt das Füttern der Zellen mit den verschiedenen 
Emailsorten. Man gebraucht dazu spitze Messerchen und bedient 
zuerst jene Abteilungen, welche dieselbe Farbe haben sollen. In 
Porzellanschälchen sind die fein pulverisierten Emailsorten mit Was- 
ser zu einem Brei angemengt. Während die Rechte behutsam das 
Email in die oft nur einige Millimeter großen Abteilungen träufeln 
läßt, glättet die Linke mit einem Stäbchen die Oberfläche. Das 
alles geht mit einer Gelassenheit und vergnüglichen Seelenruhö vor 
sich, die wir Europäer bewundern, aber nur selten nachahmen können. 



— 203 — 

Sind alle Zellen angefüllt, so beginnt die zweite Feuerung. 
Das Email schmilzt und verbindet sich mit den Kupferzellen zu 
einer festen Masse. Notwendig ist vor allem, daß die Zellen 
vollständig rein sind, und um dies zu erreichen, werden die Gegen- 
stände vor der Füllung mit den Schmelzfarben in einem aus Apriko- 
senschalen bestehenden Bade eine Zeit lang gekocht. 

Kräftige Hände sind nun bereit, den Gegenstand zunächst 
mit rauhen Sandsteinen abzuschleifen. Hat das Email einzelne 
Zellen nicht vollständig ausgefüllt oder sind durch Blasenbildung 
irgendwo kleine Löchelchen entstanden, so sind sie auszubessern und 
das „ Verbesserte u muß von neuem ins Feuer wandern „Wenn es 
einmal keine Art haben will", so geschieht es schon, daß das „Un- 
verbesserliche u vier- ja sechsmal seinen Weg ins Feuer nehmen muß 
ehe es soweit ist, um die letzte Polierung, welche mit Eichenholz- 
kohle vorgenommen wird, zu bekommen, In einem Seifenbade 
wird der Gegenstand dann noch zu guterletzt mit einer kupfernen 
Bürste gereinigt, und damit hat der Künstler seine letzte Hand 
angelegt. Das glänzende Emailstück wird jetzt in feines Papier 
gewickelt und wandert in die Hände des Verkäufers, der es auf 
den Markt oder kauflustigen Liebhabern ins Haus bringt. 

Die Feuerung der Schmelzöfen wird mit Holzkohlen bewerk- 
stelligt. Dieselben sind in einem korbartigen Drahtgeflechte auf- 
geschichtet. In der Mitte desselben wird der Emailgegenstand 
gestellt und die Öffnung mit einer Schüssel verdeckt, auf welche 
ebenfalls Kohlen brennen. Mit mächtigen Fächern aus Gänsefedern 
werden jetzt die Kohlen zu möglichst großer Glut gebracht; um 
zu wissen, ob das Schmelzen des Emails bereits erfolgt ist, wird 
der Deckel von Zeit zu Zeit beiseite geschoben. Ein Blick des 
geübten Künstlers genügt, um zu wissen, wann es Zeit ist, das 
Stück aus dem Feuer zu nehmen. 

Die Schmelzfarben selbst werden in scheibenartigen Stücken 
aus der Provinz Schantung bezogen und zwar aus dem Bezirke 
Puoschen. Im ganzen gibt es zwölf natürliche Farben. Nur das 
Pfirsichrot, eine von den Chinesen besonders geschätzte Farbe, 
wird durch eine Mischung von Goldstaub und anderen Mineralien 
künstlich hergestellt. Die Emailscheiben werden zunächst in eiser- 
nen Mörsern zu feinem Staub zerstoßen und dann beim Gebrauche 
mit Wasser in den erwähnten Brei verwandelt. 

In besseren Geschäften bedient man sich zum Befestigen der 
Zellen oder zum Vergolden derselben bereits der Galvanoplastik ; die 
Arbeit wird dadurch erleichtert und noch regelmäßiger. 



— 2Ö4 — 

Der Chinese emailliert alle möglichen Gegenstände, von kleinen 
Döschen, Serviettenringe oder dergleichen bis zum meterhohen 
Kerzenleuchter oder der noch höheren Blumenvase für den kaiser- 
lichen Palast oder die Gräber seiner verstorbenen Ahnen. Auch 
findet man derartige wertvolle Kunstgegenstände in berühmten 
Pagoden, denen sie reiche Gönner zum Geschenke gemacht haben. 
Als Gebrauchsartikel lieben die Chinesen besonders Wasserpfeifen 
in Email; dieselben werden massenhaft nach dem Süden (Kanton) 
vorkauft. Gute Abnehmer für den Emailkünstler sind auch die 
Ausländer. Schon längst hat man herausgefunden, was ihrem 
Geschmack am meisten zusagt. Zudem arbeitet man auch nach 
Bestellung und vorgelegten Mustern. Vor einigen Tagen sprach 
ein Hausierer bei mir vor, der kleinere und größere Kreuzchen in 
Kmail verkaufte, selber aber Heide war! Verkehrte Welt : ^Heiden 
machen Kreuze für die Christen. Aber es soll auch schon vorge- 
kommen sein, daß Christen in Europa Götzen machen für die 
Heiden — alles um des lieben Geldes willen. 



Zwei Wachttürme. 

•in Centrum von Kanbalide, der Hauptstadt des großen Mon- 
! golen Kan, Kublei, erhoben sich einstens zwei mächtige Türme. 
Den einen nannte man Glocken- den anderen Trommelturm. 
rl Kanbalide ist verschwunden vom Erdboden, aber nur dem 
Namen nach. Heute steht fast an der nämlichen Stelle Peking, die 
jetzige Hauptstadt des Reiches der Mitte. Aber auch jene mächtigen 
Wachttürme stehen noch, freilich nicht mehr in Mitte der Kaiser- 
stadt, sondern am nördlichen Ende der Tatarenstadt. Doch sind 
die Türme nicht gerückt, sondern vielmehr ist die Stadt mehr nach 
Süden verschoben. Es geschah das zur Zeit der Mingdynastie unter 
der Regierung des Kaisers Yunglao (1437). Noch deutlich sieht 
man gegen Norden viereinhalb Kilometer von Peking entfernt den 
sogenannten Mongolenwall, welcher die damalige Nordfront der 
Kaiserstadt bildete, Yung-lao war es auch, welcher die Stadt mit 
ihren jetzigen Festungswerken umzog, mit mächtigen Mauern aus 
großen Ziegelsteinen, flankiert von Kolossalkanonentürmen, beson- 
ders an den vier Ecken. Unter seiner Regierung würfen auch die 
beiden Wachttürme von neuem aufgeführt, da die alten baufällig 
geworden waren. Als dann zur Zeit der Tsingdynastie dieselben 




— 205 — 

niederbrannten, war es der Kaiser Kienlung, welcher sie wieder auf- 
bauen ließ, und von da haben sie sich erhalten bis auf den heutigen 
Tag. Kaum sieht man es ihnen an, daß sie schon so viele Jahre dem 
Zahn der Zeit getrotzt haben, ihr Aussehen ist verhältnismäßig gut. 




Glockenturm in Peking. 
Welches aber ist der Zweck dieser massiven Bauten ? Es sind 
Wachttürme, auf denen zur Nachtzeit in bestimmten Zeitabschnitten 
geläutet resp. getrommelt wird. Auf dem einen (Tschung-lou ge- 
nannt) hängt eine Riesenglocke aus Bronze, welche zu den größten 
Glocken von ganz, China gehört. Man schätzt sie auf ein Gewicht 



— 206 — 

von 20 000 Pfund. Wie es die Chinesen seiner Zeit fertig gebracht 
haben, ein solches Gewicht den Turm hinauf zu bekommen, ist 
ihnen selber rätselhaft. Ein Turmwächter, welchen ich darum be- 
fragte, sagte mir, man habe immer einer Seite der Glocke abwech- 
selnd Erde untergeschoben. So habe sich allmählich ein Berg 
gebildet, auf dessen Spitze die Glocke gestanden. Nachdem man 
sie dann am Balken in Mitte des Turmes festgebunden, sei der 
Berg wieder abgetragen worden. Die Glocke sei auf diese Weise 
in die Höhe gerückt, ohne daß man sie jemals frei vom Boden 
habe zu heben brauchen. 

Der Turm, welcher eine Höhe von 90 bis 100 Fuß haben 
mag, besteht aus zwei Stockwerken und ist ganz aus Steinen gebaut. 
Ja selbst die vorstehenden Dachsparren sind von Steinen, obwohl 
sie hölzernen verzweifelt ähnlich sehen. Eine steinerne Treppe von 
60 und 17 Stufen führt in zwei Abteilungen hinauf. Die Glocke 
hängt in einem eigens gebauten Gestelle, das mit Eisenblech be- 
schlagen ist Einen Klöppel hat sie ebensowenig wie alle chine- 
sischen Glocken, und deshalb wird sie nicht geläutet sondern 
geschlagen. Es geschieht dies mit einem massiven Holzklotze, der 
an beiden Enden mit Stricken aufgehängt, dagegen geschleudert 
wird. Das ist allerdings keine geringe Arbeit; sechs Mann sind 
dazu erforderlich, und die müssen sich noch plagen, daß ihnen der 
Schweiß von der Stirne läuft, erzählte mir ein Wächter. Heiß aber 
ist es in dieser luftigen Höhe nicht; selbst im Sommer fächelt eine 
angenehme Kühle von unten nach oben durch einen gitterartigen 
Boden, und vier gewaltige Fensterbogen in Richtung der vier 
Himmelsgegenden lassen dem Winde freien Spielraum. 

Über die Entstehungsweise der Glocke wissen die Chinesen 
folgendes Geschichtchen zu erzählen. Als Kaiser Yunglao Befehl 
gegeben, für den Wachtturm eine Riesenglocke zu gießen, wollte 
lange Zeit das Werk nicht gelingen. Schon eine ganze Reihe 
hoher Würdenträger, die mit der Sache beauftragt waren, hatten 
ihr Leben verwirkt, weil keiner die Glocke fertig brachte. Bald 
war die Speise nicht gut gemischt, bald reichte sie nicht hin, bald 
sprang die Form auseinander. Eben hatte der Kaiser einen neuen 
Minister beauftragt, das schwere Werk zu versuchen. Auch er 
hatte sich schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß es nun 
um sein Leben geschehen sei. Der Minister hatte aber eine Tochter, 
die ihren Vater zärtlich liebte; sie wollte ihn retten und sich selber 
für ihn opfern. Eben war die Glockenspeise in einer Anzahl Tie- 
gel flüssig, da stürzte sich das Mädchen in einen derselben; durch 



— 207 — 

ihren Tod glaubte sie die Gunst der Götter zu gewinnen. Der 
bestürzte Vater sah es, als es zu spät war, die Tochter zu retten. 
Er wollte sie ergreifen, aber sie war bereits eingetaucht in die 
glühende Masse, und der Vater ergriff nur mehr den Schuh seines 
Kindes. Die Glocke gelang diesmal vorzüglich, auch die geringste 
Unvollkommenheit war nicht daran zu finden. Aber horch! Als 
man sie das erste Mal schlug, da klang es: chiä, chiä, uoti chiä 
(Schuh, Schuh, mein Schuh). Das arme Mädchen mußte im Jen- 
seits erscheinen mit nur einem Schuh, und jetzt jammert es, so oft 
die Glocke geschlagen wird, noch immer nach dem verlorenen. 

Ungefähr 150 Schritte in südlicher Richtung vom Glockenturm 
ist der Trommelturm (Kulou). Derselbe ist etwas niedriger als der 
Tchunglou, dafür aber um ein Bedeutendes breiter. Es führen drei 
Gänge hindurch, und er macht überhaupt den Eindruck eines 
mächtigen Stadttores mit drei Abdachungen. Eine steinerne Treppe 
von 69 Stufen führt in den gewaltigen Trommelsaal, der einen 
Flächeninhalt von 49 „Zimmergrößen" (Tjenfantse) haben soll. 
Außen um den Trommelsaal führt eine Galerie, welche 72 Schritt 
in der Länge und 40 Schritt in der Breite hat. Der Unterbau besteht 
aus massivem Mauerwerke; der Oberbau aber erhebt sich vom 
Trommelsaal in Holzwerk. 

Im Innern liegt eine ßiesentrommel, die aber niemals gerührt 
wird, es sei denn, die Stadt werde von Feinden bedroht. Bei den 
letzten Unruhen, als die Ausländer auf Peking losrückten, hat man 
getrommelt aus Leibeskräften. Manche Trommel ist dabei geborsten, 
und ein klotzäugiger Drache auf der Haupttrommel hat fast alle 
Schuppen verloren. Eigentlich sollen 24 Trommeln vorhanden sein, 
in Wirklichkeit aber hat man nur zwei. Am 1. und 15. jeden 
Monats müßte gewechselt werden, da jede Trommel, wenn sie 
während eines halben Monats geschlagen worden, für ein Jahr in 
den Ruhestand zu setzen ist. Heutzutage aber können sich nur 
zwei Trommeln gegenseitig abwechseln, bis mal wieder bessere 
Zeiten hereinbrechen. 

Das Wächterpersonal für beide Türme besteht aus 120 Mann, 
die als monatliche Löhnung nur je zwei Lot Silber bekommen. 
Es ist ihnen deshalb ganz recht, wenn zuweilen ein Ausländer die 
Türme besucht und besteigt; dann bekommen sie ein kleines Trink- 
geld für Türöffnen und Begleitung. Die Wachen werden alle fünf 
Tage gewechselt. Alle zwei Stunden (Tsch'eschenn) während der 
Nacht wird sowohl die Glocke geschlagen als auch die Trommel, 
Aus der Verschiedenheit der Schläge kann man heraushören, wie 



— 208 — 

weit die Nacht vorangerückt ist. Am 1. und 15. jeden Monates 
aber wird in drei Abschnitten für längere Zeit getrommelt und 
geläutet, jedoch nicht ins Unbestimmte, sondern es müssen genau 
1200 Schläge sein. Die Art der Schläge ist verschieden, sie sollen 
das Kauschen des Windes, das Rieseln des Regens, das Rollen des 
Donners nachbilden. 

Als Zeitmesser gebrauchten die Wächter in früheren Zeiten 
sogenannte Wasseruhren (Tunglouhu). Es waren das vier metallene 
Gefäße mit kleinen Öffnungen, aus denen Wasser träufelte. Der 
Stand des Wassers zeigte an, wie weit die Zeit vorgerückt war. 
Später gebrauchte man Glühstengel, in welche bestimmte Längen 
eingekerbt waren. Diese Längen entsprachen einer Zeitdauer. Eine 
Zündschnur, die mit den eingekerbten Stellen des Glühstengels in 
Verbindung gebracht war, entzündete jedesmal eine Petarde und 
weckte womöglich die schlafenden Wächter. Heutzutage gebraucht 
man Uhren, und die Wächter sagen, diese seien noch am bequem- 
sten und einfachsten. 

Nach Besichtigung der Türme kommt einem unwillkürlich der 
Gedanke: Was haben denn eigentlich diese massiven Bauwerke für 
einen praktischen Wert, welche Zinsen bringen die Millionen ein, 
die liier verbaut sind? Und da ist schwer eine befriedigende Ant- 
wort zu finden. Bricht während der Nacht in der Stadt Feuer aus, 
so nehmen die Wächter keinerlei Notiz davon und rühren weder 
Glocke noch Trommel. Daß aber die Stunden ausgeläutet und gar 
-getrommelt werden, will nicht viel bedeuten, denn der Chinese 
kümmert sich wenig um die Zeit, am allerwenigsten aber während 
der Nacht. Der Morgen r graut* ihm doch immer früh genug, denn 
jeder Morgen bringt neue Sorgen, neue Arbeit. Als Prachtmonu- 
mente, welche die Stadt verschönern, kommen die Bauwerke wenig 
zur Geltung, da das eine zu nahe neben dem andern steht und die 
Bauart auch gar wenig in die Augen springt. Der große Kaiser- 
gedanke, welcher einstens diese Werke schuf, wird je mehr veral- 
ten, je mehr die moderne Kultur sich im chinesischen Kaiserreiche 
ausbreitet; und vielleicht liegt die Zeit nicht mehr fern, wo eine 
Turmuhr die nämlichen Dienste leisten wird, die jetzt 120 Wächter 
tun; die dann noch den Yorteil hat, daß sie nicht nur die Zeit 
ausläutet, sondern auch zeigt und zwar bei Tag und Nacht. 




— 209 — 

Das „heilige" Ackerland 
des Kaisers von China. 

Peking, im Juni 1902. 

m 20. März dieses Jahres hat der Kaiser von China wieder 
seinen Acker bestellt, nachdem dieser ein ganzes Jahr brach 
gelegen. Im vorigen Jahre „hausten" ja die Amerikaner im 
I Tempel des Ackerbaues, und auf den kaiserlichen Ländern 
grasten die Pferde. So etwas war lange nicht mehr dagewesen, und 
mit Grauen werden hoffentlich die Chinesen noch viele Jahre daran 
zurückdenken. Jetzt, wo der Friede wieder ins Land gezogen ist, 
heißt es auch wieder friedlichen Beschäftigungen obliegen, und da 
ist es Aufgabe des Kaisers, mit gutem Beispiel voranzugehen. 

Sollst dir doch einmal das kaiserliche Korn ansehen, dachte 
ich mir. In 14 Tagen muß es voraussichtlich aufgegangen sein. 
Auf einem Mongolenpony ritt ich denn zum Tempel des Ackerbaues, 
in dessen Nähe das heilige Feld liegen soll. Zwei Tore führen 
hinein ; das eine befindet sich am südlichen, das andere am nördli- 
chen Ende der Umfassungsmauer. Ich wählte das nördliche, weil 
es mir zunächst lag. Die Torwächter fanden es nicht der Mühe 
wert, sich vom Boden zu erheben, sondern zeigten nur stumm die 
Richtung, wohin ich weiter reiten sollte. 

Doch auf diesem mächtigen Grundstück, das viele Morgen um- 
faßt, gibt es nicht nur Ackerland zu sehen, sondern einen ganzen 
Park von Bäumen, eine Reihe von Palästen und Tempeln und eine 
Wildnis von Gras und Gestrüpp. Lange suchte ich vergebens nach 
dem heiligen Acker. Endlich traf ich einen Buben, beladen mit einem 
Bündel Reisig, das er im Parke aufgesucht hatte. Er führte mich 
zum kaiserlichen Ackerfelde. Doch ich glaubte, der Kleine kenne 
es selber nicht, oder aber, er wolle mich täuschen, denn was ich da 
vor mir sah, konnte doch unmöglich das historische Stück Erde 
vorstellen, das der „Sohn des Himmels" alljährlich bebaut. Einige 
Tempelwächter, die jetzt auch herankamen, fragte ich deshalb noch 
einmal, wo sich denn eigentlich der heilige Acker befinde. Er liegt 
ja vor dir, antwortete man mir. Aber das sieht ja aus, wie ein 
Brachfeld ; wo ist denn das gesäte Getreide, man entdeckt ja keine 
Spur davon. — Das ist längst wieder ausgehackt; wir haben hier 
Gurken gesät und Melonen. — Dürft ihr denn nach Belieben dem 
Kaiser seinen Acker ruinieren? — Die kaiserliche Saat wächst ja 
doch nicht, und daß der Kaiser pflügt und sät, geschieht nur des 

K. P i e p e r , „Neue Bündel". U 



— 210 — 

Beispiels halber. Sehet, da liegen noch einige Furchen, welche die 
Prinzen gepflügt; urteilt seibat, ob aus der Saat etwas werden kann. — 

Etwas abseits von dem Gurkenfelde sah ich einige krumme 
Furchen gezogen, auf denen hier und da etwas Grünes hervorwuchs : 
Weizen, Hirse, Sorgho, Bohnen, alles durcheinander. Die Leute 
hatten recht, daraus konnte nichts Gescheidtes werden. 

Den heiligen Ackern nach Norden direkt gegenüber liegt die 
„Pflügungs-Beaufsichtigungs-Terrasse" (Kuen-köng-t'e). Es ist das 
eine aus gelben und grünen Ziegeln gemauerte Erhöhung, die ein 
rechtwinkeliges Viereck bildet und die Größe einer chinesischen 
Morge haben mag. Von allen Seiten führen steinerne Treppen 
hinauf, die je neun Stufen zahlen. Von dieser Estrade aus beauf- 
sichtigt der Kaiser die Bebauung seines Ackers; daher auch der 
Name (Kuen — beaufsichtigen, köng — pflügen, t'e = Erhöhung). 
Ich setzte mich oben auf die Terrasse nieder und ließ mir von einem 
Tempelwächter den ganzen Hergang der Ackerbau-Ceremonie er- 
zählen. Der Mann behauptete, schon einige dutzend Male dabei 
gewesen zu sein, wenn der Kaiser sein Feld bestelle oder Opfer 
bringe — da sollte man glauben, er könne alles ziemlich wissen. 
Was ich in Folgendem erzähle, ist nur das, was ich selber gesehen 
und von meinem Chinesen gehört habe. 

Wie ich anfangs schon bemerkte, führen von der Hauptstraße 
her zwei Tore in den Ackerbautempel. Dieselben sind vielleicht 
einige hundeit Schritt von einander entfernt. Das nördliche (Pei- 
sui-menj, welches dem Kaiserpalast zunächst liegt, darf der Monarch 
nur benutzen, wenn er 60 Jahre alt ist; denn dann erst ist es ihm 
erlaubt, den kürzeren Weg zu gehen. In seinen „jungen* Jahren 
aber, d. h. so lange er noch keine sechzig alt ist, muß er einen 
längeren Weg machen, nämlich durch das Südtor (Naen-mi-men). 
Auch das soll zur Erbauung der Landleute dienen, die oft weite 
Wege zu machen haben, ehe sie zu ihrem Acker gelangen. Daß 
sich der Kaiser zu seinem Acker tragen läßt, und daß deshalb ein 
längerer Weg für ihn wenig zu bedeuten hat, daran stößt sich nie- 
mand, denn dafür ist er eben Kaiser. Die baulichen Anlagen sind 
in bescheidenem, einfachem Stil gehalten, da die Bauern auch nicht 
in Palästen wohnen sollen, sondern in Wohnungen, wie sie der 
Einfachheit des Landlebens entsprechen. 

Der Haupttempel heißt T'ä-sui-tien und ist dem „ Holzsterne u 
(Jupiter) geweiht. Er hat eine Länge von 72 Fuß und ist zu bei- 
den Seiten von Hallen flankiert. Diese Hallen bestehen aus je sechs 
Abteilungen; in jeder Abteilung ist eiu massiver Altar errichtet, 



— 211 — 

welche den Altären in unseren Kirchen sehr ähnlich sehen. Auf 
jedem Altare steht ein tabernakelähnliches Gehäuse. Nach vielem 
Zureden entschloß sich mein Begleiter endlich, ein Gehäuse zu öffnen. 
Ich sah darin ein Täfelchen, welches mantelartig mit gelber Seide 
umhüllt war. Auf dem Täfelchen stand in roten Zeichen geschrie- 
ben: „Geistessitz des T'ä-sui". Die zwölf Altäre, Tabernakel und 
Täfelchen sind den zwölf Monaten des Jahres geweiht. In dem 
Haupttempel aber ist ein mächtiger Altar erbaut mit reichvergol- 
detem Tabernakel, worin der Geistessitz des Holzsternes verehrt wird. 
Hier, sowie in den Seitenhallen werden im letzten Monate des chi- 
nesischen Jahres die Dankesopfer dargebracht für eine gesegnete 
Ernte. Dieselben bestehen aus sechs Ochsen, sechs Schafen und 
sechs Schweinen. 

Die Opfertiere werden in einem eigenen „ Palaste u (Ta-scheng- 
t'ing) „erlegt", d. h. geschlachtet. Aber es ist nicht gestattet, von 
schlachten zu sprechen, weil in früheren Zeiten der Landmann 
nur Wild aß, welches er auf der Jagd erlegte. Ochsen und Schweine 
müssen von schwarzer Farbe sein, die Schafe aber von weißer. In 
einem riesigen kupfernen Kessel werden die Tiere mit heißem Wasser 
gebrüht und dann von dem Innern befreit; es ist verboten, sie zu 
enthäuten. Nachdem dann die Eingeweide entfernt sind, legt man 
sie auf große Opfertische, welche in dem Haupttempel und in den 
Nebenhallen vor den Altären stehen. Auf mannshohen Leuchtern 
brennen rote Kerzen und erleuchten das mystische Tempeldunkel; 
es duftet der Weihrauch ; ringsumher herrscht geheimnisvolles Schwei- 
gen. Im T'ä-sui-tien brennen außerdem noch sechs Riesenlaternen, 
welche die Form einer Pagode und eine Höhe von drei bis vier 
Meter haben. Statt des Glases ist rote Gaze angebracht. Nachdem 
die Opfer eine gute halbe Stunde vor den Altären gestanden haben, 
werden sie fortgetragen und an die Tempelhüter sowie an das 
diensttuende Personal verteilt. 

Hierauf bekommen die 13 „ Seelensitze a neue Umhüllungen. 
Die alten werden entfernt und in einem eigenen Gehäuse verbrannt. 

Die Herbstdankesopfer werden nicht vom Kaiser, sondern von 
einem Prinzen dargebracht, den der Kaiser eigens dafür bestimmt. 
Er hat auch zur Zeit des Opfers vor den einzelnen „ Seelensitzen u 
die Anbetungsceremonien (Kao-t'ou) zu machen. 

Eine ähnliche Ceremonie des Opferns knüpft sich auch an den 
Kaiserbesuch im Frühjahr bei Gelegenheit des Ackerpflügens. 
Nachdem nämlich der Acker bestellt ist, begibt sich der Kaiser 
niit seinem Gefolge zu dem Altare des Genius für den Ackerbau 

u* 



— 212 — 

fSclten-Huu<j-t'*~i/. Dieser Altar steht iin Freien und hat viele Aehn- 
lichkeit mit d<T «Pttügungs-Beaufsichtigungs-Estrade- ; er liegt west- 
lieh nicht weit davon. Aach Grübe und Ausdehnung sind beide fast 
gleich. Nur stehen auf dem Ackerbaualtare acht grölte Weihrauch- 
gefäße aus polierter Bronze. Zur Zeit des Opfers wird darin 
Weihrauch verbrannt, den der Kaiser in seinem Palaste eigens 
bereiten labt und der anderswo nicht zu haben ist, noch auch für 
andere Zwecke gebraucht werden darf. Er soll aus wohlriechendem 
Holze bestehen und überaus köstlich duften. Die Seelentafcl des 
Ackerbaugenius wird aus dem Tempel geholt und in gelber Sänfte 
zum Altare getragen ; dort stellt man sie auf einen Thron. Davor 
stehen die Tische mit den üblichen Opfern : es brennen viele hundert 
Kerzen auf hohen, rot lackierten Leuchtern ringsumher, und selbst 
der Weg, wohin die Prozession zieht, ist mit roten Fackeln einge- 
fabt. Der Kaiser wirft sich vor der .Seelentafel- des Ackerbauge- 
nius nieder und berührt dreimal mit der Stirne den Boden. 

Zu guterletzt muß ich dem freundlichen Leser noch von der 
Hauptsache erzählen, nämlich von der Bebauung des heiligen Ackers. 
— Schon einige Zeit vor Ankunft des Monarchen werden die 
Ackergeräte in Stand gesetzt, besonders der kaiserliche Pflug, der 
aber nicht aus Gold besteht, sondern aus gelb lackiertem Holze mit 
eiserner Schar. Auch die Ochsen werden bei Zeiten herangeführt ; 
es ist Aufgabe des Mandarins von Peking, 1 ) dieselben zu stellen. 
Im ganzen sind es 26 Tiere, von denen 24 schwarz, zwei abei 
gelb sein müssen. Gebraucht werden allerdings nur 13, aber es 
muß die doppelte Zahl vorhanden sein für den Fall, daß sich ein 
Tier störrisch benehmen und dadurch der hohe Ernst der Sache 
auf das Spiel gesetzt würde. Das störrische Tier könnte dann sofort 
durch einen Ersatz-Ochsen abgelöst werden. Selbstverständlich 
pflügt der Kaiser nur mit einem gelben Ochsen, aber auch ihm 
steht ein Ersatz-Ochse zur Verfügung. Haben die Tiere ihre Schul- 
digkeit getan, d. h. ist der Acker bestellt, können sie zurückkehren 
in die Alltäglichkeit des Lebens; ja selbst der Kaiserochse wird 
entlassen ohne irgend welche Auszeichnung und kann seinen früheren 
Stall wieder aufsuchen. 

Dem heiligen Acker gegenüber, in Verbindung mit der •Pflü- 
gungs-Bewachungs-Estrade" liegt ein Palast, welcher drei Abtei- 
lungen aufweist. Die mittlere hat einen langen hölzernen Di van, 
auf den sich der Kaiser nach getaner Arbeit setzen kann, um 

l ) Peking al« Stadtbezirk heißt Schuin-t'ien, der einen eigenen Mandarin 
zur Verwaltung hat. Es ist das so eine Art Oberbärgermeister. 



— 213 — 

auszuruhen und Tee zu trinken. Im ganzen Raum ist weder Stuhl 
noch Tisch, weil die Landleute im allgemeinen solche auch nicht 
haben. An der Wand hängt eine schwarze Tafel, auf welcher in 
goldener Schrift das Beispiel des Kaisers die gebührende Anerken- 
nung findet und in vielen Lobsprüchen gefeiert wird. Rechts und 
links liegen Räume zum An- und Auskleiden. Der Kaiser legt 
nämlich, bevor er mit seinen Ochsen aufs Feld zieht, die Monar- 
chentoga ab, vertauscht den Kaiserhut mit einem gewöhnlichen, hängt 
die Kette schärpenartig um, nimmt eine gelbe Peitsche zur Hand 
und begibt sich so an die Arbeit. Der Ochse wird von hohen 
Würdenträgern geführt; wenn die Furchen schief laufen, so ist es 
ihre Schuld. Hinter dem Pfluge gehen andere Würdenträger her 
und streuen die Saat ein; geht sie nicht auf, so ist es ihr Vergehen. 
Eine Säemaschine, wie man sie heutzutage in ganz China gebraucht, 
kommt nicht in Anwendung: ein Zeichen, daß der Kaiser schon 
damals seinen Acker bestellte, als man die Säemaschine noch nicht 
kannte. Der Kaiser beackert im ganzen einen Morgen und drei 
Ruten (i mu säen fin). Dann kommen drei Prinzen an die Reihe 
und hierauf neun Würdenträger. Außerdem haben einige ehrwür- 
dige Greiße aus Peking und Umgegend Zutritt, welche eigens vom 
Bezirksbeamten für diese Gnade empfohlen und zugelassen werden, 
natürlich gegen gutes Honorar. Dieselben müssen sämtlich dem 
Ackerbaustande angehören, weiße Barte haben und über die Sechzig 
hinaus sein; ihre Zahl beträgt neunzehn. Die Furchen werden 
immer von Süd nach Norden gezogen, warum, wußte mein Cicerone 
auch nicht zu sagen. Während Prinzen und Würdenträger pflügen, 
sitzt der Kaiser auf der Estrade, welche alsdann mit einem gelben 
Zelte von Seide überspannt ist. Der offizielle Tag für die Feier- 
lichkeit des Ackerpflügens ist immer chinesisch „Mitte Frühling* 
(20. März). Dieser Termin muß genau innegehalten werden und 
„weder Wind noch Wetter ist hinreichender Grund, ihn zu verta- 
gen u (Fung-jü sui tschui). 

Es bleiben uns noch die kaiserlichen Speicher zur Besichti- 
gung übrig. Im ganzen gibt es drei, die von einer besonderen 
Mauer umschlossen sind. Darin wird das kaiserliche Getreide auf- 
bewahrt, das aber nicht der kaiserliche Acker hervorgebracht hat, 
sondern, das der Mandarin von Peking alljährlich im letzten chine- 
sischen Monate stellen muß. Es werden dort im ganzen 22 Säcke 
aufgespeichert, nämlich fünf Sack Weizen, zehn Sack Hirse, ein 
Sack Bohnen, ein Sack Reis und fünf Sack Süßhirse (Schu-tse). 
Von diesem Getreide wird die Aussaat genommen, das übrige 



— 214 — 

kommt den Tempelhütern zu gute. Im ganzen sind 20 Mann 
angestellt, welche die Gebäude und Anlagen zu bewachen haben. 
Ihnen steht ein Großmandarin (Ta-gin) vor, der bisweilen Revi- 
sion hält. 

Die Amerikaner hatten zur Zeit, als ihr Militär im Ackerbau - 
tempel hauste, der Bequemlichkeit halber, einige Breschen in die 
Umfassungsmauer gelegt. Jetzt ist die Mauer wieder hergestellt. 
Ihre Pferde haben manchem Baume die Rinde abgenagt — das ist 
allerdings nicht wieder gut zu machen, die Bäume sind gestorben. 
Ausheben darf sie naturlich niemand, denn hier ist alles kaiserliches 
Besitztum und deshalb ,. heilig*. Die Tempel und Anlagen sowie 
die Opfergeräte wurden in diesem Frühjahr wieder ausgebessert und 
das Fehlende wurde ersetzt. Als Grundfarbe, worin das Holzwerk 
der Gebäude in- und auswendig lackiert ist, dient hellrot; die her- 
vortretenden Linien aber sind vergoldet. Es macht das einen 
ungemein vornehmen Eindruck. 

Mein Chinese, den ich schon längst müde gefragt und der 
sich nicht genug wundern konnte über die Neugierde des Europäers 
— mehrere Male fragte er mich, ob wir in Europa vielleicht etwas 
ähnliches bauen wollten — streckte mir beim Fortgehen die Hand 
entgegen; nicht zum Abschied, sondern er wollte etwas hineingelegt 
haben. Es ist das in Peking einmal so Sitte. Fast keine Pagode 
kann man besuchen, es sei denn, daß man eine Kleinigkeit gibt. 
Meinem heutigen Führer vermachte ich 30 Cents, und ich tat es 
gerne, denn ich hatte viel Interessantes gesehen und gehört. 



Durch die Straßen Pekings. 

j einem Spaziergange im Innern Pekings wird der Leser 
loch viel weniger Lust verspüren als droben auf der hohen 
Stadtmauer, wohin ich ihn anfangs geführt. Lebt doch Pe- 
king in seiner Erinnerung nicht so sehr als Hauptstadt des 
„himmlischen Reiches*, sondern vielmehr als Augiasstall, der schon 
Jahrhunderte lang auf seinen Herkules wartet. Allerdings haben sich 
zur Zeit der Boxer die Ausländer an der Reinigung versucht und auch 
mit einigem Erfolge, aber all die diesbezüglichen weisen Einrichtun- 
gen sind aufgegeben oder eingeschlafen, nachdem die Chinesen das 
Regiment wieder übernommen haben. Zunächst hatte die proviso- 
rische Regierung für allgemeine Aborte gesorgt, die an geeigneten 




— 215 — 

Stellen angebracht, den Chinesen Gelegenheit bieten sollten, es nicht 
mehr zu tun wie die Hunde und das liebe Vieh. Die meisten dieser 
Ortlichkeiten sind längst von der Bildfläche verschwunden, andere 
werden jetzt als Hühnerstall benutzt oder als Obdach für die Schweine. 
Nur die weißgetünchten Wände, auf denen in großen chinesischen 
Zeichen der ehemalige Zweck gepinselt ist, verraten ihre ursprüng- 
liche Bestimmung und bilden die letzten Tätigkeitsspuren des frem- 
den Regimentes. Hua-gin-tz'e steht auf diesem: „ Abtritt für Leute 
aus dem Blumenreiche". Kuen-tz'e ist auf jenem zu lesen: „Offi- 
zielle Bedürfnißstätte". Jetzt herrscht wiederum Freiheit auf allen 
Wegen und man huldigt wie ehedem der Vätersitte. 

Doch voran! Heutzutage kann man ja in Peking leicht und 
bequem von der Stelle kommen; setzen wir uns in eine Rickscha 
oder auf Eselsrücken oder in einen „Galawagen" mit Matten säu- 
berlich überdeckt, und lassen uns in Eile vorbeiführen an Stellen, 
die dem Geruchsinn oder den Augen nicht zusagen. Sich nicht 
bange machen lassen, ist der erste zu befolgende Grundsatz für jeden, 
der sich mit besagten chinesischen Beförderungsmitteln transportieren 
läßt. Die Esel sind störrisch, aber ihr Führer weiß sie schon zu 
bändigen. Die Rickschas scheinen nur so durch die Luft zu fliegen, 
so unbändig läuft der Kuli davor. Mit geschicktem Rucke bringt 
er das gefährdete Rad über die Pfützen hinweg. Geht es im wilden 
Galopp in den dichtesten Menschenknäuel, zwischen Fuhrwerk, Kamel- 
treiber und Reitervolk, nur keine Besorgnis : mit Schreien und Flu- 
chen und Gestikulieren lösen sich die kritischen Lagen in lauter 
Wohlwollen auf, ohne daß der besorgte Fremdling einen Arm dabei 
zerbräche oder eine Beule am Kopfe davontrüge. 

Wohin unsere Spazierfahrt machen? Peking ist aus drei Städ- 
ten zusammengeschachtelt und jede ist groß genug, um einen ganzen 
Tag zu fesseln. Den größten Reiz für uns bildete allerdings die 
innere Stadt (Tze-tsch'öng), worin der Kaiser seinen Thron aufgeschla- 
gen hat. Aber schon längst sind dem Ausländer daselbst wieder die 
Riegel vorgeschoben und die Stadt ist für ihn verboten wie ehedem. 
Da bleiben uns nur mehr die Ta.tarcn-( Nei-tsch'öng) und die Chine- 
senstadt (Ue-tsch'öng) übrig. Wählen wir die erste, denn sie bietet 
das Meiste des Interessanten. Das dreifache Peking ist mit einer 
Mauer umgeben, nur bildet die südliche Mauer der Tatarenstadt 
auch zum größten Teil den nördlichen Abschluß der Chinesenstadt. 

Pekings Haupttor ist das Tsien-men, „die vordere Pforte", 
auch Tschöng-jang~men, „das wahre Sonnentor" genannt. Treten 
wir durch dasselbe ein, so haben wir bald abzuschwenken nach rechts 



— 216 — 

oder links, denn vor uns erblicken wir eine mit vergoldeten Nägeln 
beschlagene Pforte, die zur verbotenen Stadt führt, „die Pforte der 
unvergleichlichen Klarheit* (Ta-tsing-men). Wenden wir uns nach 
rechts. Wir sehen mächtige Bauten in europäischem Stile. Dort lag 
ehedem das Gesandtschaftsviertel, jetzt ist dasselbe erweitert zu einer 
internationalen Soldatenkolonie der auswärtigen Mächte, die daselbst 
ein großes Grundstück in Beschlag genommen und sich häuslich 
eingerichtet haben : eine vierte Stadt im Pekinger Städte-Trio. Um 
uns ohne Zahlenangabe die Größe des beschlagnahmten Komplexes 
bildlich zu veranschaulichen, denken wir uns in der Reichshaupt- 
stadt Berlin den Tiergarten, Moabit und Lützow von den Chinesen 
okkupiert. Ungefähr so viel wird es im Verhältnis sein, was in 
Peking in den Händen der Ausländer ist, zumal wenn die Besit- 
zungen der Katholiken und Protestanten mit eingerechnet werden. 
In dieser Ausländerstadt finden wir die deutsche Gesandtschaft ; des- 
gleichen die französische, österreichische, englische, russische, ame- 
rikanische und japanische. Jede Gesandtschaft hat ihre militärische 
Besatzung mit den erforderlichen Kasernen, Offiziers Wohnungen und 
dergl. Die Holländer haben nur ein Konsulat und ein Dutzend 
Soldaten; ebenso die Spanier, Belgier und Koreaner; letztere drei 
Mächte haben keinerlei militärische Besatzung. In diesem interna- 
tionalen Viertel sieht es denn auch recht ausländisch aus: Kirchen 
und Kasernen; Postgebäude und Hotels; Verkaufsläden und Wa- 
renmagazine; Fabrikschornsteine und Schulen; Plätze zum Pferde- 
rennen und Tennisspielen ; sorglich gepflegte Gärten und chaussierte 
Straßen; eine abendländische Welt im Herzen der Hauptstadt des 
alten Mongolen-Khan Kublai, in nächster Nähe der Geheimnisse der 
Residenz des „Himmelssohnes". Eine Durchfahrt genügt; denn was 
wir vor uns sehen, ist abendländische Kultur, wie wir sie daheim 
alltäglich zu betrachten Gelegenheit haben. 

Auf dieser Durchfahrt bemerken wir gleich linker Hand ein 
imposantes Gebäude; wozu es dient, besagt uns die Schrift in mäch- 
tigen Zügen auf der Front : lYhopital international. Es werden dort 
von Vinzentinerinnen die Kranken gepflegt, ohne Rücksicht auf 
die Nationalität. Dem Hospital gegenüber liegt das amerikanische 
Anwesen. Die Amerikaner hätten Nonnen und Kranke lieber an- 
derswo gehabt; aber Bischof Favier hat sich nicht daran gestört und 
gebaut, weil ihm der Platz geeignet schien. Die Amerikaner ha- 
ben dafür am östlichen Ende der Gesandtschaftsstraße einen ameri- 
kanischen Missionar mit mancherlei Gebäulichkeiten gegenüber den 
französischen Kasernen angesiedelt. 



— 217 — 

Die Gesandtschaftsstraße mündet in die Hauptstraße, welche 
von der bekannten Hatamen in gerader Richtung die ganze Chine- 
senstadt bis zur nördlichen Umwalluug durchschneidet. Ein Renn- 
platz für das deutsche Militär bildet den Abschluß der Ausländer- 
stadt, und ein monumentales Tor, welches die Straße überspannt, 
erinnert daran, daß man sich vorläufig mit dem Okkupierten zu 
begnügen gedenkt. Daß der Besitz aber nötigenfalls auch verteidigt 
werden kann, sieht man auf den ersten Blick. Man erhält dort 
festungsartige Eindrücke, und auch der Laie begre ift, daß die Schieß- 
scharten, Kanonenlöcher und Laufgräben nicht aus ästhetischen 
Gründen gemacht sind. In unmittbarer Nähe der Hatamen haben 
die Deutschen oben auf der Stadtmauer ein bastionartiges Gebäude 
aufgeführt. Wohl ragt das Chinesentor dem deutschen David hoch 
über den Kopf; aber eine Viertelstunde würde genügen, den prot- 
zigen Chinesengoliath zur Strecke zu bringen. Unbarmherzig sind 
die Chinesenwohnungen die ganze Straße entlang, so weit das Ge- 
sandschaftsviertel reicht, abrasiert worden. Da ist dem Feinde jede 
Gelegenheit genommen, sich heranzuschleichen ; er selbst aber wird 
nicht viele Lust verspüren, sich auf freiem Felde dem Kugelregen 
der Gegner auszusetzen. 

Das Ausländerviertel wird noch jetzt von den Chinesen Tjao- 
mintjan genannt: Straße der Handelsleute. Ehedem wohnte dort 
viel Krämervolk und wurden daselbst Schaf-, Pferde- und Schweine- 
märkte abgehalten. Nachdem die ausländischen Truppen Peking 
von den Boxern gesäubert hatten, suchte jede Nation ihren Besitz 
zu vergrößern. Es war das einerseits notwendig zur Unterbringung 
des Militärs und anderseits war der Besitz mancher Gesandtschaft 
recht beschränkt. „Von der deutschen Gesandtschaft okkupiert" sah 
ich damals in großen Lettern auf einige Kalkwände geschrieben. Die 
Wände sind jetzt eingerissen, die Schrift ist verschwunden, das Terrain 
aber ist deutscher Besitz geworden bzw. belgischer. Das belgische Kon- 
sulat liegt nämlich zwischen den deutschen Kasernen und der deutschen 
Gesandtschaft, begreiflich genug, daß es selber kein Militär benötigt. 

Wir gehen den nämlichen Weg, den am 20. Juni 1900 der 
deutsche Gesandte machte, um zum T$ung-U~ya-men zu gelangen, 
und befinden uns an der Stelle, wo Frhr. v. Ketteier einer fana- 
tischen Boxerhand zum Opfer fiel. Es erhebt sich jetzt daselbt ein 
mächtiger Triumphbogen als Sühnedenkmal, der einzige solcher Art 
in ganz Peking. Es ist das recht auffallend, da man sonst wohl in 
kleinen Provinzialstädten (z. B. in Kiaotschou) eine ganze Reihe der- 
artiger Monumente antrifft. Das Bauwerk ist in chinesischem Stile 



— 218 — 

aus weißem Marmor aufgeführt und macht einen recht imposanten 
Eindruck, wenigstens für die Chinesen. Seine Bedeutung ist in 
chinesischer, lateinischer und deutscher Sprache darauf gemeißelt: 
r zum ewigen Gedächtnis. Zum bleibenden Beweise für den Zorn 
des Kaisers (von China) ob dieser Freveltat* (sc. Ermordung des 
deutschen Gesandten). Die Zeit wird lange gebrauchen, die Schrift 
vom harten Marmor abzuwischen. Hier haben wir auch Gelegenheit, 
die berühmten Pekinger Straßen in Augenschein zu nehmen. Die 
Gesandtschaftsstraßen sind, wie gesagt, meistens chaussiert. Die 
Chinesen aber bestehen bezüglich ihrer eigenen Straßen hartnäkig 
auf ihrem eigenen Kopfe und „pflastern" noch heutzutage grade 
so, wie vor vielen hundert Jahren. Das „Chinesenpflaster" hat den 
Vorzug, daß die Wagen, welche darüber herfahren, absolut kein 
Geräusch machen, noch viel weniger als auf der besten Asphaltstraße. 
Erst recht ist das der Fall, wenn es lange nicht mehr geregnet hat, 
und sich die Wagen durch fußdickc Staubwogen zu arbeiten haben. 
Zwar bemühen sich dann Hunderte, von Arbeitern den ganzen Tag 
hindurch, des Staubes Herr zu werden, indem sie Wasser darauf 
sprengen, aber es ist vergebliche Mühe. 

Über die Straßenpflege Pekings (Tatarenstadt) haben vier 
Mandarine zu wachen, denen eine Menge Soldaten zu diesem Zwecke 
zugeteilt ist. Indes ziehen es die Soldaten vor, sich auf die faule 
Haut zu legen, und statt selber zu arbeiten, dingen sie einige Kuli. 
Die Ausbesserung besteht darin, daß bei Regenwetter die Pfützen 
zugeschaufelt werden, zur Zeit der Trockenheit aber der Staub mit 
Wasser besprengt wird. Alles, was man nicht im Hause haben 
will, wird auf die Straße geschafft, und davon bildet der Auskehricht 
den unschuldigsten Bestandteil. So etwas wie Straßenfegen aber 
gibt es in Peking absolut nicht; was auf die Straße kommt, bleibt 
darauf liegen, höchstens daß sich die Hunde noch hier und da 
etwas für ihre hungerigen Magen herausschnopern. Die Straßen 
sind infolgedessen auch ganz mächtig in die Höhe geschossen und 
sie werden noch immer höher steigen, wenn nicht mit der Zeit ein 
Herkules kommt, der sie fegt. Was wir an den Straßen Pekings 
zu bewundern finden, ist ihre Breite und ihre schneidige Länge. 
Zwei Hauptstraßen laufen kerzengerade von Süd nach Nord und 
teilen die Tatarenstadt in drei Parallelen ; im mittleren Teile befindet 
sich die Kaiserstadt. Außer diesen Straßen gibt es noch 4 — 5 
andere Hauptstraßen, welche auch mehr oder weniger parallel von 
Süden nach Norden führen. Die Zahl der Gassen, welche meistens 
gradzeilig in die Hauptstraßen von Ost nach West münden, ist sehr 



— 219 — 




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groß; ich zählte auf einer Seite gegen 50. Jede Gasse hat ihren 
eigenen Namen ; vielfach steht derselbe mit einem Markte in Bezieh- 
ung, der dort gehalten wird. Märkte gibt es nämlich in Peking 
die Menge und zwar täglich. Man hat Märkte für Fleisch, andeie 
für Früchte, andere für Kohlen, wieder andere für Stricke. Auf 
diesem Markte werden nur Spatzen verkauft, auf einem anderen nur 
Pferde und Maulesel, wieder auf einem andern nur künstliche Blu- 
men. Hier ist nichts zu haben als Knoblauch, anderswo nichts wie 
Gemüse, wieder anderswo nichts wie Getreide. Auf dieser Straße 
bietet man nur Lampen feil, auf jener nur Silbersachen, auf einer 
dritten nur Zöpfe und Kämme. Die Bettler haben ihren eigenen 
Markt, wo nur Lumpen, abgeschlissene Kleider und Schuhe aus- 
gestellt sind, ebenso die Eseltreiber, und wer einen Langohr haben 
will, muß zum K'an-lü-sche (Eselstreibermarkt) schicken. Wer Bedarf 
hat für Stroh, verfügt sich zum Strohmarkt, wer Kostbarkeiten er- 
stehen will, findet solche auf dem Tschu-pao-sche, auf dem Juwelen- 
markte. Die vier Haupstraßen, welche von Ost nach West führen, 
gehen gleichfalls schnurgerade, aber sie durchschneiden die Tataren- 
stadt nicht in dieser Richtung, da die Kaiserstadt als Kern in der 
Mitte liegt. Wer auf einer der Hauptstraßen seine Promenade 
macht, gebraucht mehr als eine geschlagene Stunde, um von einem 
Tore zum anderen zu kommen. Dabei muß er noch stramm für- 
baß marschieren und darf nicht zu viel nach rechts oder links 
schauen oder gar auf die Geschichtenerzähler hören, die während 
der Nachraittagsstunden oft zu Dutzenden in verschiedenen Abstän- 
den ein neugieriges und müßiges Publikum zu unterhalten und 
zuerheitern suchen. 

Gleich den Straßen haben auch die Stadttore ihre eigenen 
Namen. Die Tataronstadt zählt deren neun, und zwar drei nach 
Süden, zwei nach Norden und je zwei nach Ost und West. Sämtliche 
Tore haben einen hufeisenförmigen Vorbau. Anstatt daß die Straße 
gerade durchführt, biegt sie entweder rechts oder links in den Vor- 
bau ab; nur das „wahre Sonnentor" hat als Haupttor auch einen 
geraden Durchgang, der aber nur dem Kaiser geöffnet wird. Der 
tägliche Verkehr bewegt sich auf beiden Seiten ; das bedeutet aller- 
dings, viele unnötige Umwege machen, aber der Chinese scheut 
Kolchos nicht, da er ja Zeit genug hat. 

Vor. ungefähr Jahresfrist ist noch ein zehntes Tor hinzuge- 
kommen, das Tor der Ausländer, ungefähr in der Mitte des Gesandt- 
Hchuftsviortels. Es durchbricht die sudliche Mauer der Tatarenstadt 
und führt direkt zum Bahnhof. Die Stelle, wo es erbaut ist, hat 



— 221 — 

einen historischen Hintergrund. Dort krochen die ersten Befreier 
Pekings durch den Stadtkanal und brachten den Eingeschlossenen 
Hülfe und Rettung. Das Hauptportal Pekings heißt Tchöng-jang- 
nien: „das wahre Sonnentor". Rechts davon ligt im Abstände 
einer Viertelstunde das Tor „der erhabenen Wissenschaft" (Tschung- 
niu-men) links jenes des „gewaltigen Militärs" (Hnen~ü-men). Der 
Drachenthron wird somit gleichsam von den zwei Hauptsäulen des 
Reiches flankiert: der Wissenschaft und dem Schwerte, und zwar 
ist ersterer der Ehrenplatz (links) angewiesen. Auch die übrigen 
Tore haben ihre eigenen Namen, meistens sogar zwei, aber über 
die Erklärung derselben konnte ich bei den Chinesen keine genü- 
gende Auskunft finden. Das „wahre Sonnentor" ist zur Zeit der 
Unruhen verbrannt worden, ebenso auch zwei andere; von einem 
vierten hat man die Dachziegel heruntergeholt, und da wird es auch 
bald um seine Existenz geschehen sein. Überhaupt sind alle Tore 
Pekings mehr oder weniger baufällig ; sie aber neu aufzuführen, ist 
vorläufig noch wohl ein Ding der Unmöglichkeit, denn dazu wären 
Millionen erforderlich, die der kaiserlichen Kasse aber fehlen. Die 
Stadttore gehören mit zu den Monumentalbauten Pekings. Sie schei- 
nen auch nur den Hauptzweck zu haben, zu imponieren, denn prak- 
tischer Wert ist wenig daran zu finden. Der Eingang führt bescheiden 
durch einen tunnelartigen Bogen der gewaltigen Umfassungsmauer ; 
oberhalb derselben erhebt sich dann in drei bis vier Stockwerken 
breit und behäbig und doch imposant der Riesenbau, eine Zufluchts- 
stätte für Elstern, Krähen und Tauben. Aus den vielen Fenster- 
nischen drohen allerdings zahlreiche Kanonenmündungen, aber bei 
genauerem Zusehen vergeht der Schrecken, den sie einflößen sol- 
len: sie sind nur gemalt. 

Führt man jemanden in einer fremden Stadt spazieren, so 
werden vor allem die Kirchen und Museen besucht; die Park- und 
Gartenanlagen; das Rathaus und die Theatergebäude, weil solche 
Bauten der Stadt meistens ihr eigentümliches Gepräge geben und 
sich aus der gewöhnlichen Bürgerlichkeit besonders hervorheben. 
Von all derartigem gibt es in Peking aber nicht viel zu sehen. Das 
interessanteste Museum für uns wäre ohne Zweifel die Residenz des 
Himmelssohnes, denn dort wird auch jetzt noch mancherlei aufbe- 
wahrt, das in jedem Museum einen Ehrenpatz bekäme. In der 
Kaiserstadt finden wir auch die herrlichsten Garten- und Parkanlagen 
von alter Kunst und langjähriger Natur wundersam gestaltet. Und 
schließlich würden wir dort auch Theater finden, welche wir im eigent- 
lichen Peking (Tatarenstadt) vergeblich suchen. In der Chinesenstadt 



222 

allerdings waren ehedem zwanzig vorhanden: aber zur Zeit der 
Boxerbewegung sind manche niedergebrannt und nunmehr noch 
acht übrig. Wollen die Bürger der Tatarenstadt ins Theater, so 
gehen >\e zur Chinesenstadt. 

Was die Gotteshäuser Pekings betrifft, so ist von den vier 
Hauptkirchen nur mehr die nordliche (Peifang) vorhanden ; die drei 
anderen wurden bekanntlich zerstört. Unterdessen ist aber wieder 
eine zweite erbaut und zwar im Gesandtschaftsv iertel, wo sie den 
Katholiken aller Nationen offen steht. Auch ist der Aufbau der 
zerstörten Kirchen (Tungfang, Sifang, Naent'ang) wieder in Angriff 
genommen. Pagoden gibt es in der Tatarenstadt auch nur wenige ; 
eine der schönsten ( Tschan Tnen-asnj wurde von den ausländischen 
Truppen in Trümmer gelegt, weil sie eines der Haupt- Boxernester 
gewesen war. In die Augen fallend ist besonders eine sogenannte 
Regenschirmpagode, so geheißen wegen ihrer Spitze, die oben schirm- 
förmig auseinander geht. Die Chinesen nennen sie Pei-t'a-ssn, die 
Pagode des weilien Turmes. Die sonstigen Hauptkultusstätten, vor 
allem der Himmelstempel, befinden sich in der Chinesenstadt; letz- 
terer ist eines eigenen Besuches wert. 

Sagen wir für heute der « Meisterstadt u des himmlischen Rei- 
ches Lebewohl. Hauptstadt nennen wir die erste Stadt im Reiche, 
weil das Landesoberhaupt dort wohnt. Der Chinese betitelt Peking 
King-schae-tschöntj : .Meisterstadt*, das ist die erste Stadt, oder auch 
Schuin-t'ien-jH, .die dem Himmel Ergebene" — wohl deshalb, weil 
der Himmelssohn darin wohnt. 



Ma-ngan-schen, das Sommerquartier 

der deutschen Truppen in Peking. 

■ 

Baß die deutschen Truppen in Peking den besten Platz an 
1 der Sonne hatten, ist wohl kaum zu sagen. Im Sommer 
meint es die Sonne eben zu gut und sendet mehr Wärme 
als nötig und angenehm ist, die hohen Stadtmauern aber, 
an die das Soldatenlager grenzte, halten die von Süden kommende 
Brise zum Teil ab. Den Vorteil bieten allerdings die Mauern, 
daß sie mit Leichtigkeit erstiegen sind, und daß man ebenso 
leicht die Kanonen auffahren kann, „wenn mal wieder etwas pas- 
sieren sollte*. 




— 223 — 

In Anbetracht der Sommerhitze nun war es ein kluger Gedanke, 
für die Truppen ein kühles Plätzchen zu suchen, wo sie sich von 
*der Hitze und Plage vergangener Tage erholen könnten. Dieses 
Plätzchen ist in den Bergen gefunden und der Berg, wo es liegt, 
heißt Ma-ngan-schen d. h. Pferde-Sattel-Berg, weil die chinesische 
Phantasie in seinen Formen einen Pferdesattel erkennt. Ein Kloster 
liegt dort in mittler Bergeshöhe, anmuthig im Grünen versteckt; 
sein Name ist Tjä-tä-ssü. Ich will heute den freundlichen Leser 
dorthin spazieren führen, damit er sich wenigstens im Geiste mit 
unseren Sommerfrischlern erfreuen kann. Und findet er später einmal 
selbst Zeit und Gelegenheit, persönlich hinzugehen, so ist ihm die 
Stätte keine fremde mehr. 

Wer es sich bequem machen und schnell ankommen will, kann 
von Peking mit der Eisenbahn bis Tschang-sin-ticn fahren. Von 
dort ist man in drei Stunden mit Leichtigkeit an Ort und Stelle. 
Wer aber Zeit genug hat und es vorzieht sich die Gegend anzusehen, 
benutzt am besten ein Pferd und reitet von dem Chien-men zum 
Tschang-j-men der Chinesenstadt. Dort findet er eine gepflasterte 
Straße, die allerdings schlecht zu reiten und eintönig zu sehen ist. 
Eine gute Stunde dauert es, ehe die mächtigen Steinfliesen ihr Ende 
nehmen, und man hat Zeit genug die Arbeitskraft der Chinesen 
zu bewundern, die solche Werke geschaffen haben und sich zu 
ärgern über die heutige Schlotterei, welche sie zerfallen läßt und 
selbst das nicht ausbessert, was mit leichter Mühe geschehen könnte. 
Den Schluß der Straße bildet ein massives Steintor mit drei Bogen. 
„Alle Wege und Pfade laufen hier zusammen u (Tje-tao-t'ung-kui) lautet 
der Weisheitsspruch über dem mittleren Bogen in Stein eingemeißelt. 

Bald ist dann die Stadt Fei-tschöng erreicht. Weil da drinnen 
nicht viel zu sehen ist, reitet man am besten an der südlichen 
Umfassungsmauer vorbei, schwenkt rechts ab, und sieht dann die 
lange Brücke Lu-kou vor sich. Es ist das jedenfalls eine der 
berühmtesten Brücken von ganz China, deren Vorgängerin schon 
seiner Zeit Marco Polo imponiert hat. Jene Brücke freilich, die 
den venetianischen Reisenden entzückte und die während der Dynastie 
Tsin erbaut worden war, fiel im Jahre 1668 in Trümmern zusam- 
men. Kaiser Kanghi ließ sie in der jetzigen Gestalt von Neuem 
aufführen. Die Länge des Bauwerkes beträgt ungefähr 350 Schritt, 
und zwölf massive Bogen tragen die wuchtigen Steinmassen; die 
Höhe der mittleren Bogen dürfte sich auf 30 bis 40 Fuß belaufen. 
Possierlich nehmen sich die 140 Löwen aus, welche an dem stein- 
ernen Brückengeländer in regelmäßigen Abständen angebracht sind. 



— 224 — 

Alle sind guter Dinge und grinsen und lächeln in den verschieden- 
sten Grimassen den Wanderer freundlich an. Das hohe Alter hat 
ihnen die Jugendfrische genommen, nicht aber den guten Humor.* 

Jenseits der Ln-kou-tj'ao sind die Wege von der Natur geschaf- 
fen und nach der Witterung und Jahreszeit sehr verschieden. Zu 
Zeiten können sogar noch Wagen leidlich bis dicht an den Fuß 
des Berges durchkommen. Am besten aber läßt man sich seine 
Sachen, falls man solche mitnehmen will, von Kamelen oder Maul- 
tieren tragen. Von ersteren Tieren ist die Strecke fast immer 
belebt. Kalk und Kohlen sind die Hauptartikel, die sie aus den 
Bergen schaffen. Will man beim Besuche von Tjä-t'ä-ssü die Kalk- 
brennereien und die Kohlenbergwerke in Augenschein nehmen, so 
ist auch dafür gute Gelegenheit geboten. Dicht am Wege sind 
ganze Keihen Kalköfen und einige Li tiefer ins Gebirge hinein 
werden Kohlen gegraben. 

Der Aufstieg zum Berge geht ziemlich sacht. Man kann die 
Tiere, falls sie stark genug sind, bis an die Klosterpforte reiten. 
Nur wird das letzte Stück Weges etwas ungemütlich wegen der 
Steinstücke, mit denen es kunterbunt belegt ist. Wer da mit dem 
Pferde ins Fallen käme, könnte Hals und Bein zerbrechen. Noch 
einige hundert Schritte von der eigentlichen Klosterpforte entfernt, 
überspannt den Weg eine Art Triumphbogen, auf dem in großer 
Schrift zu lesen ist, daß der Ort da droben herrlich sei. Von hier 
aus sieht man ein Stück der Tempelanlagen aus saftigem Grün 
hervorlugen und gewaltige Akazien breiten ihre Arme über den 
Weg, kühlen Schatten dem schwitzenden Wanderer spendend. Dieser 
nimmt seine Kraft neu zusammen und in kurzem Aulauf ist der 
letzte Aufstieg überwunden. Er steht vor der Klosterpforte, findet 
sie geöffnet und tritt ein. 

Wie balsamisch das da duftet; welche traute Einsamkeit! 
Hundertjährige Lebensbäume überschatten Tempel und Wege; alters- 
graue Fichten spannen ihre Zweige schirmartig aus ; einige Vetera- 
nen bedürfen sogar der Stütze, um sich aufrecht zu halten. Aber 
wie es nur so ruhig da ist! Kein menschlicher Laut läßt sich hören, 
kein lebendes Wesen ist zu erspähen. Die Sommerfrischler scheinen 
sich hier im Klosterfrieden, auch im Stillschweigen zu üben. Wir 
schreiten weiter und kommen durch ein zweitens und ein drittes 
Tor. Da erscheint eine dienende Seele, die uns weiter führt. Jetzt 
begreifen wir auch, warum es so ruhig war. Die Herrn sassen an 
einem kühlen Plätzchen, beschäftigt, eine wichtige Frage zu lösen, 
die Magenfrage. Während dessen aber lagen die Mönche im Tempel 



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der Andacht ob; eben hörte man sie ihre Gebete näseln und die 
Glocke rühren. Ich wurde sofort angespannt, auch für meinen 
Teil lösen zu helfen, und die liebevolle Gastfreundschaft der Herrn 
verhalf mir zu einem unerwartet guten Resultate: Schinken Eier, 
Pellkartoffeln, Wein, Mineralwasser, aromatische Luft, kühlender 
Wind: Herz, was verlangst du noch mehr! Die Kühle war so groß, 
daß ich schließlich zu einem Mantel greifen mußte, um mir keinen 
„Pips" zu holen. 

Nach dem Essen wird eine Siesta gehalten. Ich schaute mir 
unterdessen in Begleitung eines kleinen Bonzen die Tempel an, 
Leider wußte der Kleine auf meine Fragen, die ich in betreff der 
Götzenbilder und Pagoden an ihn stellte, nur sehr wenig zu ant- 
worten. Und als sich nachher noch einige alte Bonzen anschlössen, 
wohl hoffend, es würde etwas für sie abfallen, kam ich zur Über- 
zeugung, daß sie das Alter auch noch nicht viel weiser gemacht 
hatte. Sie wissen wenig zu sagen über jene, die sie verehren, und 
das Ziel, welches sie bei dieser Verehrung im Auge haben. 

Das Kloster hat eine sehr lange Vergangenheit hinter sich. 
In seiner ursprünglichen Gestalt soll es während der Liao-Dynastie 
(917 — 1126) von einem Bonzen, Namens Ta-tiüin erbaut sein. Der- 
selbe soll dort eine Kanzel (t'ä) errichtet haben, auf welcher er 
seinen Schülern Vorträge über Fasten und Abstinenz hielt (tjä). 
Tjä-t'ä-ssü heißt also „das Kloster der Fasten-Kanzel. u Solche Vor- 
träge werden auch heute noch gehalten, aber nur an einem Tage 
im Jahre, nämlich am 8. Tage des 4. Monats, chinesischen Datums. 
Dann versammeln sich alle Hauptäbte der Klöster aus Nah und 
Fern und pilgern nach Tjä-t'ä-ssü. Der dortige Superior steigt auf 
die Kanzel und die Pilgeräbte setzen sich um ihn herum, seinen 
Worten zu lauschen. Tjä-t'ä-ssü wird somit als eine Pflanzstätte 
echten Klostergeistes betrachtet, aber der jetzige Abt soll durchaus 
kein besonderer Liebhaber von Fasten und Abstinenz sein. Er soll 
fast das ganze Jahr in Peking weilen und sich dort gütlich tun. 
wenn aber die Schüler von Tjä-t'ä-ssü um eine Milderung oder um 
irgend eine Dispens bitten, soll er sie zur Enthaltsamkeit und 
Abtötung mahnen, die er selbst nicht übt. Darob sind seine Unter- 
gebenen nicht besonders erbaut und deshalb auch nicht gut auf 
ihn zu sprechen; ja, sie klagen sogar, daß ihnen nicht einmal das 
zum Leben Notwendige verabreicht würde. 

Die ganze Klostergemeinde besteht augenblicklich aus etwa 
dreißig Personen. Davon liegt ein Teil der Arbeit ob; dieser 
gehört nicht zur eigentlichen Gemeinde, sondern er besteht aus 

K. Pieper, „Neue Blinder. 15 



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gemieteten Knechteu und Tagelöhnern. Einen zweiten Teil bilden 
die Kloster-Novizen, welche nur am ersten und fünfzehnten jeden 
Monats zu beten haben; während der andern Zeit aber muß der 
dritte Teil, die eigentlichen Bonzen, für sie mitbeten, und zwar 
drei Mal am Tage, das erste Mal morgens in aller Frühe. Die 
Bonzen sind von jeder Arbeit frei; Gebet und Betrachtung (?) 
sind ihre Obliegenheiten. Die Novizen aber haben kleine Neben- 
beschäftigungen zu besorgen : Feldhüten , Beaufsichtigung der 
Knechte usw. 

Die Kanzel der Enthaltsamkeit bildet eine quadratförmige, 
sich nach oben zu in drei Abstufungen verjüngende Erhöhung von 
ungefähr drei Meter Höhe. In die Flächen, welche durch jede 
Abstufung hervortreten, sind kleine Nischen gemeißelt und zwar in 
der unteren 48, in der mittleren 32 und in der oberen 28. In 
diesen Nischen stehen fratzenartige Gebilde (viele haben einen 
Schnabel) welche Tj-scha-schenn genannt werden. Was der Name 
zu bedeuten hat, wußten meine Cicerone auch nicht zu erklären. 
Einer behauptete, es seien das die Bilder jener Aszeten, welche sich 
zeitlebens besonders durch Enthaltsamkeit ausgezeichnet und ihre 
Nahrung nur „schnabel weise" zu sich genommen hätten. Der ganze 
Bau ist aus marmorähnlichem Kalkstein aufgeführt und gut erhal- 
ten. Auf der Plattform steht ein Buddha (Sche-tia muo~tii-fuo) und 
elf reichverzierte Stühle. Während der jeweilige Prior des Klo- 
sters auf dem Hauptsitze Platz nimmt und seinen Vortrag hält, 
setzen sich die versammelten Pilgeräbte auf die andern Stühle. 
Für den geistigen Bedarf ist ferner durch eine reichhaltige Biblio- 
thek gesorgt, die in vier Kasten aufgespeichert liegt. Auch in einem 
andern Haupttempel, der Pagode des Yüo-sche (?) Buddha, befin- 
den sich zwei Riesenkasten mit je 160 Schubladen. In jeder Lade 
sind Bücher aufgestapelt, aber an Auswahl soll es fehlen. Es sind 
weder apologethische, noch Geschichtswerke vorhanden, sondern 
nur Gebetbücher (Ts'an-tjing). Die Schüler lernen den Laut der 
Zeichen, ohne sich über die Bedeutung derselben Rechenschaft 
geben zu können, das reinste Papageiengeschäft, wozu nur eben 
ein Chinese fähig ist. 

Vor den Bildern der Hauptgottheiten bemerkt man die ge- 
wöhnlichen Zieraten: Leuchter, Blumenvasen und Opferschalen 
mit Früchten. In der Pagode des Yüo-sche Buddha stehen zu 
beiden Seiten zwei gewaltige „Bambus" Tsien-fu-tschn genannt: 
Bambus des zehntausendfachen Glückes. Das Holz desselben soll 
heilbringende Wirkungen haben und für Geld kratzt der Bonze 



— 227 — 

dem bittenden Pilgrim ein wenig ab. Daher rührt auch wohl das 
wunderliche Aussehen der Bambus her, der übrigens gar kein 
Bambus ist, sondern wahrscheinlich Überreste von alten Lebens- 
bäumen darstellt. 

Eine der interessantesten Sehenswürdigkeiten sind die zwei 
langen Seitenhallen mit den 500 Schülern des Buddha (Luo-chan). 
Da kann man Typen aller möglichen Farben und Gesichtszüge 
studieren. Der Grundton freilich, der auf fast allen Gesichtern ruht, 
ist das Vergnügtsein und die stille Wonne. Nur hier und da sieht 
man ein Denkergesicht, versunken in tiefe Betrachtung. Die Euro- 
päer stellen unter diesen Buddha-Schülern auch ihren Kontingent; 
ja, selbst Schwarze und Halbschwarze gibt es ; Söhne Abrahams mit 
krummen Nasen und Nachkommen Kams mit dunkler Hautfarbe. 
Über einige wußten meine Begleiter ein wenig zu sagen, die meisten 
aber waren ihnen unbekannte Größen. Ein Tuo-mei (Apostel Tho- 
mas?) der da abseits steht, stamme aus dem Westen, und er sei 
ein guter Mann gewesen. Ein alter Papa mit großer Beule auf 
der Stirne habe zeitlebens dem Buddha so oftmals Ko-t'ou gegeben, 
daß er sich jene Protuberanz an der Stirne „ herausgeschlagen u habe 
(k'o-tou-k'ao-tschhi-le). Darin sei ein kostbarer Edelstein (sche-li- 
ts'ü) enthalten, der Licht verbreite in der Finsternis, und dem 
weder Feuer noch Hammer etwas anhaben könnten. Solch ein 
Edelstein sei die höchste Auszeichnung, welche Buddha verleihe, 
und ihn zu bekommen die sehnlichste Hoffnung aller, die Buddha 
Ko-t'ou gäben. — Jenem wunderlichen Menschenkinde da ist aus 
dem Kopfe noch ein zweiter Kopf hervorgewachsen. Das nenne 
man Jang schenn tsch'u schenn, das Herausgehen aus sich selber, 
das sich Herausbilden zum Übermenschen (ä la Nietzke?), eine 
furchtbar schwere Arbeit. — Ein Lachkopf dort macht Anstalten 
sich eine Art Kapuze vom Kopfe zu streifen. Das sei t'uo-lao- 
tsch'uen-schao, das Alte ablegen und das Junge wieder anziehen. 
Durch fleißige Verehrung des Buddha erwache wieder Jugendfri- 
sche und Kraft in Geist und Körper. — Und diesem Wundorkinde 
hier wächst gar ein Goldkopf aus der Brust: das Bildnis des 
Buddha. Das sei eine Belohnung für den festen Glauben an Buddha; 
der Glaube sei Sache des Herzens und an Stelle des Herzens habe 
diesem da Buddha sein Bild gesetzt. — Eine gute Seele dort hat 
einen nackten Knirps auf dem Schöße sitzen. Sie habe denselben 
von der Straße aufgehoben und ihn an Kindesstatt angenommen; 
zur Belohnung für das gute Werk habe sie Buddha unter die Zahl 
seiner Schüler gereiht. 

15» 



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Weiter den Berg hinauf finden wir noch einige Tcmpelanlagon 
in denen — Eunuchen verehrt werden. Wer sie zu Göttern ge- 
macht hat, darüber wissen die Bonzen nichts zu berichten; sie 
wissen nur, daß das Kloster der Freigebigkeit der Eunuchen viel 
zu verdanken hat und sich nun dadurch dankbar bezeigt, daß es 
eine Reihe vergötterter Eunuchen verehrt und ihnen zu Zeiten 
Weihrauch brennt. 

Noch weiter den Berg hinan steht eine Pagode der Lao-nä-nä 
für die „Großmutter". Man hat die Alte ziemlich auf die Seite 
geschoben; um aber doch dem Bedürfnisse frommer Frauen, die hier- 
her kommen und sich Kinder erflehen, einigermaßen gerecht zu 
werden, durfte sie nicht ganz fehlen. 

Einen besonderen Gönner hat das Kloster am Prinzen Kung, 
der die ganzen Anlagen im sechszehnten Jahre des Kaisers Kuang-sü 
reparieren ließ. Es dauerte drei Jahre, ehe Alles wieder gehörig 
in Ordnung war. Der Prinz hat dort ein eigenes Palais, das aller- 
dings einfach gebaut ist, worin es sich aber sicherlich angenehm 
wohnen läßt. Wenn der hohe Gast von Zeit zu Zeit das Kloster 
mit seinem Besuche beehrt, geben sich natürlich die Mönche alle 
mögliche Mühe, ihm den Aufenthalt angenehm zu machen, denn 
je lieber ihm die Stätte wird, um so besser für die Insassen. 

Die Umgegend von Tjä-t'ä-ssü ladet zu Spaziergängen in 
dicht bewaldete Abhänge, in grün beraste Berghalden ein. Einige 
Li weit entfernt senkt sich eine Höhle tief ins Gebirge, worin es 
im Sommer sehr kühl ist. Den Eingang bewacht ein Klausner, 
zugleich mit der Pagode, welche der Öffnung zur Höhle vorgebaut 
ist. Wollen wir hineinsteige i, zündet der Klausner zwei Stroh- 
fackeln an und geht uns voran, den Weg zu beleuchten. Das 
ist aber auch notwendig, denn ohne Licht würde man bald auf 
der Nase liegen oder anderswo. Der Abstieg ist schüssig und glatt; 
selbst der Klausner nimmt den Besuch sehr ernst, denn je weiter 
wir vordringen, um so häufiger murmelt er sein Ngao-mit'uo-fuo, 
„um den Schutz der Pusa für den gefährlichen Gang zu erflehen". 
Inmitten der Höhle steht eine steinerne Platte, auf welcher drei 
Bilder der Pusa eingemeißelt sind. Der Führer wirft sich dreimal 
vor derselben nieder, macht seine Komplimente und leuchtet uns 
dann weiter voran. Je näher wir dem Ende zutappen, um so mehi 
müssen wir unser Rückgrat beugen, damit nicht der Kopf mit über- 
hängendem Gestein in Konflikt gerate. Zuletzt reicht auch das 
Bücken nicht mehr aus: auf allen Vieren geht es unter einer den 
Weg versperrenden Felsenkantc her, und wir stehen dann in einer 



— 229 — 

Rotunde : ein schauerliches Verließ, mitten im Herzen des Berges. 
Nach oben geht die Höhle schachtartig in die Höhe, wir können 
jedoch das Ende nicht sehen. Auch der Klausner weiß nicht, wie 
hoch hier die Höhle empor reicht: das sei nicht zu ermessen, sagt 
er. Eigentlicher Tropfstein ist nicht zu finden, die Chinesen werden 
ihn bei Zeiten abgeschlagen haben. Am Boden aber liegen hier 
und da wunderliche Steingebilde: dieses da stellt einen versteiner- 
ten Drachen vor; jenes da einen hockenden Löwen; wieder ein 
anderes den lauernden Bären. Die chinesische Phantasie ist reich 
im Erfinden und sie findet auch immer den rechten Namen.. Auf 
dem Rückwege wurden die Schritte gezählt, und es ergab sich, daß 
die Höhle gegen 300 Meter tief ins Gebirge geht. 

Noch weiter aufwärts von der Höhle führt uns ein Pfad in 
eine zweite kleinere Höhle, fast am Gipfel des Berges wo sich 
ebenfalls ein Buddha-Tempelche n befindet. Auch hier wohnt oben 
in frischer Luft und weltentlegener Einsamkeit ein Klausner. Wer 
den etwas beschwerlichen Aufstieg nicht scheut, wird durch den 
wunderbar herrlichen Anblick, der sich ihm von hier aus bietet, 
reichlich entschädigt. Ist die Luft rein, so übersieht man das mächtig 
große Peking in seinen ganzen Umrissen und die Berge in weitem 
Umkreise. 

Kommen wir nach unsern Spaziergängen ins Kloster zurück, 
so empfängt uns stiller Frieden. In trautem Kreise wird unter dem 
Doppeldache des gestirnten Himmels und grüner Bäume, umsäuselt 
vom milden Abendwinde, das Essen genommen. Man sitzt noch 
lange, lange zusammen, denn es ist da draußen zu nett. Und wenn 
sich endlich der Schlaf einstellt, dann ist er ein gern gesehener Gast; 
man wirft sich in seine Arme, um am Mch'gen frisch und neugestärkt 
zu erwachen. — 

Alles in Allem: „Hier ist gut sein", können unsere braven 
Musketire auf dem Berg von Tjä-t'ä-ssü bekennen. Hoch oben in 
den Lüften kreisen Adler und Habichte, in den Felsspalten girren 
wilde Tauben ; auf bunten Blumen wiegen sich seltene Schmetterlinge : 
da gibt es Beschäftigung für den Waidmann, Erholung für den 
Blumen- und Schmetterlingsfreund. Goldene Aprikosen mit roten 
Wangen lachen von zahlreichen Bäumen. Aber so verführerisch 
sie auch lachen, die Ausflügler gehen kalt an ihnen vorüber, ein- 
gedenk des strammen Verbotes, kein Obst zu essen. Nuß- und 
andere Obstbäume beugen ihre Zweige unter schwerer Last; ein 
Brunnen mit krystallhellem Wasser bietet dem Durstigen erfrischenden 
Trunk: tsvhen-sche ho sio tj-t'ang: das ist ja wahrlich ein kleines 



— 230 — 

Eden. Hoffentlich werden aber unsere Sommerfrischler da oben 
nicht dermaßen berückt, daß sie beim Weggehen Versuchungen 
bekommen, in Tjä-tfä-ssü als Klosterbrüder einzutreten. Dann würde 
ihnen der Aufenthalt doch bald langweilig werden : „Dii gentium 
daeinonia" (Ps.). AJ' e Götter der Heiden sind Dämonen. 



— oO-OO-c- 




Beförderungsmittel in Peking. 

iuch ohne Automobil und Elektrische gibt es in Peking 
mancherlei Gelegenheit vom Fleck zu kommen, und den 
verschiedenen Wünschen des Publicums ist reichlich Rech- 
nung getragen. Wer viel Zeit hat aber wenig Geld, der 
setzt sich auf einen breiten Fracht wagen und bleibt so lange darauf 
hocken, bis der Fuhrmann die Zahl der Fahrgäste als genügend 
anerkennt und damit losfährt. Diese Karren bewegen sich etwas 
langsam, aber sie bieten dabei den von einem Chinesen nicht hoch 
genug anzuschlagenden Vorteil, unterwegs Gesellschaft zu haben, 
und sich die Zeit mit Plaudern vertreiben zu können. Auch ist es 
luftig auf dem Karren, der mit einer großen Matte überdeckt ist; 
alle Neuigkeiten auf der Straße können beobachtet werden und 
deshalb fehlt es auch niemals bei der Unterhaltung an Stoff. 

Wer aber sofort befördert sein will und keine Zeit zu verlieren 
hat oder das Alleinsein vorzieht, der setzt sich in einen Wagen der 
besseren Qualität, der tjao-tsch'ä heißt, was so viel als Sänfte- Wagen 
bedeutet. Der Chinese sitzt denn auch überaus sanft darin ; er hat 
im Kückgrade so viele Springfedern, daß sie bei allen Bewegungen 
des Wagens die entgegengesetzte Richtung nehmen und der Chine- 
senkopf vor dem Anschlagen an die Karrenumhausung bewahrt 
bleibt. Der des Ausländers freilich, der meistens auf einem steiferen 
Rücken sitzt, kommt oft genug mit dem Wagen in unfreundliche 
Berührung. Wenn's sein muß, finden auf dem Sänftewagen auch 
zwei Mann Platz und falls es sich um Kinder handelt, gehen sogar 
drei hinein. Wird eine Schöne darin gefahren, so hat fast regel- 
mäßig eine Alte den Vorsitz, um mit ihrem Rücken die Insassin zu 
verdecken und die Blicke der Vorübergehenden auf sich zu lenken. 
Wer seinen Weg durch enge Gassen zu nehmen hat, abseits 
der großen Straße, findet Beförderung auf des Esels Rücken. Und 
während der Graue unverdrossen fürbaß trabt, läuft der Treiber 
hinterher. Beide passen in der Regel zusammen : beide sehen schäbig 



— 231 — 

aus, sind voll der Tücke und haben eine schöne Stimme. Als 
letztes Beförderungsmittel, das aber neueren Datums ist, sind vor 
allem die Rickschas nicht zu vergessen. Wer sich das erste Mal 
da auf einem menschenbespannten Gefährte sieht, dem dauert der 
arme Kerl in der Deichsel und sein Dienst will ihm fast sklavisch 
dünken. Wenn er aber später Augenzeuge ist, wie sich zwei 
Rickschazieher um den Besitz eines Insassen fast die Köpfe blutig 
schlagen, kommt er zur Erkenntnis, daß es auf der ganzen Welt 
keinen Esel gibt, der so gerne am Karren geht, wie der chinesische 
Kuli in seinem Wägelchen, und er steigt womöglich hinauf, nur um 
dem armen Teufel Gelegenheit zu geben, sich einige Cents zu 
verdienen. Ja, und Mancher muß fast, will er nicht grob werden, 
nolens volens aufsteigen, wenn ihm der Wagen unter die Füße 
geschoben wird. „Likscha ju meju" radebrecht dabei der Chinese 
aus lauter Zuvorkommenheit, um dem Ausländer nicht nur sein 
Wägelchen sitz- sondern auch das Chinesisch mundgerecht zu machen. 
(Anmerkung. Er müßte Rickscha jao pu jao sagen d. h. Wünschen 
Sie eine Rickscha? „Aber das ist eben chinesisch, das nicht jeder 
versteht. Rickscha ju meju hingegen versteht jeder ; es heißt aber: 
Haben Sie ein Rickscha ? u ) 

In Peking kann man auch die Beobachtung machen, daß die 
Chinesen mit ihren Rickschas voran kommen wenn die Wege noch 
so schlecht sind. Allerdings sind zwei Mann erforderlich, ein Zieher 
und ein Schieber, doch an Leuten ist in China ja immer Überfluß. 
Der Schieber schiebt nicht nur, sondern er hat auch die Sprünge 
des Rickscha zu neutralisiren und womöglich ein Rad durch die 
Luft zu führen, falls der Untergrund zu tief ist. 

Sich in Sänften tragen zu lassen ist mit Ausnahme von Hoch- 
zeitsfeierlichkeiten nichts für gewöhnliche Sterbliche; dazu gehört 
Diplomatenwürde oder kaiserliches Geblüt oder eine höhere Anstel- 
lung in kaiserlichen Diensten. Deshalb bieten sich auch nirgends 
Sänftenträger an ; wer aber selber keine besitzt und dennoch Recht 
und Lust hat sich darin tragen zu lassen, kann sich eine in Ge- 
schäften mieten. 

Seit den Wirren sollen sich die Karren- und Rickschabesitzer 
in Peking fast um die Hälfte vermehrt haben. Während der Boxer- 
periode wurden fast alle Karren beschlagnahmt, viele dienten als 
Barrikaden oder wurden verbrannt. Die jetzigen Karrenbesitzer 
sollen vielfach alte Boxer sein. Während beim Einrücken der frem- 
den Truppen die ehrenwerten Bürger meistens Reißaus nahmen, 
warfen die Boxer ihre Fahnen und roten Lappen ins Feuer, zogen 



— 232 — 

wieder die Kleider unbescholtener Kulis an, setzten ein lammfrom- 
mes Gesicht auf und suchten dann nebenbei ihr schäfchen ins 
Trockene zu bringen. Das soll Manchem meisterhaft gelungen sein, 
und von seinen Eroberungen soll er sich dann einen Karren ange- 
schafft haben und ein Tier dazu, um als ehrenhafter Fuhrmann 
fortan ein solides Leben zu führen, resp. bessere Zeiten abzuwarten, 
um womöglich als Boxer von Neuem sein Glück gegen die fremden 
Teufel zu versuchen : jedenfalls täte er das lieber als sie jetzt im 
Karren führen oder ziehen. 



«»» »* » » » 




Die Eunuchen am Kaiserhofe. 

pe Eunuchen sind in ganz China unter dem Namen ^ ^f 
J lao kung bekannt, was wörtlich „altes Haus" bedeutet. 
, - mM Sie selber wollen aber nicht so tituliert sein, sondern haben 
pftl\S% ° 8 Heber, wenn man sie -fc JJi t'e tjen „großer Aufseher" 
nennt. Und das Zeichen für kuny (^: Haus) haben sie in ein 
anderes hing (550 verwandelt, das „Herzog" bedeutet. Allerdings 
hört sich „alter Herzog" weit ehrenvoller an als „altes Haus", zu- 
mal das kung f£ Haus die Genesis der Eunuchen in Erinnerung 
bringt, die keineswegs eine rühmliche ist 

Es war zur Zeit der Tchou-Dynastie (1122 — 255), als in China 
die Eunuchen zuerst auf der Bildfläche erschienen. Ihre Genossen 
waren Leute, die entweder keine Nase hatten, oder denen die Füße 
fehlten oder die mit einem Brandmal auf der Stirn gezeichnet ein- 
hergingen. Die ganze Gesellschaft bestand nur aus Sträflingen und 
auch sie selber waren zur Strafe verschnitten worden. 1 ) Wer zuerst 
auf den Gedanken gekommen, derartiges Gesindel in den Dienst 
des Kaisers zu nehmen, sagt die Geschichte nicht. Jedenfalls bildet 
die Tatsache ein furchtbares Armutszeugnis und spricht von Mangel 
an Zucht und Ordnung im eigenen Hause. 

Aber die „alten Häuser" haben sich zu halten, ja unentbehr- 
lich zu machen gewußt. Sie verstanden es sogar, ihre Stellung bald 
mehr bald weniger zu einer machthabenden zu gestalten und ihren 
Intriguen sind viele Unschuldige zum Opfer gefallen. Überhaupt 

') Der Strafkodex damaliger Zeit zählt fünf verschiedene Strafen auf: § 
nie: ein schwarze» Zeichen auf die Stirue brennen; f||J /': die Nase verstümmeln; 
^f$ f e, ' : d' e Fuße abschneiden; § 1-tnuj: Kastration und endlich ^ fä da pi: 
die Todesstrafe. 



- 233 — 

scheint es, als seien bei den Kastraten die Untugenden der Frau 
auf den Mann gepfropft und deshalb auch kräftiger entwickelt. 
Bisweilen standen sie derart auf der Höhe, daß sie auch in Re- 
gierungsangelegenheiten ein Wort mitsprechen durften, und daß 
sie die vertrautesten Ratgeber der kaiserlichen Majestät waren. Des- 
halb scheiterten auch bisheran alle Versuche die Eunuchen vom Kai- 
Herhof zu entfernen. Wenngleich ihre Stellung heutzutage wohl weni- 
ger einflußreich ist, als in früheren Zeiten, so bilden sie dennoch eine 
recht gefürchtete Macht. Es läßt sich das übrigens auch gar nicht 
anders erwarten; immer in nächster Nähe der höchsten Gewalten 
sind sie sicherlich nicht nur stumme Diener, und ein rechtes Wort 
zur rechten Zeit kann dann weitgehende Wirkungen ausüben. 

Es ist deshalb auch jetzt noch gebräuchlich, in wichtigen 
Prozessen, wenn niemand mehr helfen kann, die Eunuchen um ihre 
Intervention anzugehen. Wenn sie dieselbe versprechen, lassen sie 
sich natürlich auch gründlich bezahlen. Das sind dann Neben-Ein- 
nahmen, die häufig genug weit größer sind als die Einnahmen von 
rechtswegen. Viele können sich recht artige Summen auf die Seite 
legen, die dann nach ihrem Tode meistens den Verwandten zu gute 
kommen. Aber auch für wohltätige Zwecke haben manche eine 
milde Hand und es wird ihnen sogar recht viel Almosengeben 
nachgerühmt. Einige haben es im Gutestun und in der „Heiligkeit" 
so weit gebracht, daß sie unter die Zahl der Götter versetzt wurden, 
und in manchen Pagoden kann man vor ihrem Bilde Weihrauch 
brennen sehen. 

Die meisten Eunuchen rekrutieren sich aus der Provinz Tschili. 
Es gilt als Behauptung der Geomanten, daß der Fung-schui (JR pfC) 
«lieser Provinz 3000 Verschnittene hervorzubringen berufen sei. Es 
dürften sich aber gegenwärtig überhaupt kaum 2000 im Dienste 
befinden. Eltern, die mehrere männliche Sprossen haben, verschen- 
ken gerne den einen oder andern Knaben an den Kaiserhof. Not- 
wendig ist nur, daß der Junge ein gelehriges Aussehen hat und 
gut gewachsen ist. Der „ Onkel in der Fremde u kann dann später 
die Familie kräftig unterstützen und von seinem Ansehen können 
die Verwandten auch nur profitieren. Der Kleine muß zuerst einige 
Monate in die Schule; dort wird er auf seinen Verstand geprüft, 
denn um Bedienter am kaiserlichen Hof zu werden, muß der Be- 
ireffende auch die nötige Grütze im Kopfe haben, damit er seinem 
Herrn dessen wortlose Wünsche an den Augen ablesen kann. Zeigt 
sich, daß der Junge Talent besitzt, so schickt ihn sein Lehrer eines 
guten Tages in das $f Jffl pj f*f f^ sehen ying sä ya wen, wo seiner 



— 234 — 

Mannheit der Garaus gemacht wird. Der ausführende Beamte heißt 
Ji 5E E iao M zian: Handwerker vom Messer. Jetzt kann der 
Eunuchen-Novize in die Reihen seiner älteren Genossen eintreten. 
Aber gewöhnlich muß er noch jahrelang lernen, ehe er eine defi- 
nitive Anstellung eihält. 

Der ganze Betrieb ist genau geregelt, und ein eigenes Beam- 
tentum sorgt dafür, daß Alles klappt, besonders auch dafür, daß 
die Eunuchen unter sich stets in Frieden und Eintracht leben. Sind 
Streitigkeiten ausgebrochen, so hat das Amt zu entscheiden, auf 
wessen Seite das Recht ist. Hat sich jemand etwas zu schulden 
kommen lassen, so wird er bestraft und es stehen dafür Bambus 
und Kerker zur Verfügung, grade wie bei einem gewöhnlichen 
Reichsburger. Sollte ein Eunuch davon laufen, so wird er meistens 
wieder eingefangen und seine Bestrafung wird um so empfindlicher 
geahndet, je öfter er dem Drange nach der goldneu Freiheit nach- 
gegeben und Reißaus genommen hat. 

Aber nicht nur Kinder werden aufgenommen, sondern auch 
bejahrte Männer erhalten oft noch Eintritt in die Verbotene Stadt, 
wo sie dann als Eunuchen-Kuli beschäftigt werden. Mancher Bettler, 
der sein Leben nicht mehr zu fristen weiß, nimmt zu diesem letzten 
Existenz-Mittel seine Zuflucht. Er sucht die ffc^f*} tung chua wen auf, 
das östliche Tor zur Verbotenen Stadt, kastriert sich selber (oder bringt 
sich wenigstens eine Wunde bei) und erhebt ein Jammergeschrei, wor- 
auf dem Torwächter Xachricht gegeben wird. Dieser meldet den Fall 
dem Eunuchen-Tribunal ; der Arme wird hineingeholt und verpflegt, 
und wenn er wieder hergestellt ist, darf er Wasser tragen oder son- 
stige Arbeiten verrichten, zu denen nur die rohe Kraft erforderlich ist. 

Es gibt noch eine andere Klasse Menschen, die den Eunuchen- 
stand wählen: solche, die sich an einem Feinde rächen wollen. Es 
sind das Individuen, die bereits alles vergeblich versucht haben 
ihren Gegner zu vernichten. In den Mauern der Verbotenen Stadt 
hoffen sie einen Freund zu finden, der bei der höchsten Instanz 
noch ein gutes Wort einlegen kann, und das wird genügen, das 
schreiendste Unrecht zur Gerechtigkeitssache zu stempeln. 

Aufgabe der Eunuchen am kaiserlichen Hofe ist es „Mädchen 
für Alles" zu sein. Wer besondere Neigung hat, die Götter zu ver- 
ehren, und sich zu etwas Höherem berufen glaubt, versieht den Lama- 
dienst. Wer leichter angelegt ist, findet als Theaterspieler amüsante 
Beschäftigung, und falls er seine Rolle gut spielt, wird er doppelt be- 
zahlt. An freier Zeit fehlt es nie ; doch die wird treulich ausgenützt mit 
Opiumrauchen, Kartenspielen oder Abrichten eines niedlichen Köters. 



— 235 — 

Mit der Außenwelt sollen die Eunuchen eigentlich wenig 
Umgang pflegen ; da sie aber die Einkäufe besorgen für den kaiser- 
lichen Haushalt u. dgl., so kommen sie oft genug damit in Berühr- 
ung. Man munkelt sogar von Fällen, so sich ein Prinz durch 
Vermittlung seiner Eunuchen eine Geliebte von außen hereinzu- 
schmuggeln wußte, ohne daß jemand eine Ahnung davon gehabt 
hätte. Jeder der längere Zeit in China geweilt hat, wird schon die 
„Geschenketrommel" gesehen haben. Die aufeinandergeschachtelten 
fünf Abteilungen haben je einen eigenen Boden; wenn aber die 
Böden herausgeschlagen sind, so ist die Trommel groß genug, daß 
so ein Menschenkind sich darin verstecken kann. Wenn dann die 
Träger ehrsam mit rotem Hute bedeckt daherschreiten, so wird 
jeder glauben, man wolle Geschenke bringen oder gemachte 
Einkäufe, und die Träger kommen dann unbelästigt überall 
durch. — 

Vierzig Li von Peking entfernt liegt in den Bergen das Sans- 
souci der Eunuchen. Ist einer alt und dienstunfähig geworden, so 
wird er dortin geschickt um seine Tage in Ruhe zu beschließen. 
Befällt aber einen eine plötzliche Krankheit, die gefährlich erscheint, 
so muß er allsogleich aus der Verbotenen Stadt entfernt werden, 
denn es würde Unheil bringen, wenn dort ein gewöhnlicher Sterb- 
licher verschiede. Die Schar der Ausrangierten führt ein rechtes 
Einsiedlerleben, läßt sich's aber wohl sein. Manche, die von ihren 
Verwandten nicht beständig angepumpt wurden, haben sich ein 
kleines Vermögen erspart und können es jetzt in Ruhe verzehren. 
Mancher hat Pagoden auf eigene Kosten erbaut. Mancher, der 
während seines Lebens Schuld genug auf sein Haupt geladen, will 
sie vor dem Tode noch sühnen und verbrennt deshalb fleißig 
Weihrauch und dreht die Gebetmühle. 

In der Nähe dieser Pflegestätte für alte und kranke Eunu- 
chen befindet sich auch ihr Begräbnisplatz. Einmal Eunuch ge- 
worden, werden sie als aus der Familie geschieden betrachtet und 
nach ihrem Tode ist Niemand, der sie beweint oder Ahnenopfer 
für sie bringt. 





— 23C — 

Pekinger Mohren 
und Wohltätigkeitseinrichtungen. 

lim Staube seines Angesichtes muß der Sterbliche in Peking 

I! sein Brod verdienen und davon ist auch der „große Mann* 
| nicht ausgeschlossen, selbst wenn er sich fahren läßt oder in 
5 der Sänfte sitzend, dem erhitzten Gesichte Kühlung zufächelt. 
Wenn sich dann noch gar die Schweißporen öffnen und über das 
verstaubte Gesicht die Bächlein rieseln, ist der Mohr vollends fertig. 
Solche Mohren aber gibt es in Peking die Menge; da sind vor 
Allen die Köhler zu nennen, welche Tag für Tag damit beschäftigt 
sind, die steinharten Kohlen aus den Pekinger Bergwerken klein 
zu klopfen, mit Lehm zu untermischen und daraus eidicke Kugeln 
zu formen. Dieselben werden an der Sonne getrocknet und kom- 
men dann in den Handel. Die unvermischte Kohle brennt nur 
sehr schlecht oder es brennt nur die äußere Umhüllung, während 
das Innere vom Feuer unberührt bleibt. Aufgabe der Kamele ist es 
das schwarze Erdprodukt in Säcken aus den Bergen zu holen. 
Treiber und Tiere sehen gemeiniglich aus als entstammen sie dem 
Innern Afrikas. 

Ein mohrenartiges Aussehen haben auch die Straßenverbes- 
serer und Karrenschieber, welche beständig mit dem Staube in Berüh- 
rung kommen, sich aber höchst selten den Luxus einer Waschung 
gestatten. Wohl ist für gewöhnlich in Peking kein Wassermangel, 
ja es gibt sogar öffentliche Badeanstalten, wo man für wenige Sa- 
peken ein warmes Bad nehmen kann, aber mancher wäscht sich 
nicht, „weil es doch umsonst ist*. Der nächste Augenblick führt 
ihm wieder eine Menge Staub zu, welcher sich auf der schweiß- 
fettigen Haut sofort ablagert. Daß man für so wenig Geld ein 
Warmbad nehmen kann, hat darin seinen Grund, weil das Wasser 
nicht nach jedesmaligem Gebrauche gewechselt wird, sondern erst 
dann, wenn einer, „der sich's leisten kann*, ein Frischbad nehmen 
will. Ein solcher bekommt reines Wasser, das er natürlich dement- 
sprechend teurer bezahlen muß. Für das ganz gewöhnliche Volk 
sind Badeanstalten eingerichtet, die jedesmal ein halb Dutzend Gäste 
fassen können oder noch mehr; in diesen wird das Wasser meistens 
nur ein oder zweimal im Tage gewechselt. 

Sich in einem warmen Bade bisweilen waschen können, be- 
deutet in Peking schon ein wahres Bedürfnis. Es gibt fromme Per- 
sonen, die für kurze oder längere Zeit, gemäß dem Grade ihrer 



_ 237 — 

„ Gottseligkeit u Gelegenheit bieten, unentgeltlich die Wohltat einer 
gründlichen Ganzwaschung mit warmem Wasser zu gonießem. Im 
Sommer wird stellenweise dem durstigen Wanderer umsonst Tee 
gereicht. An dunklen Winterabenden zündet man auf den Haupt- 
straßen ein Licht an : alles das geschieht in der Absicht um Gutes 
zu tun, um sich den Namen eines ching-schen-ti, eines „ Heiligen u 
zu verdienen. 

Es fehlt übrigens auch nicht an Wohltätigkeitseinrichtungen 
in größerem Stile. Dazu gehört vor allem eine Art Garküchen, 
welche zeitweilig eingerichtet werden und wo jeder Bettler am Mit- 
tage eine Portion gekochten Reis bekommt. Haufenweise drängen 
sich die zerlumpten, halbnackten und verhungerten Gestalten an die 
Maueröffnung wo der Reis verabreicht wird. Der eine hält eine 
alte Scherbe in der Hand, und bekommt seinen Teil hineingeschüttet. 
Ein anderer nimmt seinen Hut und benutzt ihn als Eßgeschirr ; ein 
dritter zieht gar seinen Schuh aus, und auch darin wird das Essen 
verabreicht. Es ist ein Bild des krassensten Elendes, das uns vor 
die Augen tritt; da sieht man so recht wie Hunger und Not den 
Menschen herabwürdigen und erniedrigen kann, daß er sich benimmt 
wie das unvernünftige Vieh. 

Für altersschwache obdachlose Greise und für elternlose Kin- 
der gibt es auch Wohlfahrtseinrichtungen, die von rechtswegen 
aus der kaiserlichen Kasse Zuschuß erhalten. Das meiste Geld 
bleibt natürlich in den Händen der habsüchtigen und gewissenlosen 
Beamten hängen. Sehen wir uns derlei Einrichtungen etwas genauer 
an, kann uns das Ganze wenig befriedigen. Es ist als ob über Alles 
der Hauch der Unordnung ausgebreitet sei, und auch in den Werken 
der Liebe und Barmherzigkeit fühlen wir noch die eisige Kälte 
des Heidentums. Der Beamte gibt, weil er eben geben muß ; er gibt 
um selber Geld zu bekommen ; der Arme empfängt ohne Dank und 
betrachtet die Gabe als sein Eigentum. Zudem weiß er, daß sie 
ihm noch verschmälert wird, und wenn auch seine Miene Zufrieden- 
heit heuchelt, ist das Herz doch mit Haß erfüllt. 

Als eine Wohlfahrtseinrichtung besonderer Art ist die Pekinger 
Feuerwehr zu nennen. Die Chinesen sind, was die Behandlung mit 
Feuer angeht, oft wahre Kinder, nur mit dem Unterschiede, daß 
ihnen das Glück gewogener ist und sie meistens ohne Gefahr mit 
dem Feuer spielen können. Wie ist es nur möglich, habe ich mich 
bisweilen gefragt, wenn ich die Leute mit Petroleumlampen hantie- 
ren sah, daß nicht mehr Unglücke vorkommen: Tjin-schin-men-hu ; 
sio sin töng huo: „Nimm Acht auf Fenster und Feuer" schreibt 



— 238 — 

der Chinese» zu Neujahr allerdings über seinen Kochherd oder an 
die Papierlaterne, aber die theoretische Lehre nimmt er wenig 
praktisch zu Herzen. Wenn's aber einmal brennt, muß gesehen 
werden, wie das Feuer gelöscht wird. Nachbaren und Dorfschul- 
zen laufen wohl in hellen Scharen zur Feuerstätte; auch wird viel 
geschrien und gestikuliert, aber anfassen und löschen ist eine 
andere Sache. 

In größeren Städten nun, z. B. in Peking, haben sich beson- 
dere Innungen gebildet, eine Art Feuerwehr: schui-huo-hui genannt: 
Wasser- Feuer-Gesellschaft u . Was ihre Betriebsfähigkeit angeht, 
hatte ich einmal Gelegenheit, selbige in nächster Nähe zu beobach- 
ten. Ich teile mit, was ich darüber in meinem Notizbuche unter 
dem 3. Juni verzeichnet finde. 

Die Chinesen in Peking scheinen für Abwechslung sorgen zu 
wollen, indem sie in die Alltäglichkeit des Lebens etwas Feuer 
legen. Während gestern bei den Deutschen in der Büchsen macherei 
auf unerklärliche Weise Feuer ausbrach und schnell um sich griff, 
loderten heute im Viertel der österreichischen Gesandtschaft mäch- 
tige Flammengarben zum Himmel. Woher das Feuer gekommen, 
ist jedermann ein Rätsel, da es jedesmal an einer Stelle ausbrach, 
wo es fast ausgeschlossen scheint, daß dasselbe durch Unvorsichtig- 
keit entstanden sein konnte. Die Zeit des Großfeuer ist just günstig. 
Das Wasser wird mit jedem Tage rarer und alles knarrt vor 
lauter Dürre. 

Gerade zu drollig und lächerlich ist es, wie die chinesische 
Feuerwehr eingreift. Zunächst dauert es einige Stunden bis alle 
Fahnen und Fähnchen, alles Klapper- und Klingelzeug und der ganze 
Klimbim zusammengebracht ist, der natürlich die Hauptsache beim 
Löschen bildet. Wenn dann endlich der „große Mann" erscheint 
mit rotem Knopf, muß er eskortiert werden von einer Schar minder 
großer Männer mit weißen, blauen und goldenen Knöpfen und zur 
Wehr schreiten einige Dutzend Soldaten mit gezückten Schwertern 
einher. Dann kommt die ganze Reihe Fahnenträger; man sollte 
schier glauben, es sei eine Prozession im Anzüge. Endlich zu guter- 
letzt erscheinen die Eimer und Spritzen und die Wasserträger. Die 
Folge dieser Feierlichkeiten ist, daß die verehrten Feuermänner 
immer zu spät kommen; entweder ist nichts mehr zu löschen oder 
das Feuer hat dermaßen um sich gegriffen, daß es trotz aller Ei- 
mer und Fahnen und Amtsmienen der großen Männer doch nicht 
mehr zu löschen ist. Freilich wird geschrien und gelärmt, was das 
Zeug nur hält, zugreifen mag natürlich Niemand. 



— 239 — 

Die Chinesen verstehen es meisterhaft den roten Hahn aufs 
Dach zu setzen, ohne daß auch nur jemand eine Ahnung davon hat. 
Mit Hülfe ihrer Glühstengel, die sie gewöhnlich mit Pulver in Ver- 
bindung bringen, können sie es so einrichten, daß der Brand erst 
stundenlang nachher zum Ausbruch kommt, gerade dann, wenn 
ihnen der geeignete Moment dafür zu sein scheint, und der Brand- 
stifter weiß Gott wohin sich verkrochen hat, oder vielleicht als harm- 
loser Kuli seine Arbeit tut. Wenn dann die Feuersignale ertönen, 
springt auch er mit heran und hilft löschen und sagt es sei „Tien- 
chao u „vom Himmel gefallenes Feuer" zur Strafe für die Europäer. 

Was die Entstehung der Feuerwehr-Innungen angeht, so wer- 
den dieselben gewöhnlich von einer Anzahl reicher Kaufmannsfir- 
men oder wohlhabenden Bürgern ins Leben gerufen. Zunächst 
müssen die nötigen Löschapparate angeschafft werden, als da sind 
Spritzen (nach Art unserer europäischen Brandspritzen aber viel 
roher construiert), Eimer (aus Bambusgeflecht mit Ölpapier verdichtet), 
Fahnen und dergleichen. Die Mannschaften recrutieren sich aus 
arbeitslosen Kuli, deren Beschäftigung es nunmehr ist, sich auf die 
faule Haut zu legen, und abzuwarten, wenn Alarm geschlagen wird. 
Da heißt es, sich schnell auf die Beine machen und zu den Fahnen 
greifen. Wasser und Spritzen kommen hinterher. Von Einüben 
der Feuerwehr ist keine Rede; der Gunst des Augenblickes und 
dem persönlichen Eingreifen wird das Gelingen der Arbeit überlassen. 
Auch benutzt man keine Feuerleitern und setzt sein Leben nicht 
durch waghalsiges Klettern aufs Spiel. Der Chinese baut einstöckig, 
was für die Löscharbeit von besonderem Vorteil ist. Die Besol- 
dung der Feuerwehr beträgt pro Tag ungefähr 15 — 20 Pf. auf den 
Mann, deshalb muß sich mancher nach Nebenverdienst umsehen. 
Eigentlich ist das aber verboten, weil jedermann sofort zur Stelle 
sein muß, wenn die Feuertrompete ertönt. Eine Innung besteht 
meistens aus 100 — 200 Mann unter Leitung eines Anführers, der 
den Titel eines Klein-Mandarins trägt. Gelegentlich ziert ihn 
auch eine Pfauenfeder oder ein sonstiges Abzeichen als Belohnung 
für besonderen Eifer, den er bei seinen Löscharbeiten entwickelt 
hat. Handelt es sich darum, die eigene Habe zu retten, wird na- 
türlich kräftiger zugegriffen als wenn es sonst wo brennt oder gar 
erst bei den Ausländern, da würde man wohl am liebsten mit Pe- 
troleum löschen. 




— 240 — 

Etwas über chinesische Nasen und 
den Pekinger Schnupftabak und Staub. 

lekanntlich ist die Chinesennase von der Natur etwas stief- 
mütterlich bedient worden und dennoch soll sie beim Men- 
, r . sehen kinde von allen Sinnen zuerst ins dasein treten. Das 

^% Zeichen für Nase heißt denn auch in übertragener Bedeu- 
tung so viel als der Erste. Eine Nase vor den Großvater gestellt 
heißt Urgroßvater. 

Bei Erfindung der Wurzelschriftzeichen ist die Nase allerdings 
ziemlich ans Ende gekommen und in Folge dessen recht compliziert 
geworden. Und das Zeichen für Niesen hat gar 19 Striche und 
heißt ti dieweil im Reiche der Mitte ahti geprustet wird. Es 
geschieht das mit einer Vehemenz, die für den nervösen Neben- 
menschen eine starke Erschütterung zur Folge hat. Ein Prosit 
wird nicht gesagt, aber die Chinesen behaupten, daß in der Ferne 
über ihn gesprochen wird, wenn er niesen muß. 

Als künstlicher Nasenkitzel kommen mehrere Sorten Tabak 
in den Handel, von denen eine als Medizin gebraucht wird. Gegen 
Augen- und Zahnweh, gegen Halsbeschwerden, Asthma und Verstop- 
fung soll sie besonders wohltätige Wirkung äußern. Dieselbe wird 
in tiefgrünen kleinen Fläschchen verkauft und im Süden Chinas 
hergestellt. Die Farbe ist hochrot; wer ein Löfielchen davon in 
die Nase zieht, glaubt schier, er solle das „Innere der Seele" aus- 
prusten ; das Niesen will gar kein Ende nehmen. In dem Fläschchen 
ist ein kleines knöchernes Löffelchen beigegeben, welches im Korke 
steckt und das zu nehmende Maß bestimmen soll. Eine europäische 
Nase kann sich ruhig mit 1 / 4 Löffelchen begnügen; der Effekt 
wird darum nicht minder stark sein, d. h. der Nieseffekt, denn auf 
Heilung von Schmerzen habe ich wenigstens immer vergeblich gehofft. 

In Peking wird ein Schnupftabak hergestellt von solider Na- 
tur; derselbe bezweckt vor allem die Nase gegen anderweitige 
„Wohlgerüche* zu schützen wie sie auf den Straßen der kaiser- 
lichen Metropole bei Tag und Nacht emporsteigen. Das war von 
jeher eine Eigentümlichkeit Pekings und so lange es besteht, war 
die Nase immer die bedauernswerte. Als im Jahre 1643 die Dyna- 
stie der Mandschu das Regiment an sich gezogen, konnten sich die 
kaiserlichen Nasen nur schwerlich an den Chinesengeruch gewöhnen 
und man sann auf ein Mittel, denselben ein wenig zu neutralisieren. 
Das Mittel wurde in einer Prise Tabak gefunden und seit der 



— 241 — 

Zeit ist die Herstellung desselben ein besonderes Vorrecht Pekings 
geblieben. Die Gewohnheit des Schnupfens allerdings ging allmäh- 
lich auch in andere Provinzen des Reiches über, wenn auch in 
beschränkten Maße. Nichts desto weniger sollen alljährlich für viele 
Tausende Taels Schnupftabak nach dem Süden verkauft werden. 

Was die Herstellung desselben betrifft, so werden mit Vorliebe 
Blätter des Yenfu Tabaks aus der Provinz Schantung dafür benutzt, 
dessen eigentümliches Aroma ganz besonders zusagt. Nachdem die 
Blätter sorgfältig von den Stengeln gereinigt sind, kommen sie auf 
eine Mühle und werden dort zu Staub zerrieben. Der Staub wird 
durch verschiedene Siebe gesichtet, bis er die Feinheit von gebeu- 
teltem Weizenmehl hat. Bei dieser Beschäftigung müssen sich die 
Arbeiter beständig Nase und Mund verbinden, da die Luft mit 
kleinen Tabaksteilchen geschwängert ist, welche fortwährend zum 
Niesen reizen. Dem Tabakstaube werden dann die Wohlgeruchs- 
essenzen zugesetzt. Worin dieselben bestehn, ist ein Geheimnis, 
und deshalb ist auch von jeher die Herstellung des Schnupftabaks 
ausschließliches Vorrecht der Kaiserstadt geblieben, gerade wie 
echtes Teau de Cologne nur aus Köln kommt. Die Tabaksdosen 
ähneln gar wenig unsern europäischen; sie haben das Aussehen 
von Salbendöschen und sind aus Blech, Zinn oder Silber hergestellt. 
Nur in Peking ist es Sitte seinen Bekannten eine Prise anzubie- 
ten; anderswo im chinesischen Reiche reicht man Freund oder 
Fremdling die Pfeife zum Gruße. 

Noch freigebiger als die Bürger Pekings teilen die Straßen 
der „Meisterstadt" beständig Prisen aus in Gestalt des weltbe- 
kannten Pekinger Staubes; und der dringt nicht nur. in die Nase 
ein, sondern überallhin, wo er eine Öffnung findet. An seiner 
Zubereitung haben Jahrhunderte gearbeitet, seine Zusammensetzung 
aber ist erst recht ein Geheimnis. Wollte ihn der Chemiker in die 
einzelnen Bestandteile zerlegen, ich glaube schier die ganze Leiter 
der verschiedenen Elemente würde dabei vertreten sein. 

Was macht jener Staubbrödel dort abseits der Straße? Er 
scheint in der Tat chemische Untersuchungen anzustellen. Unver- 
drossen läßt er in einem wannenartigen Geflechte aus Weidenruten 
den Staub von einer Seite zur andern gleiten, bis nur mehr schwere 
Teilchen vorhanden sind. Arbeitete der Mann im Sande am Fluß, 
würde man glauben, er sei auf der Goldsuche. Im Pekinger Staube 
sucht er zwar kein Gold, aber er sucht anderes Material darin, Eisen 
Kupfer und — Silber. Letzteres zu finden ist allerdings eine große 
Seltenheit, aber Eisen findet er darin um so reichlicher; dasselbe 

R. Fiep er, „Neue Bündel 44 . 16 



— 242 — 

rührt meisten» von den Karren her, welche durch da« beständige 
Rütteln und Stolpern auf den holperigen Straßen hald hier bald 
dort einen Xagel verlieren, der dann im Staube verschwindet, bis 
ihn die findige Hand des Suchers wieder ans Tageslicht fordert. 
Es sollen sich auf diese Weise mehrere Dutzend Arbeiter beschäftigen 
und ernähren, indem sie bald auf dieser bald auf jener Straße den 
Staub ausstöbern und das gefundene Metall dann bei einem Kramer 
verkaufen. Raben, Hunde und Schweine sind auch auf bestandiger 
Suche im Pekinger Staube und er kommt nicht eher zur Ruhe, 
bis ihn ein Windeshauch mit sich führt, weit hinweg über die alte 
Mauer wo er auf Acker und Gärten sich lagert, und dort seinen 
öconomischen Wert der Saat und dem Gemüse zu Gute kommen läßt. 



Theaterspiel. 




o etwas wie Theaterbrände gibt es in China nicht und des- 
halb darf uns der freundliche Leser auch ruhig ins Theater 
begleiten ohne dabei sein Leben zu riskieren. Wohl haben 
die Chinesen schon Theater gespielt als die alten Germa- 
nen noch mit den Bären spielten. Aber wie so manches Andere, 
ist auch das Theater von jeher in den Kinderschuhen stecken ge- 
blieben und hat auch heute noch keine weitere Bedeutung, als daß 
es ein Belustigungsmitte! für große Kinder bildet. Selbst die Theater 
in den Großstädten sind nicht viel anderes als „Kasperle* im größe- 
rem Stile. 

In einer Kaiserstadt wie Peking nun darf es natürlich nicht 
an Abwechslung fehlen. Freilich gibt es keine Volksbelustigungen, 
wie sie in abendländischen Ländern geboten werden; aber sich 
etwas amüsieren und lustig sein, will doch auch zeitweise der schmut- 
zige Kuli und der Rickschazieher ; im Theater ist dazu Gelegenheit 
geboten. Das Entree ist leicht bezahlt, denn es kostet nicht viel. 
Will aber ein Ausländer der Aufführung beiwohnen, muß er einen 
Dollar zahlen, wofür ihm dann ein „Logensitz* angeboten wird. 
Eine wjckelige Treppe führt hinauf, und will man sich am Geländer 
festhalten, fühlt man, daß es mitwackelt. Zum Glück ist die Empore 
nicht allzuhoch und falls es ein Krach geben sollte, würde man 
auf die Baumwollenrücken der im Parterre dicht gedrängten Menge 
nicht allzu unsanft niederfallen. Wie es wogt, summt und brummt, und 
welche Luft uns erst aus diesem Menschengewühle entgegenströmt! 



24:* — 



Fast jedermann raucht und wer einen Augenblick damit aufhört 
tut es nur, um Tee zu trinken oder einen Imbiß zu nehmen. Aller- 
hand wird da geboten: kuhwarme butterlinde Reisplättchen, knus- 
perige Melonenkerne, goldene Apfelsienen, verzuckerte Wallnußkerne, 




Auf der Theaterbühne. 



und was sonst die Jahreszeit bringt. Wer seine eigene Pfeife 
vergessen hat, braucht nur dem Kellner zu winken, der all- 
sogleich herbeieilt und ihm ein langes Rohr in den Mund schiebt. 
Bequemeres läßt sich gar nicht denken ; denn Stopfen und Anzünden 
besorgt der dienstbeflissene Kellner. Ist die Pfeife ausgeraucht, 
wird ein Käsch bezahlt und das Rohr wandert zum Munde eines 



— 245 — 

gesehen, wie es die Schauspieler in Peking konnten. Die Be- 
wegungen sind geradezu affenhurtig und katzengeschmeidig. Von 
einer Höhe springen, dreimal Kopfüberschlägen und dann wieder 
auf den Füßen stehen, gilt durchaus nicht als Musterleistung. Beim 
„ Vermöbeln u kommt es darauf an, wer am geschicktesten und längsten 
seinem Gegenpart die Stange halten kann. Zum Glücke sind alle 
Waffen, die dabei in Anwendung kommen aus Holz, das mit Gold- 
oder Silberpapier verklebt ist. 

Auf einer größeren Bühne sind im Durchschnitt mehr als 
hundert Mann beschäftigt. Theatergebäude und Garderrobe gehören 
meistens einem Privatunternehmer an, dem die Bande gut Zinsen 
zahlen muß. In früheren Zeiten bestanden die Kostüme aus bunten 
Seidenstoffe; heutzutage gebraucht man vielfach geblümtes Kattun 
(jang-bu), das sich in der Ferne nicht minder hübsch ausnimmt, 
aber bedeutend billiger im Werte ist. Den Zuwachs der Truppe 
liefern junge Buben ; dieselben müssen ein frisches Aussehen haben, 
in ihren Bewegungen behende sein und über ein gutes Gedächtnis 
verfügen. Bei schlechter Saison werden die Lehrlinge morgens in 
aller Frühe draußen vor die Stadt geführt, damit sie im Freien bei 
frischer Luft ihre Stimmorgane üben; denn ein echter chinesischer 
Schauspieler muß drei Tage lang in den höchsten Tönen kreischen 
können, ohne daß er heißer wird. Kinder aus besseren Familien 
werden niemals zu Theaterspielen hergegeben, denn so gerne der 
Chinese dem Theater beiwohnt, so verhaßt sind doch die Spieler 
selber. Es soll das darin seinen Grund haben, weil sie auch die 
Bollen von Frauen geben, überhaupt der Lüge und Verstellung 
dienen ; etwas zu sein vorgeben, was sie in Wirklichkeit nicht sind. 
Eine solche Auslegung spricht ja sehr für das Aufrichtigkeitsgefühl 
der Chinesen; es fehlt aber auch nicht an anderen Auslegungen. 
Während drei Generationen ist es sogar einem Theaterspieler ver- 
boten, an den literarischen Prüfungen teilzunehmen. 

Fürs „Hoftheater" ist uns der Zutritt nicht gestattet. Der 
Kaiser hat nämlich seine eigene Spielerbande, die sich aus Eunu- 
chen zusammensetzt. Plagt den Herrscher oder seine Frauen Lange- 
weile, muß die Truppe antreten; spielt sie gut, d. h. vertreibt sie 
die Langeweile, bekommt sie eine Extia-Belohnung. Außer dem 
Hoftheater dürfen in der Mandschustadt überhaupt keine Vorstel- 
lungen stattfinden. Alle Theater befinden sich in der Chinesenstadt; 
früher zählte man gegen 20, aber zur Zeit der Boxerunruhen gin- 
gen viele zu Grunde. Jetzt gibt es im ganzen nach acht Bühnen, 
die fast täglich geöffnet und auch in der Regel gut besetzt sind. 



— 246 — 

Umherziehende Theatertruppen sorgen für die Belustigung des 
Volkes auf dem Lande. Will man dort spielen, tut man es in der 
Regel unter freiem Himmel auf einer improvisierten Bühne aus 
Bänken und Brettern oder auf einer Esterade, die eigens zum The- 
aterspielen manchen Pagoden gegenüber erbaut ist. Denn das Spielen 
gilt den Chinesen auch als ein religiöser Akt, an dem nicht nur 
die Sterblichen ihr Vergnügen haben, sondern wodurch selbst die 
Götter aufgeheitert werden. Deshalb wird nicht selten ein Gelübde 
gemacht irgend einem Götzen mehrere Tage hindurch Vorstellungen 
geben zu wollen, wenn er in einem besonderen Anliegen zu Hülfe 
eile. Zumal ist das Theatergelöbnis ein beliebtes Mittel zu Erfle- 
hung des Regens bei anhaltender Dürre. Der Götze bekommt den 
Ehrensitz, von wo aus er dem Spiele „bequem zusehen kann." 
Auch bei Gelegenheit von Jahrmärkten werden regelmäßig Theater- 
vorstellungen gegeben. Das zieht viel Volk herbei und kann dem 
Handel auch zum Vorteil sein. 



In den Pagoden Pekings. 

„In Peking gilt der Bonze. 
Außerhalb Peking der Mandarin. k 
(Sprichwort) 

jjenn St. Paulus mit uns die Runde machte durch die 
„Jöjj Kaiserstadt im Reiche der Mitte, könnte er beim Anblick 
W^fjb SfSf ^ der vielen Pagoden, die uns an allen Ecken und Enden 
C^5x>^3 ' n a ^ en möglichen Größen und Formen unter die Augen 
treten, auch zu den Zopfträgern sprechen wie dereinstens zu den 
Athenern: „Ihr Männer, ich sehe, daß ihr in allen Stücken sehr 
die Götter fürchtet." Seine Götter fürchten tut nun der Chinese 
wohl, zumal die Frauen; denn „weder Geistern noch Teufeln ist 
zu trauen, und deshalb hält sie sich — so philosophiert der haus- 
backene Confucius weiter — der Weise weit vom Leibe. u In einer 
Christenstadt sind jedenfalls nicht mehr Kirchen und Kapellen zu 
finden, als es in Peking Kultstätten gibt zu Ehren der Götter, deren 
Zahl eine unendliche ist. Der Chinese operiert gerne in runden 
Zahlen, (Decimalberechnungen kannte er schon seit unvordenklicher 
Zeit); darum kommt es ihm oft beim Zählen auf einige Hundert 
mehr oder weniger nicht an. Wir brauchen ihm daher nicht aufs 
Wort zu glauben, wenn er behauptet, die kaiserliche Metropole 



— 247 — 

umschließe l / 2 Zehntausend (baen uen) Götzentempel. Zwar ist auf 
jeder Straße der Andacht Rechnuug getragen, aber oft sind es 
auch nur Mauernischen in denen ein schwarzberäucherter Götze 
ein Heim gefunden. Sein Aussehen gleicht den Kameraden auf dem 
Lande oder in andern Städten, und tagtäglich haben wir bei Reisen 
Gelegenheit, uns von ihnen anglotzen zu lassen. Aber Peking be- 
sitzt noch eine ganze Reihe Pagoden die ihr eigenes Gepräge haben ; 
einige derselben zu besuchen, sei der Zweck unseres heutigen 
Ausfluges. 

Zunächst befinden sich im Vorhofe des großen Stadttores 
(tsien rnen), welches die Chinesenstadt mit der Tatarenstadt verbin- 
det, rechts und links zwei Pagödchen, klein von Aussehen aber 
wichtig in ihrem Zwecke. Sie dienen nämlich dem kaiserlichen 
Herrscher zur Verrichtung seiner Andacht, wenn er die Stadt ver- 
läßt oder dorthin wieder zurückkehrt. Ein Tempelchen ist der sanften 
Göttin Pussa geweiht, während in der andern der strenge Kriegs- 
gott Kuen-jü Wohnung genommen. Man sieht dem Ganzen an, 
daß die kaiserliche Huld hier freigebig waltet ; die paar Aufseher- 
bonzen sind sauber gekleidet, haben ein feistes Aussehen und wohnen 
in üppig ausstaffierten Zimmern. Überhaupt verdanken wohl die be- 
deutensten Pagoden Pekings ihr Entstehen dem Kaiser oder der 
Gunst seiner Frauen. So z. B. auch die große Lamapagode Yung- 
huo-kung „Das Kloster der friedlichen Behausung", welches in der 
nordöstlichen Ecke der Tatarenstadt liegt. Gelegentlich eines Rund- 
ganges auf der Stadtmauer hatten wir schon einmal Gelegen- 
heit von oben herab einen Überblick auf den Pagoden-Komplex 
zu tun; begnügen wir uns deshalb mit einem kurzen Besuche 
im Innern. 

Wer im Süden der Tatarenstadt einen Rickscha nimmt und dem 
Kuli nach Norden zeigt, merkt dieser sofort wohin es gehen soll. 
Schan lama mio „zum Kloster der Lama" grinst er mit freund- 
licher Miene und auf ein Kopfnicken unserseits macht er sich 
im Galopp auf die Lappen. An der Klosterpforte angelangt, finden 
wir sie offen ; geschlossen ist sie wohl nur während der Nacht, denn 
tagsüber bewegt sich ein fast beständiger Verkehr mit der Außen- 
welt. Kein Tag geht vorüber, an dem nicht einige Dutzend Gäste 
kämen, nicht der Andacht halber, sondern der Neugierde wegen: 
Yung-huo-kung ist ein berühmtes Kloster, hat wenigstens einen 
berühmten Namen und nebst den Ausländern statten ihm auch viele 
Chinesen ihren Besuch ab. Ein „ Klosterbruder u empfängt uns nicht, 
aber wir werden von einem ganzen Rudel Ciceroni umdrängt, die 



— 248 — 

alle mit uns gehen wollen und ehe die Frage entschieden ist, wem 
die Ehre der Begleitung zu teil wird, haben sich schon einige in 
den Haaren d. h. an den Zöpfen. Jeder will etwas erobern ; dies- 
mal erringt der Schwächere den Sieg; wir nehmen einen Jungen mit, 
der wenig Lärm gemacht und sich bescheidener benommen hat als 
seine Kameraden. 

Zunächst fällt uns ein reichverzierter Triumphbogen (pei-louj 
in die Augen, der den Weg zum Kloster überspannt. Fu ien tjin 
scha ist darauf zu lesen: „Überströmende Glückseligkeit, gleich dem 
goldenen Sande. u Eben denken wir über denn Sinn der Schrift 
nach, als schon einige Bonzen herangeschlichen kommen, die uns mit 
freundlichem Kopfnicken begrüßen. Sie wollen uns sofort weiter 
führen, aber wir möchten zuerst gerne hören, von welcher Glück- 
seligkeit die Rede ist, und wo der Goldsand zu finden sei. Doch 
die armen Schlucker wissen nur zu sagen, daß die Inschrift eine 
gute Bedeutung habe, aber nicht leicht zu erklären sei. Mit ähn- 
licher ..Erklärung* muß sich der Wissensdurstige ja meistens zufrie- 
den geben, wenn er in chinesischen Tempeln die Schriftgelehrten 
angeht, seiner Unwissenheit ein Licht aufzustecken. Die jungen 
Buben sind größtenteils mit in den Klosterhof gelaufen und sie 
machen sich wenig daraus, als die Lamas ihnen die Pforte zeigen. 
Ein Xaseweis will den Gescheidten spielen und mit verschmitztem 
Lächeln meint er r Fu ien sind Mäuse, die Salz gefressen.* Die 
chinesische Zoologie behauptet, daß Mäuse, sobald sie eine genü- 
gende Porzion Salz verzehrt haben, in Fledermäuse verwandelt 
werden: fu Maus ien Salz, dann macht er Kehrt und die andern 
Buben laufen unter vielem Gelächter mit ihm zum Tor hinaus. 

Für etwas anderes scheinen unsere Begleiter besseres Ver- 
ständnis zu haben und sich mehr zu interessieren als für die chinesi- 
schen Zeichen und deren Erklärung. Sie versuchen auf alle mögliche 
Weise mit dem Fremdling ein Geschäftchen anzufangen, indem sie 
aus den geheimen Taschen ihrer weiten Gewandung bald einen 
Rosenkranz hervorziehen, den sie zum Verkauf anbieten, bald ein 
kleines Götzenbild oder sonstige Xippsachen, die wegen ihres hohen 
Alters in besonderem Werte stehen sollen. Die Rosenkranzperlen 
sind von Opferasche geknetet aus den Glühstengeln, die vor dem 
Hauptbilde des Buddha verbrannt wurden. Durch ein besonderes 
Bindemittel sollen dieselben holzhärte erlangt haben, und ein Znsatz 
wohlriechender Essenzen macht die Rosenkränze duftend und „reizt 
zur Andacht*. Die kleinen Götzenfigürchen sind aus Bronze oder 
Kupfer hergestellt und werden selbige nur unter yier Angen ans 



— 249 — 

den tiefsten Taschen hervorgeholt. Im Innern der Hauptpagode 
steht vor dem Bilde des General-Götzen oft eine ganze Reihe 
Liligut-Gottheiten. Es sind Votivgeschenke frommer Personen. Die- 
selben haben meistens ein hohes Alter und auch nicht selten einigen 
künstlerischen Wert. In den letzten Jahren, besonders seit der 
Boxerunruhen haben die guten Lama erfahren, daß die Ausländer 
an dem kleinen Götzenkrame ein besonders Interesse finden. Fast 
jeder der die Pagode besucht, erkundigt sich, ob dieses oder jenes 
Göttchen nicht käuflich sei, was von den Bonzen natürlich mit 
Entrüstung verneint wird. In der Stille aber machen sie sich die 
Erfahrung zu nutzen. Sie wollen dem „frommen Sinne" der Aus- 
länder entgegenkommen und deshalb verschwinden die kleinen 
Götzen immer mehr vom Plane. Es ist gar nicht ausgeschlossen, 
daß die Bonzen der einen Pagode die Götzen einer andern Pagode 
unvermerkt auf die Seite bringen; ein Abnehmer dafür ist leicht 
gefunden. Das ist so eine Art Nebenverdienst und -Beschäftigung 
der Bonzen. Wenn der hölzerne Fisch geschlagen wird, müssen 
sie zum Gebete erscheinen, über die andere Zeit aber können sie 
nach Belieben verfügen. Obwohl ihre Zahl im Verhältnis zu früher 
bedeutend vermindert ist, scheinen sie doch keine besondersflotten 
Tage zu verleben. Ihr Aussehen ist vernachlässigt und ungewa- 
schen; die Kleider sind abgeschlissen und glänzen vor Schmutz. 
Tritt man in einen neuen Vorhof (deren es im ganzen sechs gibt) 
und beschaut sich eine andere Pagode, kommen uns sofort wieder- 
um einige alte Nußknackergesichter entgegen und strecken bettelnd 
ihre Hand aus. Die Klosterkost muß wohl ziemlich dürftig sein 
und das ist jedenfalls der Hauptgrund nebenbei einige Käsch zu er- 
werben, um sich auf der Straße etwas tien sin (Erfrischung) zu 
kaufen. Mit der klösterlichen Disciplin und der „Klausur" zumal 
scheint es überhaupt nicht sonderlich bestellt zu sein. Die Bonzen 
gehen ein und aus nach Belieben ; es begegnet uns auf der Rück- 
fahrt wohl ein Dutzend. Der eine schäkert mit einem Jungen 
herum; ein anderer kaut Radis; ein dritter knuspert Erdnüsse. 

"Neben der chinesischen Sprache verstehen die Lama auch die 
Tibetanische; reden sie miteinander, so unterhalten sie sich in 
dieser. Auch die Inschriften auf den Denk- und Votivtafeln in und 
außerhalb des Klosters sind alle in beiden Sprachen abgefaßt. Die 
Klosterbewohner werden von den Chinesen bald Ho schan bald 
Lama genannt; der Sinn bedeutet gleich viel; alle sind Anhänger 
des Buddhismus. Aus den Zeiten der kaiserlichen Huld, als Kien- 
lung die Stätte dem Kulte des Buddha übergab und 3000 Lama 



— 250 — 

aus dein Norden nach Peking berief, stammen auch wohl die herr- 
lichen Emailvasen, welche über ein Meter hoch sind, und einen 
bedeutenden Wert haben. Jedenfalls bilden sie die Hauptkostbar- 
keiten im Klosterschatze, und werden deshalb von den Buddha- 
mönchen sorgfältig bewahrt. Zur Zeit der Boxerunruhen sollen 
dieselben in der Erde vergraben gewesen sein. Um solche Geschenke 
zu machen, fehlen heute dem Kaiser die nötigen Mittel und auch 
das erforderliche Interesse. Er besucht allerdings jährlich einmal 
das Kloster nämlich im Mittsommer (chia tschi=2l Juni) und ver- 
richtet dort seine Andacht 

Vor vielen Götzenbildern sehen wir Fruchte aufgestellt; vor 
einigen stehen auch Gefäße mit klarem Wasser. „Das sind aber 
wohlfeile Opfergaben u erlaubte ich meinem Begleiter gegenüber zu 
bemerken. „Billig aber rein* entgegnete er. Es gibt auf der Welt 
nichts das reiner wäre als das Wasser, deshalb haben auch die 
Götter ein Wohlgefallen daran; es ist ja zumal eine Göttergabe, da es 
vom Himmel kommt. Unter den vielen Lämpchen, die auf den 
Opferaltären brennen, finden wir auch solche, die mit Butter unter- 
halten werden. Dieselbe wird aus der Mandschurei bezogen. Dort 
gibt es mehr Weide als Ackerland und die Bevölkerung genießt 
im Gegensatz zu der chinesischen auch Butter und Milch. Auch 
in Peking ist Butter zu kaufen, die aber aussieht wie Wagen- 
schmiere; kostet ein Europäer davon, darf er sich gefaßt machen, 
heiser zu werden so ranzig ist sie. 

Die Hauptsehenswürdigkeit des Lamaklosters ist der „lebende 
Buddha* ; doch ist er nur selten sichtbar und dann noch nicht für 
jedermann. Auch uns war es nicht vergönnt zum „Gewaltigen* die 
Hälse emporrecken zu dürfen; er sei schon einige Tage unpäßlich, 
wurde uns bedeutet, und dann werde überhaupt niemand zugelassen. 
Wir mußten uns deshalb mit dem Besuche seines hölzernen Kame- 
raden begnügen und der bietet die zweite Hauptsehenswürdigkeit 
im „Kloster der friedlichen Behausung.* Es ist das ein mächtiges 
Buddhabild, welches die respektable Höhe von 27 l j 2 Meter hat. 
Der Koloß soll aus einem Baume geschnitzelt sein ; allerdings war 
das kein gewöhnlicher Waldbewohner, sondern ein schin-schu, ein 
„Geisterbaum*, der im Süden gewachsen und dann „auf wunderbare 
Weise* nach Peking gekommen ist. Die große Zehe am rechten 
Fuß der Statue hat fiomme Andacht im Laufe der Zeit fast ganz 
abgeküßt. Vor dem Bilde brennt die tse ken ming he töng: „Die 
Meereslampe (die große Lampe) des beständigen Lichtes ;* auch sie 
wird mit Butter unterhalten. 



- 25i - 

Eine andere Lamapagode befindet sich in der nordwestlichen 
Ecke der Tatarenstadt, nicht sehr weit von der Peit'ang (katholische 
Mission) entfernt. Zur Zeit der provisorischen Eegierung der frem- 
den Mächte war dort das französische Militär teilweise einquartiert. 
Die Tempelräume wurden als Wohn- und Schlafstätten notdürftig 
eingerichtet; wo gerade die Götzen im Wege standen, setzte man 
sie ins Freie. Noch heute liegt dem Eingange gegenüber die Figur 
eines feisten Buddha aus Eisen; „Miluofuo" ist sein Name, und er 
gilt als ein besonderer Liebling der Epikuräer. Den Oberkörper 
entblößt, hält er beide Hände auf dem drallen Schmierbauche gefal- 
ten und lächelt holdselig ins Leben als sähe er den Himmel voll 
der Geigen hängen. „Aber ist Miluofuo nicht gram ob der unglimpf- 
lichen Behandlung, die ihm die Europäer haben widerfahren lassen", 
frug ich meinen Begleiter. „Ein Buddha wird niemals gram, son- 
dern er muß alle Unbilden in Geduld zu ertragen wissen, andern- 
falls ist er eben kein echter Buddha. " „Aber weshalb stellt ihr 
das Bild nicht auf seinen alten Platz zurück und laßt es da draußen 
liegen in Regen und Sonnenschein ?" „Miluofuo hat hier draußen 
sein wollen, sonst hätten ihn die Europäer gar nicht von der Stelle 
gebracht", war die Antwort des Lama. 

Die Pagode ist bekannnt unter dem Namen Pei-t'a-ssü: 
„Tempel des weißen Turmes". In den Parkanlagen der Kaiserstadt 
ist ein ähnlicher Bau, welcher siao-pei-t'a-ssü genannt wird; „Klei- 
ner Tempel des weißen Turmes". Die Europäer nennen gewöhn- 
lich den Bau Schirmpagode, weil die Spitze derselben schirmförmig 
auseinanderstrahlt. Die Konstruktion ist einem Bonzengrabmal 
nicht unähnlich. Und in der Tat soll darin ein Buddha zur Ruhe 
gebettet sein; was für einer wußten mir die Buddhaschüler nicht 
zu sagen. Außerdem seien „uüzählich viele" Gebetbücher mit in 
das Grabmal vermauert worden. Für den Fall nämlich, daß die 
Bibliothek in dem Lamakloster ein Raub der Flamme würde, müßte 
dieser Vorrat aushelfen. Die größte Kostbarkeit aber im Grabmal 
sei ein Edelstein, der im Leibe des Buddha gewachsen sei. Wie 
sich nämlich auf dem Körper eines gewöhnlichen Sterblichen Unge- 
ziefer einniste, bringe der Leib des Buddha „Kostbarkeiten" (scheli) 
zu Tage, ähnlich der Perle im Innern einer Muschel. Eine nähere 
Beschreibung der scheli konnte mir mein Gewährsmann trotz vielen 
Herumfragens wiederum nicht geben. Einige Meter hoch vom Boden 
führt uns um den Turm ein Gang, eingefaßt von Steinbalustraden. 
Es sind dort 189 Laternen aufgehängt, welche zu Neujahr und an 
besonderen Festlichkeiten angezündet werden. Sollen sie aber 



— 25? — 

brennen, muß völlige Windstille sein, denn längst ist das Glas clor 
Laternen verschwunden. Nur wenige Bonzen sind Terapelhüter ; 
auch hier tritt uns Verfall und Unordnung entgegen, die Tage 
des Glanzes sind dahin. Viele Götzenbilder sind von den Soldaten 
zertrümmert worden, andere gestohlen und verkauft. In früheren 
Zeiten, erzählte mir ein alter Bonze, sei hier das „ständige Gebet* 
eingerichtet gewesen. Bei Tag und Nacht habe ein Bonze den 
Rosenkranz betend um den Turm die Kunde gemacht. Nach jeder 
Runde mußte er Buddha durch ein Kou-t'ou begrüßen. Die Stein- 
fliesen, womit der Gang belegt ist, sind denn auch sehr abgeschlissen 
und ausgehöhlt. Wie viele hunderttausendmal mag der arme Bonze 
nicht schon seinen Gang gemacht haben und wie viel mal ist nicht 
schon der Rosenkranz durch seine Finger geglitten, den er betete 
zu Ehren der toten Götzen am -Grabe eines Toten ! 

Ungefähr l j 2 Stunde außerhalb der Stadt liegt in nördlicher 
Richtung eine Pagode, die in ihrem Äußeren einige Aehnlichkeit 
hat mit dem weißen Tempelturm; sie ist bekannt unter dem Namen 
Huang-ssii: r gelbe Pagode*. Auch hier reden nur mehr Trümmer- 
haufen und stützbedürftige Pagoden von den glorreichen Tagen 
der Vergangenheit und dem Verfalle alles Irdischen. Lange müssen 
wir warten, ehe sich ein zerlumpter schmutzstarrender Bonze dazu 
bequemt, das Tor zu öffnen. Man sieht, die Ausländer sind den 
Klosterinsassen ein Dorn im Auge. Zur Zeit der Unruhen sympa- 
tisierten die Bonzen mit den Boxern und als dann später die Japaner 
hierher kamen und „Hausuntersuchung" hielten, fand man Boxer- 
fahnen und eine Anzahl Waffen versteckt. Sofort ging es mit 
blanker Waffe gegen die Mönche los; gegen 100 wurden hinge- 
mordet, nur einige retteten sich durch die Flucht. Die Japaner 
haben dann auch ihren Ingrimm an den Götzenbildern ausgelassen; 
auch ihnen wurden größtenteils die Köpfe abgeschlagen. Jetzt 
macht der monumentale Bau aus weißem Marmor einen recht traurigen 
Anblick. Früher war das Leben des Buddha auf dem Stein in 
erhabener Arbeit eingemeißelt und wie man Jetzt noch sieht, recht 
kunst- und geschmackvoll. Die Spitze des Turmes ist mit einer 
vergoldeten metallenen Haube bedeckt; ehemals endete sie in einen 
birnförmigen goldenen Knauf. Der soll aber schon vor vielen 
Jahren bei Nacht und Nebel verschwunden sein unter Mitwirkung 
einiger Bonzen. Auch dafür wurde das Kloster hart gezüchtigt, 
und die der Tat verdächtigen mußten ihren Frevel mit dem Leben 
büßen. Die gelbe Pagode soll in früheren Zeiten noch eine beson- 
dere Bedeutung als Götzenfabrik gehabt haben, indem hier zahlreiche 



— 253 — 

kupferne Buddhas angefertigt wurden. Nebenbei wurden auch Glok- 
ken gegossen und sonstige Gebrauchsgegenstände für den Teufelskult. 

Am Grabe halten dunkle Cypressen die Totenwacht: Cypres- 
sen sind es auch, welche der Chinese im Pagodengehöft seinen 
leblosen Götzen pflanzt. Der Baum macht auf uns einen traurig 
melangolischen Eindruck. So oft wir die Tempel verlassen, glauben 
wir es in den Zweigen wie leise Klage flüstern zu hören über die 
Verblendung der armen Heiden. Bei manchen Pagoden treffen 
wir Bäume, die viele Jahrhunderte alt sind. Sie haben die Tempel 
überdauert so wie die Götzen, welche darin wohnten. Während 
Wind und Wetter beide zu Ruinen machten, haben sie den zähen 
Baum nur gekräftigt. Später wurde dann die Pagode von neuem 
erbaut und ein neues Götzenbild wurde darin aufgestelll. Doch 
auch das zweite Mal sah der Baum alles in Staub versinken, wäh- 
rend er selbst noch kräftig dasteht und lautere Klage führt in den 
dichten Zweigen. Die knorrige Eiche galt den alten Germanen 
als Götterbaum; Griechen und Römer aber hatten sie dem Jupiter 
geweiht. Wodan mußte dem Gotte der Christen weichen ; die Eiche 
aber grünt fort; ihre Zweige und Blätter schmücken die Straßen, 
wenn am Fronleichnamsfeste der Heiland seinen Triumphzug hält. 
Und zu Falle gebracht, liefert der Baum Material zu Altäre, Kanzel 
und Kirchenbänke und dient auch im Tode noch dem Schöpfer, 
unbewußt Buße tuend für die Sünden seiner Väter. Möchten doch 
auch für dich, du ernste Zypresse bald die Tage der Erlösung her- 
anbrechen und möge es durch deine Zweige rauschen wie Freuden- 
gesang, weil du im Schatten eines Gotteshauses gepflanzt bist; gerne 
wirst du ewig grüne Zweige opfern zu Guirlanden, zum Schmucke 
der Altäre und als Palmen, um alljährlich von neuem den Triumph- 
zug des Erlösers zu verherrlichen. 

Das waren die Gedanken, welche mich bewegten, als ich die 
Cypressen alle durchschreitend, die gelbe Pagode verließ und mein 
japanisches Gefährte bestieg, um einem andern Tempel den Besuch 
zu machen. Es galt die „große Glocke Pagode u (ta-Tschung-ssü) 
aufzusuchen, eine der Hauptsehenswürdigkeiten Pekings. In anderen 
Pagoden sind die Götzenbilder die Hauptsache, und die Glocken 
dienen nur zum Kulte der Ersteren. In der „großen Glocke Pagode u 
aber ist kein Götzenbild zu finden, die Glocke selbst bildet den 
Gegenstand der Verehrung. Verwunderung allerdings muß ihr 
auch der Europäer zollen, wenn er von einem freundlichen Bonzen 
begleitet, des Riesen-Kolosses ansichtig wird. Stumm hängt sie da 
in der finstern Pagodenhalle schon einige Jahrhunderte lang. Die 



— 254 — 

Glocke ist älter als der jetzige Kaiserthron, denn sie stammt aus der 
Mw^r-Dynastie und wurde vom Kaiser Yuny-luo angefertigt. Das 
muß überhaupt ein gewaltiger Herrscher gewesen sein; hat er doch 
auch Peking mit einer Riesenmauer umgeben und die beiden Wacht- 
türme bauen lassen, den Trommel und den Glockenturm. Es heißt, 
der Kaiser habe anfangs ein Dutzend solcher Glocken in Arbeit 
gegeben, es sei aber nur eine einzige gelungen. Und man muß in 
der Tat das Werk als gelungen betrachten, ja als ein Meister- 
stück. Man glaubt anfangs die Glocke stehe auf dem Boden, da 
der Rand mit dem Pagodenboden gleich hoch ist. Es hat das darin 
seinen Grund, weil der gewaltige Koloß nicht wohl angehängt wer- 
den konnte. Der Glockenstul wurde deshalb über der auf platter 
Erde stehenden Glocke zusammengezimmert, und als er fertig war, 
grub man den Boden rund um den Rand weg. So kann man jetzt 
unter demselben in das Innere kriechen, was jedoch, wie der Bonze 
mein, nicht ohne Gefahr sei; denn würden „die Balken brechen", 
wäre man unter 55 000 Kilogramm begraben und es könnte allerdings 
gute Weile haben, ehe man wieder ans Tageslicht befördert würde. Frei- 
lich den Erstickungstod braucht man gerade nicht zu fürchten. In dem 
obern Rande nämlich hat auch diese Glocke, wie es bei den chinesi- 
schen überall der Fall ist, einige Löcher, aus denen der Schall entwei- 
chen soll. Es sind das „die Nasenlöcher", während die untere Öffnung 
„Glockenmund" genannt wird. Den Klöppel bezeichnet der Chinese 
in seiner Auffassung consequent als die „Zunge", obschon er niemals 
im Innern der Glocke hängt, sondern von außen angeschlagen wird. 
Rund um die Glocke ist eine Veranda gebaut, um auch von 
oben das Wunderding betrachten zu können. Der Bonze wirft 
durch die „Nasenlöcher" einige Sapeken in das Innere der Glocke 
und ermahnt den Besucher, ein Gleiches zu tun. Dazu gehört aber 
Fertigkeit und man kann vielleicht zehn Sapeken werfen, ehe nur 
eine ins richtige Loch fällt. Doch jede Sapeke, die ihren Weg durch 
den Glockenleib genommen, wird eine heilbringende sein, indem 
der „Segen" von 30000 Gebetszeichen darüber strömt und deshalb 
wird eine Opfersapeke dem frommen Pilger BOOOOfachen Reingewinn 
bringen. Was Wunder, wenn das abergläubische Volk an den 
Schwindel glaubt und nicht nur einen, sondern eine Menge Sapeken 
durch die Löcher und noch mehr daneben wirft. Reich werden 
und großen Gewinn machen, möchte ja gern jeder Chinese. Wenn 
dann die andächtige Seele den Raum verlassen hat, besorgen die 
Bonzen das Einsammeln der Sapeken und fürchten sich auch nicht 
mehr, daß „die Balken brechen". 



— 255 — 

Die Zeichen, womit der Glockenmantel von Innen und Außen 
übersät ist, bilden eine Art buddhistischer Litanei (hua-ien-tjng). 
Sobald nun die Glocke gerührt wird, „ betet sie," und das Gebet 
hat die nämliche Kraft als ob 30 000 Bonzen ihre Stimmen erschallen 
ließen. Leider darf sie nur für den Himmelssohn beten, d. h. der 
Kaiser allein hat das Recht, die Glocke läuten zu lassen, und auch 
das geschieht nur in seltenen Fällen. Meistens dann, wenn große 
Trockenheit das Land heimsucht oder feindliche Scharen gegen 
Peking losziehen. Zur Zeit der Boxerunruhen, als die ausländischen 
Truppen auf den Kaiserpalast losmarschierten, wurde die Glocke 
allerdings auch geläutet aber es war ein Trauergeläute und galt 
dem fliehenden Kaiser. 

Der Bronceguß ist ungemein sauber ausgeführt und auch die 
Schriftzeichen sind akkurat wie geschrieben. Die äußere Glocken- 
form indes macht einen plumpen Eindruck und ist am Rande nicht 
tulpenartig ausgebogen, wie wir es bei unsern Glocken zu sehen 
gewohnt sind. Der Querbalken an dem die Glocke hängt ist eben- 
falls von Bronce und mit fein ciselierten Drachenverzierungen über- 
kleidet; desgleichen sind die Henkel kunstvoll zu zwei Drachen 
verarbeitet. Auf einer besonderen Metallplatte, die außen an der 
Glocke befestigt ist, sieht man die Dynastie und den Namen 
des Kaisers verzeichnet, unter dessen Regierung das Werk vol- 
lendet wurde. Die Pagode selber ist um einige Hundert Jahre 
jünger aber recht reparaturbedürftig. Die Treppe zur Empore 
wackelt beim Auf- und Absteigen und der Bonze mahnt, uns 
festzuhalten. 

Noch einmal betrachten wir die seltene Sehenswürdigkeit von 
unten. Wie ein Riesengebetbuch steht uns die Glocke gegen- 
über; mißt sie doch 6 Meter Höhe und 4 Meter in der Breite; der 
Mantel aber hat einen Durchmesser von 8 Centimeter. Wie schon 
bemerkt beträgt das Gewicht gegen 55 000 Kilogramm, während 
die Kölner Kaiserglocke nur 26 250 Kg. schwer ist. „Ein Glück", 
flüstert der Bonze mit findigem Lächeln „daß die Glocke so groß 
und schwer ist". „Wie so denn" frage ich ihn. „Wäre sie leicht 
gewesen und gut zum Tranzportieren, hätten die Ausländer sie sicher 
nach Europa geschleppt und Peking wäre um ein Wunderding 
ärmer geworden, wir aber hätten unser Brod verloren. Wir waren 
allerdings mit den Ausländern immer gut Freund und gar manchen 
haben wir hier in den heißen Julitagen gastliche Aufnahme bereitet". 
Als Beweis dafür führte er mich ins Fremdenzimmer und zeigte 
mir eine Reihe Geschenke, die ihm Ausländer gemacht. 



— 256 — 

In den Wintertagen wallfahrt das gläubige Volk nach Ta 
tschung ssü, wirft Sapeken durch die Glockenlöcher und bittet um 
Reichtum und Glück. Dann aber reift der Bonzen Korn und oft 
werden sie stille bei sich denken, was sie mir nur leise ins Ohr 
geflüstert: „Ein Glück, daß die Glocke so groß und schwer ist". 

Ich begebe mich zur Stadt zurück. So oft das Volk bemerkt, 
daß man zu einer Pagode fährt oder von dort zurückkehrt, drängen 
sich alle Augenblicke Bettler an einem heran und halten dem 
Wallfahrer brennende Glühstengel unter die Nase. Man soll sich 
damit die Pfeife anzünden; wer dann das Bedürfnis fühlt sich eine 
zu rauchen, nimmt den Glühstengel zur Hand und wirft dem 
Bettler dafür eine Sapeke auf den Boden. Dieser Glühstengel 
besteht aus dem nämlichen Material wie der chinesische „Weihrauch* 
nämlich aus fein gemahlenem Holze von Ulmenbäumen, das dann in 
Stengel von verschiedener Dicke und Größe geformt wird. Solcher 
„Fidibus" brennt längere Zeit, ist also zum Pfeifen anmachen wohl 
praktisch; der Geruch allerdings sagt unserer Nase weniger zu, zumal 
wenn die ganze Luft davon voll ist, wie man es in den Pagoden meistens 
antrifft. Die Götzenbilder haben in Folge des beständigen Räucherns 
auch ein verräuchertes Aussehen, manche sind sogar ganz schwarz 
geworden, als entstammten sie dem Mohrenlande. 

Als Sehenswürdigheit ersten Ranges war mir früher schon 
die Tung jü, die östliche Unterhölle angepriesen worden; ich mache 
deshalb dorthin meinen Weg. Ein wahres Teufels Tohuwabohu 
allerdings eröffnet sich daselbst dem erstaunten Besucher. Unzäh- 
lige, möchte ich sagen, Götzenfiguren in allen möglichen Farben, 
Physiognomien, Stellungen und Geschäften sind hier vertreten. 
Auch ist es nicht nur eine einzige Pagode, sondern vielmehr ein 
großes Gehöft, welches von drei Seiten mit Hallen umbaut wurde;, 
von denen jede einzelne von der anderen wiederum getrennt 
ist. Das Ganze macht wohl den Eindruck einer echten Götzen- 
Kolonie, und hier ist im Großen zu schauen, was die Pagoden auf 
dem Lande und selbst in den Städten nur im Auszuge bieten. 
Alle erdenklichen Strafen, womit die Richter der Unterwelt den 
armen Sünder peinigen lassen, sind hier plastisch vorgeführt; des- 
gleichen sehen wir sie die Guten belohnen, indem ihnen alle mög- 
lichen Aemter und Würden je nach Verdienst verliehen werden. 

Am besten fundiert ist jene Halle, wo die Herren Mandarine 
ihre Anstellung verschrieben bekommen. Es reiht sich an die 
Wände eine Votivtafel an die andere ; auf jeder wird dem Götzen 
gedankt für Amtshut und Siegel, die er hier erfleht und später 



- 257 — 

dann glücklich bekommen hat. An zweiter Stelle ist das Kinder 
verteilungs- Ressort gut ausstaffiert und mit Votivgegenständen 
reichlich bescheert. Es scheint nach Babies ist immer rege Nach- 
frage aber auch der Vorrat ist nicht minder groß. Man gewahrt 
zwei Riesenteufel, von denen jeder einen gewaltigen Sack trägt, 
angefüllt mit käsegroßen Knirpsen; die obersten stecken den Kopf 
aus dem Sacke hervor und gucken vergnügt ins Leben. Auch auf 
Gesimsen und in den Nischen der Wände ist das kleine Volk reich- 
lich vertreten. 

Als die dritte best besuchte und beschenkte Abteilung fand 
ich die TcWang schou jü d. i. jene „ Hölle", wo langes Leben ver- 
teilt wird. Man sieht der Chinese möchte wohl gerne recht alt 
werden, zumal wenn er gut zu essen und zu trinken hat und die 
Enkel für ihn arbeiten. Achtzig, ja neunzigjährige Altväter hatten 
hier viele Votivtafeln aufgehängt und baten den Jen-wang (Gott 
der Unterwelt) noch einige Jahrzehnte im irdischen Dasein weilen 
zu dürfen. 

In der Kaufleute Abteilung, wo nämlich der Beruf zum Kauf- 
manne verliehen wird, waren besonders viele verschiedene Men- 
schentypen auffallend. Ich fand dort Judengesichter, die einem 
llafaele alle Ehre gemacht hätten. Es scheint somit, daß der 
schachernde Jude schon bei Zeiten seinen Weg nach China gefunden 
hat und er lebt auch jetzt noch im Andenken der Kaufmannsschaft 
fort. Natürlich ist die ganze Götzen-Gallerie nur aus Lehm geformt 
und dann mit Farbe bestrichen. Eine Jtiesenrechenmaschine, die 
über dem Eingange zu jeder Abteilung an der Wand hängt, gemahnt 
uns daran, daß hier strenge Gerechtigkeit gehandhabt wird. Im 
innern Hofe sind viele Platten aufgerichtet und dort ist in den 
Stein gemeißelt was in den Pagodenhallen auf den Votivtafeln 
geschrieben steht. Alte Cypressen und Fichten breiten ihr Schirm- 
dach darüber aus ; die meisten sind älter als die Pagode und wenn 
selbige nicht bald einer gründlichen Restauration unterzogen wird, 
ist ihr Zusammenfall nicht mehr ferne. 

Auf dem Rückwage kommen wir an einem Trümmerfelde 
vorbei. Hier befand sich noch vor einigen Jahren eine der bekann- 
testen Pagoden Pekings, berühmt wegen eines weiblichen Buddha- 
bildes, über das die Sage Wunderdinge zu berichten weiß. Das 
Bild stand dermaßen in Ehren, daß sich auch der Kaiser davor 
in den Staub niederwarf, so oft er die Pagode besuchte. Selbiges 
soll aus dem Süden stammen, gegen 3 000 Jahre alt sein und schon 
in verschiedenen Pagoden Verehrung gefunden haben, bis es 

R. Pieper, „Neue Bänder. 17 



- 258 — 

endlich im 60. Regierungsjahre des Kaisers Khanhi in einer Lania- 
serei Pekings seine definitive Unterkunft fand. Dasselbe besteht 
aus Rottannenholz (Tschang t'aen) und von ihm hatte auch die 
Pagode ihren Namen erhalten „Rottanne Pagode* Tchang t'aen ssü). 
Das Kloster, geehrt durch die Übergabe des kostbaren „ Heiligtums u % 
wurde dann auch von der kaiserlichen Huld reichlichst bescheert. 
Die vielen Bruchstücke von Marmorplatten und fein gearbeiteten 
Marmorsäulen legen Zeugnis ab von der Pracht, die hier ehemals 
geglänzt. Da das Kloster in nächster Nähe der Peit'ang lag, haben 
sich die Mönche s. Z. verleiten lassen, daselbst den Boxern einen 
Unterschlupf zu bieten. Höchstwahrscheinlich haben sie auch mit 
denselben gegen die bischöfliche Residenz gekämpft. Hier hauste 
der schlimmste Feind für die arg Bedrängten während der Schrek- 
kenstage im Sommer des Jahres 1900. Als Peking dann von den 
ausländischen Truppen entsetzt wurde, ereilte das Kloster und seine 
Bewohner die Nemesis. Die französischen Truppen haben alles dem 
Erdboden gleichgemacht; die prachtvollen Pagoden bilden nur 
mehr ein Trümmerhaufen. Wo das „Wunderbild" geblieben, weiß 
niemand zu sagen; wahrscheinlich hat es auch seinen Untergang 
gefunden. 

Eine andere Pagode, mehrere Stunden von Peking entfernt, 
soll schon vor vielen Jahren nicht nur dem Erdboden gleich ge- 
macht, sondern gar in ein Ackerfeld ungewandelt worden sein. Eh 
hausten dort Bonzen, die eine Herberge etabliert hatten. Selbige 
fand vielen Zuspruch, da eine große Straße dicht daran vorbei 
führte. Den Bonzen war es aber nicht so sehr um Verpflegung 
der Gäste zu tun, als vielmehr um Beraubung derselben. Glaubten 
sie einen guten Fang machen zu können, wurde der nichts ahnende 
Reiche in das „bessere Zimmer" (schang fang) geführt um darin zu 
verschwinden, und auch seine Begleitung wurde niedergemacht. End- 
lich kam die Regierung auf das gottlose Treiben der „gottseligen" 
Klosterbewohner. Die Untersuchung ergab, daß viele Hunderte 
Unglückliche hier meuchlings ermordet und beraubt worden waren. 
Sämtliche Bonzen wurden dann draußen auf dem Felde lebendig 
begraben, d. h. so, daß der Kopf bis zur Nase noch aus dem Boden 
steckte, dann wurde eine eiserne Egge mit spitzen Zähnen darüber- 
gezogen, eine allerdings furchtbar grausame aber doch gerechte 
Strafe. Wenn übrigens nur die Mauern der Bonzenklöster reden 
könnten: sie würden den Buddha-Schwärmern und -Lobesrednern 
erzählen von Affenliebe und Schonung gegen die unvernünftige 
Kreatur, selbst wenn es nur Ungeziefer ist oder eine Ameise — von 




— 259 — 

Hartherzigkeit, Haß und Rachsucht gegen die Mitmenschen, von 
schwarzen Plänen die hier geschmiedet wurden und von vielen 
andern Verbrechen, deren stumme Zeugen sie sein mußten. 



Das Hauptheiligtum in Peking. 

er Kaiser von China gilt in den Augen des Volkos als 
der „Himmelssohn* (t'ieti tse), und als solchem steht ihm 
___ÜE das alleinige Recht zu dem Himmel zu opfern. Während 
&I&V&» das ß^ich mit unzähligen Pagoden überschwemmt ist, die 
allen möglichen Gottheiten geweiht sind, gibt es aber nur einen 
Himmelstempel und zwar in der Hauptstadt des Reiches. Es ist 
meines Wissens über diese alte ehrwürdige Opferstätte noch ver- 
hältnismäßig wenig geschrieben worden ; hauptsächlich wohl deshalb, 
weil es in früheren Jahren den Fremden nur in seltenen Fällen 
und nie ohne höhere Empfehlung möglich war, dieselbe flüchtig zu 
besichtigen. Heute kann man gegen ein angemessenes Trinkgeld 
im Tempel und dem gewaltigen Haine, der allein einen Durchmessr 
von l ! / 2 Kilometer hat, ganz nach Belieben spazieren gehen. Ich 
will in Folgendem dem freundlichen Leser mitteilen, was ich bei 
Gelegenheit eines Besuches selber gesehen und in Betreff des 
Opferritus von den Tempelwärtern erfragen konnte. 

„ Himmelstempel \ u Schon der Name deutet auf etwas Hohes, 
Erhabenes, Gottverwandtes; und in der Tat ist das Bauwerk von 
den Fetischhütten der Neger so weit verschieden, wie die Kultur 
und Hautfarbe des schwarzen Mannes im Gegensatze steht zu der 
des gelben. Übrigens ist die Bezeichnung Himmelstempel nicht 
ganz correkt, denn die eigentliche Opferstätte ist nicht der Tempel, 
als vielmehr der im Freien liegende Altar, wie auch die Chinesen 
nur von einem t'ien t'ä „Himmels-Altar" sprechen. Der Opferhain 
umfaßt eine Menge Gebäude, von denen der Himmelstempel allerdings 
alle überragt und dorthin richtet der Besucher zunächst seine Schritte. 

Treten wir durch die westliche Eingangspforte in den Tempel- 
hain, so umfängt uns geheimnisvolles Schweigen. Hier ist das 
Krämerleben und Geräusch der Straße verbannt ; von allen Bewoh- 
nern Pekings ist es wohl kaum dem tausendsten Teil jemals 
vergönnt gewesen, durch diese Pforte einzutreten. Hundertjährige 
Akazien und Lebensbäume neigen sich über die breite, gut gepfla- 
sterte Straße. Die Bäume sollen in der Jugend aus lauter Ehrfurcht 



— 260 — 

vor der Kaiserlichen Majestät das Haupt vorneigt haben und fortan 
in dieser Stellung verblieben sein. So erklärt wenigstens mein 
Begleiter das etwas schiefe Unterhängen der Zweige zum Wege hin. 
Wohin das Auge auch blicken mag, sieht es nichts als Bäume, 
Sträucher und Grün. Man glaubt sich fast in einen europäischen 
Wald versetzt. Doch die wunderliche Form mancher Bäume erin- 
nert uns daran, daß solche nur in China wachsen. Da sehen wir 
„Kreisel-Tannen* deren Stamm spiralförmig nach oben strebt; 
„Drachen- Cypressen*, die „um sich selbst gewunden Tier- und 
Pflanzenreich gemeinsam zum Ausdruck bringen*. Sind wir eine 
Strecke weiter gegangen, erblicken wir den Tempel ausdrucksvoll 
und majestätisch aus den Bäume-Dickicht in die Lüfte ragen. Tem- 
pel und Altar sind durch eine via triumphalis mit einander verbun- 
den, liegen aber wohl zwei li von einander entfernt. In Mitte den 
Weges befindet sich ein kleiner Tempel, eine Abbildung des Himmels- 
tempels, der als eine Art „ Sakristei * dient. Dort werden nämlich 
die Opfergeräte, die pä-ui „Seelensitz-Tafeln* und sonstige Kostbar- 
keiten aufbewahrt. Derselbe heißt Huany tjungjü: „Kleines Abbild 
des Alles überragenden Himmels.* Läßt man von hier aus seine 
Augen nach rechts und links streifen und überblickt das Ganze, 
so muß man gestehen, daß eine derartige Anlage nur ein großer 
Geist erdacht haben kann. Der Himmelstempel liegt auf einer 
künstlichen, mit Marmor überkleideten hügelartigen Terrasse und 
auch die via triumphalis geht nicht zur ebenen Erde sondern führt 
in einer Höhe von neun Stufen zum Altare und ist zu beiden Seiten 
aufgemauert. Die Terrasse aber, auf welcher sich der Himmels- 
tempel erhebt, hat eine Höhe von 27 Stufen und verjüngt sich 
nach jeder neunten Stufe. Von allen vier Himmelsgegenden führt 
ein Anstieg hinan und zwar von Süden und Norden ein dreiteiliger, 
von Osten und Westen aber nur ein einfacher. Der einzelne Anstieg 
ist zu beiden Seiten mit Balustraden von Marmor eingefaßt. Die 
Verjüngung nach je neun Stufen bildet ein Weg, der im Kreise um den 
Tempel läuft, welcher ebenfalls mit einem Marmorgeländer eingefaßt 
ist. Die zwei Hauptanstiege von Süden und Norden über die sich nur 
die kaiserliche Sänfte bewegen darf, sind nicht wie die andern in 
Stufen abgeteilt, sondern sanft aufsteigend. Das Pflaster besteht aus 
drei mächtigen Marmorplatten. Auf der ersten sind Berge, Wasser und 
Wolken eingemeißelt ; auf der zweiten ein Paar Riesen-Phönixe (Fung 
huang) ; auf der dritten endlich ein Paar Drachen (Lung huang). Somit 
schreitet der „Sohn der Himmels* auf Wolken, Bergen und dem Rük- 
ken von Phönixen und Drachen empor zum Heiligtum des Himmels. 



— 261 — 

Zwischen dem von Marmorbalustraden eingefaßten und abge- 
teilten Wege wächst unbehindert die liebe Natur. Ich traf dort 
das nämliche Grün, Kräuter- und Stäucherwerk wie ich es auf den 
Bergen Mung-jins gesehen hatte. Doch das Auge findet keine Zeit 
der Umgebung viele Blicke zu gönnen; wie gebannt ruht es auf 
dem gewaltigen Tempel, dessen eigentümliche Schönheit sich immer 
mehr entfaltet, je näher wir ihm kommen: „Rund ist der Himmel, 
deshalb ist auch sein Tempel rund", im Gegensatze zum Tempel der 
Erde, der ein Viereck darstellt „weil die Erde ein Quadrat bildet". 
Das tiefblauglänzende Dach hat drei Abstufungen und endet in 
einem birnartigen Knauf. Überhaupt finden wir die Dreizahl in der 
Anlage des Tempels und seiner Umgebung immer wiederkehren. 
Vier mächtige, mit herrlichen Goldarabesken reich verzierte Säulen, 
die sich nach oben in acht kleinere verzweigen, tragen das Mittel- 
dach. Das Gesimse wird von 24 Säulen unterstützt. (4 und 8 und 24 
= 36, das ist 12 mal 3). Die rot lakierten Türen sind mit neun Reihen 
vergoldeter Nägel beschlagen, in jeder Reihe aber zählen wir wiederum 
neun. Die Dreizahl soll Bezug haben auf die drei Majestäten, 
denen der Kaiser hier opfert, nämlich dem T'ien-huang, Ti-huang und 
Gin-huang: „dem Himmelskaiser, dem Erdenkaiser und dem Men- 
schenkaiser." Wer unter diesen drei Kaisern verstanden wird, 
Harüber sind sich die Ausleger nicht einig. Das Volk betrachtet 
den Himmelskaiser als den Herrscher, der den Himmel zu regie- 
ren hat (Sonne, Mond und Sterne). Dem Erdenkaiser untersteht 
die Welt mit allem was darin und drauf ist, nur die Menschen sind 
von seiner Herrschaft ausgeschlossen. Diese unterstehen nämlich 
dem Gin-huang, dem Menschenkaiser. Konfuzius bezeichnet drei 
mytologische Persönlichkeiten als jenes Kaiser-Triumvirat und zwar 
soll Fu-hi der erste, Schin-nung der zweite und Huang-dj der dritte 
sein. In einer chinesischen Kaiser-Chronologie heißt es T'ien-huang 
sei eine Brüder-Familie gewesen von dreizehn Kaisern, von denen 
jeder achtzehntausend Jahre gelebt habe. Dann sei eine andere 
Brüder-Familie gefolgt, ebenfalls von dreizehn Köpfen und auch 
ihr sei eine Lebensdauer von achtzehntausend Jahren beschieden 
gewesen. Hierauf endlich sei Tj-huang gefolgt, eine Brüderfamilie 
von neun Mann, deren jeder 45 600 Jahre auf der Erde gehaust 
habe. Unter der Regierung des „Himmelskaisers" habe man ange- 
fangen nach Jahren und Tagen zu zählen. Die „Erdkaiserherrschaft" 
habe den Cyclus von 60 Jahre eingeführt, das Jahr in 12 Monate 
und 24 Festabschnitten und den Tag in 12 Doppelstunden (schi- 
tschin) geteilt, ähnlich dem Kronos oder Saturnus der Griechen und 



— 262 — 

Römer. Gin-huang endlich habe sich mit dem Gesetze des Anstan- 
des und der Gerechtigkeit befaßt und habe das Heiraten eingeführt. 
Ehedem lebte man wild. Vor dieser drei Kaisorzeit wird ein Paen- 
ku genannt, der Himmel und Erde, Sonne und Mond, Berge und 
Flüsse reguliert und in die rechten Bahnen gelenkt haben soll und 
dem ein Lebensalter von achtzehntausend Jahren beschieden gewe- 
sen sei. Vor ihm war so eine Art Thohuwabohu. Merkwürdigor- 
weise wird seiner beim Kaiseropfer nicht gedacht, wohl aber findet 
man Pagoden, die zu Ehren des Paen-ku erbaut sind. Er wird 
darin halb nackt dargestellt, wild von Aussehen, cyklopen-grauen- 
haft. Übrigens wird sich der chinesische Kaiser bei seinen Opfern 
nicht viel Bedenken darüber machen, wem er opfert und wer die 
drei Majestäten sind, vor denen er im Staube liegt. Verkehrt 
ist es somit auch zu glauben, der Kaiser opfere im Himmelstempel 
dem Himmel, und wenn man darin einen Anklang finden will an 
die Urreligion. Mir will os vielmehr scheinen, daß der Himmels- 
tempel und -Altar dem Kulte der „höchsten Herrscher u bestimmt 
sei, zu denen sich der Kaiser als T'ien-tse in nächster Beziehung 
glaubt und das Recht dazu für sich allein beansprucht. Dahin 
scheinen auch die Tafeln der Ahnen des Kaisers zu deuten, die 
bei Gelegenheit der Opfer sowohl im Tempel (auf einer mäßigen 
Erhöhung), als auch in der Nähe des Himmels-Altars aufgestellt* 
werden, und denen der Kaiser gleichfalls seine Kaut'ous macht 
und opfert. 

Betrachten wir nun ein wenig den Himmelstempel selbst. 
Derselbe ist in seiner jetzigen Gestalt neueren Datums, eigentlich, 
was innere Ausschmückung angeht, noch nicht ganz vollendet. Der 
frühere Tempel wurde im Jahre 1889 vom Blitze getroffen und 
eingeäschert. Lange dauerte es, ehe man das notwendige Material 
fand, um den Bau neu aufzuführen, denn dazu war eine besondere 
Holzart vorgeschrieben, deren Herbeischaffung äußerst viele Mühe 
machte. In der Tat besteht das ganze Gebäude fast ausschließlich 
aus kostbarem Pinien-Holz. Steinmaterial ist ungefähr gar nicht 
daran verwendet. Die Anlage soll dem Reiche 20 — 30 Millionen 
gekostet haben, was eigentlich unmöglich scheint, es sei denn, der 
weitaus größte Teil des Geldes wäre in die Taschen der Mandarine 
gewandert. Der Durchmesser des Tempels beträgt zur ebenen Erde 
70 Fuß. Das Holz werk ist von Außen und Innen in den kostbar- 
sten Farben gefirnist. Besonders effectvoll nimmt sich die Vergol- 
dung auf hochrotem Untergrunde ab. Die Decke erstrahlt in 
hellgrünen und blauen Farben, eingefaßt in reicher Vergoldung. 



— 263 — 

Da, wie gesagt, der ganze Tempel aus Holz werk besteht., konnten 
Wände und Türen durch kostbare Schnitzereien wunderbar belebt 
werden, desgleichen die Decke, deren Mittelpunkt ein großes 
Drachenmedaillon bildet. Motive allerdings, sowohl für Schnitzereien 
als Malereien, sind durchgängig die nämlichen, wie man sie fast 
in jeder Pagode findet: nämlich Medaillons mit haraldischen Drachen- 
meändcr-Zeichnungen, Blumen und Phönixe. Übrigens erinnert der 
Linienschmuck wie ihn die Chinesen schon viele hundert Jahre 
lang auf Fenstern und Türen anbringen, lebhaft an den „Jugend- 
stil u unserer modernen Kunst. Im Innern des Tempels erhebt sich 
nach Norden eine Art Thron; auf denselben wird die Tafel des 
Himmels gestellt, vor welcher der Kaiser seine Verehrung macht. 
Dieselbe ist nach Art der Ahnentafeln angefertigt nur in größcrem 
Formate und von äußerst kostbarem Material. Auf demselben sind 
die Worte zu lesen; Hnang t'ien schang tj : „Erhabener Himmel, 
höchster Herrscher. u Um den Altar läuft ein blaues Gitterwerk, 
in dem nur der mittlere Weg freien Zutritt öffnet, aber auch dieser 
ist an beiden Seiten mit einem Geländer eingefaßt, welches mit 
goldenen Flammen verziert ist. Zu beiden Seiten des Altares ist 
eine kleine Erhöhung ; dort werden die Ahnentafeln der regierenden 
Dynastie aufgestellt, wenn der Kaiser den Tempel betritt. Übrigens 
hat Kuangsü den neuen Tempel noch niemals besucht; die Opfer 
wurden bisheran auf dem Altare im Freien dargebracht. Der Boden 
ist mit glatt geschliffenen Steinen rossettenartig gepflastert; der 
mittlere ist ein „Blumenstein* und soll besonderen Wert haben. 

Dreimal im Jahre besucht der Kaiser das Himmelsheiligtum, 
nämlich zum Beginne des Winters, im ersten Monat des neuen 
Jahres und das dritte Mal endlich zu Anfang des Frühlings. Der 
erste Besuch heißt tjiao t'ien „dem Himmel Rechenschaft ablegen". 
Bei dieser Gelegenheit werden einem Ochsen alle Todesurteile, 
die der Kaiser im Laufe des Jahres unterzeichnet hat, aufgebun- 
den; hierauf wird das Tier mitsamt den Urteilen in einem von 
grünen Ziegeln gemauerten Ofen verbrannt. Das Opfer des Stiers 
soll die etwaigen Fehlgriffe des Kaisers, welche er sich im Laufe 
des Jahres hat zu schulden kommen lassen, entsühnen, und ihm die 
Huld des Himmels von neuem erwerben. Der zweite Besuch heißt 
tao sin : „Übergabe des Neuen". Der Kaiser wird bei dieser Gele- 
genheit wieder vom Himmel beauftragt, das Volk für das kommende 
Jahr zu regieren. Der dritte Besuch endlich wird ta jü genannt: 
„Bitte um Regen". Der Monarch hat nämlich an erster Stelle für 
die Wohlfahrt seiner Untertanen zu sorgen; als ackerbautreibendes 



— 264 — 

Volk aber hängt sein Wohl und Wehe hauptsächlich von einer 
günstigen Witterung ab. Falls Dürre einsetzt oder Überschwem- 
mungen hereinbrechen, betrachtet es der Kaiser als seine Schuld; 
„er hat am Frühlingsanfang nicht gut gebetet u . Nur bei der ersten 
Cermonie dqs tjao t'ien besucht der Kaiser den Himmelstempel; die 
zwei andern Male werden die Opfer auf dem t'ien t'ä dargebracht. 

Was nun die Opfer betrifft, so bestehen dieselben aus zwölf 
schwarzen Ochsen, vier Schweinen, vier Schafen, zwei Hirschen 
und sieben Hasen. Die Hasen sollen die Stellen der Pferde ver- 
treten, die beim Opfer keine Verwendung mehr finden. Die Tiere 
werden zunächst in den Schlacht-Palast geführt (ta schöng fing), 
welcher in nordöstlicher Richtung vom Himmelstempel ziemlich weit 
entfernt liegt. Beim Schlachten ist besonders darauf zu achten, 
daß das Opfertier die Augen nicht schließt, denn es muß „sehend" 
auf den Opferaltar gelegt werden; andernfalls hätte der Himmel 
kein Wohlgefallen daran. Vom Schlachtpalast führt ein langer 
überdachter Weg in verschiedenen Biegungen zunächst zum „Reini- 
gungs-Palaste", wo die Tiere ausgeweidet und gewaschen werden. 
Von hier trägt man sie zum Küchenpalast (pio schöng hu) wo sie 
in Riesentöpfen ungeteilt gekocht werden. Nach vorschriftsmäßi- 
ger Zurichtung können sie dann in feierlicher Prozession durch 
den langen überdachten Gang zum Himmelstempel getragen werden. 
Den ganzen Weg entlang singen Bonzen litaneiartige Gebete, 
während der Kaiser in neun bestimmten Zwischenräumen sich 
auf den Boden zu werfen hat und bei jedem Kau~t'ou dreimal 
das Haupt zur Erde neigen muß. Für einen so hohen Herrn ist 
der Opferritus somit schon mit mancherlei Anstrengung verbunden. 
Besagter Gang ist nach einer Seite offen und zählt 72 Abteilungen 
(tjen), jede Abteilung soll in Beziehung stehen zu den 36 Säulen, 
welche den Himmelstempel stützen. Ein ganzer Apparat Gegenstände 
ist für die Opferfeierlichkeit und Prozession notwendig. Dieselben 
werden in zwei eigens für diesen Zweck hergerichteten Gebäuden, 
dem „Ost- und West-Palaste u (tung-Ku si-Ku) aufbewahrt. Natürlich 
benutzt der Kaiser bei der Opferhandlung eine besondere kostbare 
Kleidung. Dieselbe wird unter einem gelb seidenen Zelte, das auf 
einer Ausbuchtung der via triumphalis nach Osten hin aufgeschla- 
gen ist, angelegt. Das Zelt wird Köng j Ung genannt: „Palast der 
Kleiderwechslung". 

Wenden wir nun zum Abschiede noch einmal unsern Blick 
empor zum Himmelstempel. Fast glauben wir einen gigantischen 
stummen Opferpriester in reicher Gewandung vor uns zu sehen, 



— 265 — 

den Cermonienhute mit goldenem Riesenknopfe auf dem Haupte. 
Und sein Gesicht stellt eine mächtige, reich vergoldete Tafel vor, 
auf der wir die Zeichen lesen t'ji nien tien: „Gebetstempel (um ein 
glückliches) Jahr." Der Anblick wirkt feierlich erhabend; doch 
der Gedanke, daß die Herrscher des Riesenreiches schon Jahrhun- 
derte lang hier geopfert 1 ), aber nicht dem höchsten Wesen; gefleht, 
nicht recht wissend zu wem; Sühne geleistet, ohne entsündigt zu 
werden, dieser Gelanke weckt Traurigkeit in uns und Wehmut. 
Schreiton wir jetzt auf der via triumphalis weiter nach Norden 
zum t'ient'ä, dem „Himmelsaltare". Trägt ein Altar im Freien 
schon überhaupt den Charakter des Erhabenen an sich, so wird 
dieser Eindruck noch mehr erhöht, wenn man einen Altar in weißem 
Marmor vor sich sieht, umgeben von 42 Triumphbogen, glänzend 
in den Strahlen der Sonne und von solch gewaltigen Dimensionen, 
wie er sonst seinesgleichen wohl nirgends auf der Welt hat. Dazu 
paßt fürwahr als bestes Gewölbe der azurblaue Himmel und als 
Staffage die dunkelgrünen Gipfel hundertjähriger Cypressen, durch 
deren Wipfel es geheimnisvoll säuselt wie Opfergesang. Es naht 
als „Hohepriester" der „Sohn des Himmels" und schreitet mit 
prächtigem Gefolge langsam über die via triumphalis. Er läßt sich 
nieder unter einem gelb seidenen Gezelte, das an einer Seite des 
Altares aufgeschlagen ist. Sein Antlitz ist nach Süden gewendet, 
während die Opfertiere auf langen Tischen, die Augen weit geöffnet 
in peinlicher Ordnung dastehn, und die dienstbeflissenen Bonzen 
ihres Amtes walten. Jetzt wird die Tafel des Himmels auf einem 
mit schwerem Damast bedeckten Throne herbeigeschafft ; der Kaiser 
erhebt sich von seinem Sitze und neigt gegen Norden gewendet 
dreimal ehrfurchtsvoll sein Haupt zur Erde. Die nämliche Ceremonie 
wiederholt er in drei verschiedenen Pausen. In acht gewaltigen 
eisernen Opferschalen, die auf der östlichen Seite im Halbkreise um 
den Altar stehen und mehr als einen Meter im Durchmesser haben, 
werden dann zu Ehren der acht Ahnen des Kaisers auf dem Dra- 
chenthron drei Rollen fünffarbiger Seide verbrannt. Während der 
Nacht leuchten an drei Riesenstangen (saen-kuan-ken), die in süd- 
westlicher Richtung am Altare aufgepflanzt sind, drei mächtige Later- 
nen zu Ehren der drei Myten-Kaiser. Besagte Stangen haben die dicke 
von Mastbäumen großer Schiffe. Als dieselben z. Z. neu gefirnist 
wurden, waren sie von allen Seiten derart eingerüstet, als ob es 
gelte einen Kirchturm zu bauen, und mehr als ein halbes Jahr 
dauerte die Arbeit. 

Der erste war Yting-lao, ein Kaiser der Ming Dynastie. 



— 266 — 

Nach Beendigung der Opferceremonie verfügt sich der Kaiser 
mit seinem Gefolge zum Palaste im Opferhaine. Die kaiserliche 
Residenz ist nämlich vom Himmelstempel, welcher bekanntlich in 
der Chinesenstadt liegt, wohl eine halbe Stunde weit entfernt. Am Vor- 
abende des Opfertages begibt sich der Kaiser unter großem Gepränge 
von einigen Tausend Soldaten escortiert zum Haine. Er muß die 
Opferhandlung morgens in aller Frühe nüchtern verrichten ; Abends 
zuvor aber speist er im Paläste des Tempelhains. Zu diesem Zwecke 
geht auch eine Anzahl Köche mit. Ich zählte über fünfzig Feuer- 
ungen, die aus Luftziegeln im Freien aufgemauert waren. Ebenso 
sah ich ganze Reihen heizbarer Schlafstätten (k'an) aus Luftziegeln 
draußen aufgemauert. Auch das kaiserliche Bett ist ein k'an und 
wird von außen geheizt. Übrigens ist der Palast in ziemlich be- 
scheidenen Verhältnissen gehalten; zum Wohnen dient ein einzini- 
merige8 und einstöckiges Gebäude. Dasselbe ist kellerartig überwölbt. 
Dem Eingange gegenüber steht ein Thronsessel aus Ulmenholz, 
dessen Lehne mit herrlich geschnitzten Landschafts- und Genreszenen 
geziert ist. Zu beiden Seiten des Thrones sind Fächer aus Pfauen. 
federn befestigt; den Sitz überdeckt ein Polster aus gelber Seide. 
Außer einem niedlichen Teetischchen ist fast kein Möbel vorhanden. 
Hinter dem Thron steht eine dreiteilige Schirm wand aus kostbarem 
Holze, gleichfalls belebt durch wundervolle Schnitzereien. Die Wände 
sind kahl; nur über dem Throne hängt eine vom Kaiser Kien-lung 
eigenhändig geschriebene Tafel, auf welcher zu lesen ist: Tjin go 
jo t'ien: „In Ehrfurcht dem mächtigen Himmel gehorchend". Vor 
dem Palaste erhebt sich eine Esterade deren zwei Ecken mit pago- 
denartigen kleinen Häuschen flankiert sind. Eines dient zum Ver- 
brennen von Weihrauch; und in das andere wird z. Z. des kaiserlichen 
Besuches eine knabengroße, metallne Figur gestellt, tung gin genannt, 
die einen vergötterten Pagen des Kaisers vorstellen soll. Die Schinn- 
wand verdeckt nach Westen hin eine Türe, durch die man in einen 
zweiten ebenso einfachen Palast gelangt, der dem Kaiser als Schlaf- 
gemach dient. Kein gewöhnlicher Sterblicher darf dahin seinen Fuß 
setzen. Die Türen sind mit gelben Papierstreifen im Pluszeichen 
(X) überklebt und versiegelt. Vor dem Palaste erblickt man rechts 
und links vom Eingange zwei mächtige eiserne Wasserbehälter, 
die sich zu Kneipianerzwecken vortrefflich eignen würden. Das 
Wasser darin soll dem Kaiser für Reinigungszwecke dienen. Endlich 
fällt uns noch ein niedriger, massiver Glockenturm in die Augen. 
Auf meine Frage was derselbe zu bedeuten habe, erklärte man mir, 
die Glocke würde geschlagen, sobald der Kaiser zum Himmelstempel 



— 267 — 

oder -Altare aufbreche, damit dort bei der Ankunft Seiner Majestät 
alles rechtzeitig in Ordnung sei ; jede Unordnung werde strengstens 
bestraft. Die ganze Palastanlage ist mit einem doppelten Wasser- 
graben umgeben, in dem aber meistens das Wasser fehlt. Ebenso 
tragen zwei Umfassungsmauern mit bei zur Sicherheit des kaiser- 
lichen Herrschers. Die äußerste Umfassungsmauer bildet nach Aus- 
sen hin eine überdachte Säulengallerie, worin sich die Leibwache 
des Kaisers lagert; dieselbe ist geschützt gegen die Unbilden der 
Witterung, hat aber keinerlei Zugang in die inneren Höfe der Paläste. 
Dem drei höchsten Herrschern opfert der Herrscher des ge- 
waltigen Chinesenreiches dreimal im Jahre im Laufe dreier Monate. 
Die übrige Zeit ist der Tempel einsam und verlassen, weil es sonst 
keinem Sterblichen erlaubt ist, dort seine Andacht zu verrichten. 
Jetzt allerdings, da die Ausländer freien Zutritt haben, geht kaum 
ein Tag vorüber, der keine Besucher brächte, und immer mehr 
lichtet sich das geheimnisvolle Dunkel, das ihn bisheran umhüllte. 
Und der moderne Eliaswagen, welcher unbarmherzig die Umfassungs- 
mauer der Chinesenstadt durchschnitten und hart am Tempelhain 
vorbeieilt, hat schon längst das tiefe Schweigen gestört, welches 
bisheran Tempel und Hain umfangen hielt. 



Pekinger Tagebuch. 

Peking, 24. Februar 1902. 

Ja i vii das glückliche Zeiten für die christliche Religion, 
j als der Franziskanerpater Johannes von Monte Corvino 
f%& dem Palaste des großen Khan gegenüber wohnte, und 
J^j dw Kaiser aus seinen Gemächern die Psalmen singenden 
Knaben mit Wohlgefallen anhörte. Seit der Zeit sind sechshundert 
Jahre verflossen, und man sollte glauben, daß sei Zeit genug ge- 
wesen, um das große Chinesenreich für den Glauben zu gewinnen. 
Aber maen-maen-ti heißt die Devise der Chinesen, auch beim Christ- 
werden : Eile mit Weile. Selbst die glorreichen Zeiten eines Pater 
Ricci und Adam Schall waren nur vorübergehend. Seit Jahrhunder- 
ten hat kein Herrscher des himmlischen Reiches den Missionaren 
den Ein- und Zutritt in seinen Palast mehr erlaubt. Wohl waren 
die Lazaristen-Patres immer die näohsten Nachbaren der kaiserlichen 
Herrlichkeit, aber ein gegenseitiges „Le-uang", wie die Chinesen 
sagen, ein Kommen und Gehen gab es nicht. 




— 268 — 

Recht bedeutsam scheint es daher für die christliche Religion 
zu sein, daß der chinesische Kaiser und die Kaiserinwitwe den 
Bischof Favier, sowie dessen Coadjutor Msgr. Jardin gestern zu sich 
einladen ließen. Die Herren ließen sich das natürlich nicht zwei- 
mal sagen und wurden dann mit großen Pomp in der verbotenen 
Stadt empfangen. Dort erhielten sie Privat-Audienz, wobei außer 
dem Kaiser und der Kaiserinwitwe nur der Prinz Ching gegenwärtig 
war. Worüber gesprochen wurde, scheint noch Geheimnis zu sein; 
jedenfalls sind aber die beiden Bischöfe mit der Audienz sehr zu- 
frieden. Das Wort führte die Kaiserinwitwe, der Kaiser beobachtete 
Stillschweigen ; nur soll er hier und da freundlich zugenickt haben. 
Die alte Dame aber habe hoch und heilig versichert, es soUten nie 
mehr derartige Boxerunruhen vorkommen, die Aufrechthaltung des 
Friedens werde ihr erstes und ernstetes Bestreben sein. — 

In dem Speise- und Erholuugsaale der Lazaristen duftet und 
blüht es gegenwärtig, als ob voller Frühling dort eingezogen sei. 
Und das ist er denn auch in Gestalt einer ganzen Reihe kostbarer 
Blumen in nicht minder kostbaren Töpfen. Sie sind das Geschenk 
des kaiserlichen Obereunuchen Li. Als s. Z. die verbündeten Trup- 
pen Peking genommen hatten, nahte für die kaiserlichen Kammer- 
damen eine schwere Zeit heran, und die meisten flohen in die Berge. 
Dort war es natürlich nicht so gemütlich, wie daheim; da hieß es, 
Entbehrungen durchmachen und Buße tun. Als nun schließlich 
durch Vermittlung des Bischofs Favier die Sache dermaßen geregelt 
wurde, daß die Damen wieder nach Peking zuiückkehren konnten, 
ohne daß ihnen Leid geschah und Unehre angetan wurde, war 
Niemand glücklicher und dankbarer, als sie und der verantwortliche 
Li. Diese Dankbarkeit hat der Obereunuche nun in blühenden 
und duftenden Blumen offenbart, gewiß ein passendes Neujahrsge- 
sehenk in Bezug auf die kaiserlichen Schönheiten, die der Sturm 
nicht entblättert und geknickt hat. 

Peking, 12. März 1902. 

„Papa weshalb feierst denn nicht öfter Geburtstag im Jahre*, 
meinte der schlaue Willi, da er sich eben die Namenstagstorte 
schmecken ließ. „Nur zufrieden Willi, die Mama ist noch da und 
der Onkel, und die feiern alle noch Geburtstag", tröstete der Papa 
den Kleinen. — Unsere Soldaten aus den verschiedenen Bundes- 
staaten hier in Peking bilden auch eine „ Staatsfamilie u und da ist 
denn auch jedesmal eine Freude, wenn ein Geburtstag gefeiert 



— 269 — 

werden kann. Ist das Leben in China ja doch einförmig und ein- 
tönig genug, und andere Abwechslungen als die man sich selbst 
bereitet, gibt es nicht. 

Nachdem im Januar der Geburtstag Seiner Majestät des deut- 
schen Kaisers gefeiert war, kam im Februar der Geburtstag des 
Königs von Würtemberg an die Reihe, und gestern war das alte 
Klubgebäude gedrängt voll zur Feier des Geburtstages des Prinz- 
regenten Luitpolt von Bayern. Nicht nur Deutsche waren es, die 
sich dort eingefunden, sondern es waren auch verschiedene andere 
Nationen vertreten, und selbst Japaner und Chinesen fehlten nicht. 
Alle wollten den Aufführungen beiwohnen, welche unsere Soldaten 
machten. Die haben denn auch ihr Bestmöglichstes geleistet sowohl 
in Gesang und Musik, als in allerhand Vorstellungen. Ein mehr- 
stimmiger Gesangchor ^trug einige Stücke vor, die jedenfalls auch 
für musikalische Ohren einen Hochgenuß bildeten. Auf der Bühne 
war ein Turnreck errichtet, an dem eine Reihe kräftiger junger 
Leute ihre exakten Übungen machten, die ihnen viel verdientes 
Händeklatschen und Bravorufe einbrachten. Besonderes Vergnügen 
erweckte ein Schnellzeichner, der in fabelhafter Geschwindigkeit mit 
einem Stücke Kreide allerhand Bilder auf der Tafel hervorzauberte, 
vom Schulbuben angefangen bis zum Fürsten Bismark; daß es 
dessen Konterfei sein sollte, erkannte man sofort, selbst wenn es 
der Künstler nicht gesagt hätte. Auch verstand er es, aus ein und 
demselben Bilde sich einen Musketir, Gefreiten, Sergeanten und 
Leutnant herausmausern zu lassen, indem sich der Umfang immer 
mehr erweiterte, der Bart größere Dimensionen annahm und die 
Abzeichen sich mehrten. Das Bild des Prinzregenten von Bayern 
bildete den Abschluß. 

Nachdem der Gesangchor durch die zu Herzen sprechenden 
Melodien des deutschen Bundesliedes die Gemüter in feierliche 
Stimmung versetzt, brachten die schmetternden Töne des Armee- 
marsches 113 Begeisterung und Leben in die Versammlung. Im 
Nu versetzte uns dann die Bühne auf afrikanischen Boden mit 
tropischer Fauna und Flora. Aber auch die Neger kamen bald 
zum Vorschein mit glänzenden Ringen in Nasen und Ohren. Die 
zwei tapferen „Sachsen" mußten sich wacker mit den schwarzen 
Kerlen herumbalgen, um nicht von ihnen verspeist zu werden ; aber 
„sie fürchteten sich nicht". Ehemaliger Unteroffizier Kutschke hatte 
sich allerdings eine schwarze Hälfte angefreundet, Lula genannt, 
die aber wohl am liebsten ihren Geliebten als Braten aufgegessen 
hätte. Daß es nicht so weit kam, konnte der untreue Kutschke 



— 270 — 

Heiner treuen Karoline verdanken, die ihm sogar bis nach Kamerun 
gefolgt war. Und daran hatte sie wohl getan, denn auch die schwarze 
Lula hatte schon längst einen Mann gehabt und jeder kam nun 
wieder an sein rechtmäßiges Eigentum. — Beim Anblick der Kame- 
runer Schutztruppe wird wohl mancher Musketir gedacht haben: 
„Ne in Peking ist's doch noch scheener, als neben diesen schwär- 
zen Deibels im heeßen Afrika stehen zu müssen. u 

In No. 5 trat ein musikalischer Clown auf. Zwei Spekulanten 
hatten in weiser Berechnung der L;ge leere Flaschen zu einer 
musikalischen Tonleiter aufgehängt, denen sie mit wundervollem 
Geschick allerhand Lieder entklimperten. Ein angenehmes Geschäft 
muß das aber doch nicht sein, und viele Sportein wirft es jedenfalls 
auch nicht ab. Glücklicher, wer die vollen Flaschen leeren kann 
und selbst dabei die Lieder singt. Jedenfalls ist Niemanden anzu- 
raten, in Anbetracht der vielen leeren Flaschen, die in Peking, und 
anderswo noch mehr, der Füllung harren, als gläserner Musikant 
sein Brot zu verdienen. 

Das humoristische Turnen muß wohl nicht ganz mit rechten 
Dingen hergegangen sein. Da wurden Übungen aufgeführt, die 
selbst über das Können der Affen hinausgehen. Oder sollten die 
drei Kapriolenmacher gar leibhaftige Affen gewesen sein? Jeden- 
falls sahen sie solchen täuschend ähnlich. 

„Onkel Braune mit der Posaune* ist ein wahres Genie in 
seinem Fach, und er weiß nicht nur mit der Posaune, sondern auch 
mit seiner alten Baßgeige zu hantieren. Am Besten stand dem 
Künstler aber die verfrorne Schnapsnase, die mehr Natur gewesen 
zu sein scheint, während sich der künstliche Vorder-Pegasus zum 
größten Vergnügen der ganzen Gesellschaft als Fälschung entpuppte. 

Das säuberliche Frauenzimmer in der „Gerichtssitzung" hatte 
sich bald die Sympathie Aller erworben, und selbst der strenge 
Wächter des Gesetzes blinzelte heimlich zu ihr hinüber. 

Doktor Eisenbart vollführte in Schattenbildern seine Wunder- 
künste. Da wurden dem armen Kranken ein Dutzend leere Konser- 
venbüchsen, lebendes Geflügel, eine Rolle Stricke und dergleichen 
Dinge aus dem Magen genommen — und die Körperverhaltnisse 
waren mit einem Male wieder in normalem Zustande. — Ein anderes 
Schattenbild zeigte einen Nachtfalter, der schon einige Male unter 
dem Fenster seiner Geliebten ein Ständchen gebracht; auch hatte 
er sich dabei das eine oder andere Mal einen Kuß erschnappt. 
Eines guten Abends aber war ihm das Glück weniger hold. Da 
er wieder sehnsüchtig unter dem Fenster stand und nach oben 



— 271 — 

wedelte, überschüttete ihn der Großpapa — nicht mit Wohlwollen, 
sondern mit Wohl — gerüchen, und die Glückseligkeit hatte ein 
jähes Ende. 

Der große Zapfenstreich, von der Bataillonsmusik und den 
Spielleuten veranstaltet, bildete einen würdigen Abschluß der Feier. 
Jedermann war befriedigt und ging mit dem Bewußtsein nach Hause, 
einen schönen Abend verlebt zu haben. Für dieses Jahr sind nun 
die Geburtstagsfeierlichkeiten zu Ende. Finis coronat opus, hat der 
Veranstalter der gesterigen Festlichkeit wohl gedacht. Er hat denn 
auch vollauf den Beweis geliefert, daß bestes Können und ener- 
gisches Wollen sehr viel zu leisten vermögen, mögen die Mittel 
auch beschränkt, und die Zeit knapp bemessen sein. 



Peking, 21. März 1902. 

Habe es mir gedacht: Venenum in cauda. Kommt da der 
Frühlingsanfang, der 21. März, heran und macht einen ganz gewal- 
tigen weißen Strich durch all die grünen Hoffnungspläne der Aus- 
flügler und Bauunternehmer. Schneit es da vom Himmel herunter 
mit einem Eifer, als ob es gelte, die Welt zu begraben. Das wäre 
ein nettes Weihnachtswetter gewesen und hätte einen das Fest noch 
heimatlicher feiern lassen ; denn China im Schnee sieht der Heimat 
doch weit ähnlicher, als China im Klee. 

Die Chinesen feierten Frühlingsanfang bereits vor anderthalb 
Monaten und damals war es auch Frühlingswetter ; vor einem halben 
Monat wurde „Aufwachen der Insekten" gefeiert (King-tse) und 
einige Fliegen haben sich denn in der Tat auch schon aus ihrem 
Verstecke hervorgewagt. Gestern war „Mitte Frühling" (Tsch'un-fin) 
und der behängt nun die schon knospenden Bäume schwer mit 
weißen Schneeblüten. 

Gebaut wurde in der letzten Zeit mit allen Kräften. Dem 
Froste wurde getrotzt, indem man eine gute Portion Salzwasser 
unter den Mörtel mengte und das Mauerwerk während der Nacht 
mit Matten behing. Heute wohnt Ruhe unter allen Gipfeln ; unsere 
Kulis schlafen in süßem Frieden und sammeln Kräfte für den mor- 
gigen Tag, wenn's besser Wetter wird. Wo man einen Ofen hat, 
setzt man sich dahinter und betrachtet die Schneeflocken, die vor 
den Fenstern herumtanzen, und kann elegische Betrachtungen an- 
stellen, falls Zeit und Lust dazu vorhanden sind. 

Verstummt ist heute auch das freche Krächzen der Raben und 
das Schnalzen der Elstern, die in den letzten Wochen ebenfalls 



— 272 — 

eine gewaltige Bautätigkeit entwickelt hattpn. Aber wohl kein 
Heim wird gegründet, ohne daß es nicht zu Streitigkeiten käme 
um das rechtmäßige Besitztum oder um die „bessere Hälfte". Heut« 
machen sie sich das wenige Futter streitig, das sie mit vieler Mühe 
unter dem Schnee hervorkratzen. 

Langsam gravitätisch schreitet da durch die verschneiten 
Straßen noch eine Karawane Kamele, schwer mit Kalk beladen. 
Mit jedem Schritt mehrt sich ihre Last; ein ganzer Hügel von 
Schnee hat sich auf ihrem Rücken abgelagert. Aber unverdrossen 
folgt das eine Tier dem andern und das erste dem Führer. In 
Peking fange ich an zu begreifen, daß sich der Araber auch in sein 
Kamel verlieben kann. Es sind das so recht die Trappisten der 
Tierwelt. Schweigsam, immer gesammelt, arbeitsam, geduldig, arm 
in Nahrung und Kleidung, dienen sie ihrem Herrn. 



Peking, den 30. April 1902. 

Also der Kaiser und die Kaiserinwitwe haben trotz Gegen- 
vorstellung des Prinzen Ching doch die kostspielige Reise zu den 
Ahnengräbern unternommen. Und sie haben sich dort länger auf- 
gehalten, als anfangs im Reiseprogramm vorgesehen zu sein scheint. 
Gestern nachmittag gegen drei Uhr zogen die Majestäten endlich 
durch das Chien-men wieder in den Palast ein. Schon morgens 
um neun Uhr hatten sich Schaulustige auf der Mauer eingefunden, 
und ihre Anzahl wuchs mit jeder Stunde. Chinesen aber, welche 
sich unter dieselben schmuggeln wollten, wurden von wachehalten- 
den Soldaten unbarmherzig hinuntergetrieben, falls sie sich nicht als 
Diener von Ausländern legitimieren konnten. 

Daß so eine Kaiserreise riesig viel Geld kostet, begreift jeder, 
der die langen Reihen von Wagen und Packträgern zählt, die dem 
Zuge vorangehen und nachfolgen. Schon um neun Uhr kamen die 
ersten Wagen heran und nachmittags um vier Uhr waren die letzten 
noch nicht eingezogen. Jedenfalls waren mehr als vier- oder fünf- 
hundert schwere Karren zu zählen, beladen mit Proviant, Möbeln, 
Zelten, Töpfen und allem Möglichen, was unterwegs nicht zu finden 
ist. Ja, es scheint fast, als wenn der Kaiser sich auch seinen 
Blumengarten nachtragen ließ. Künstliche und natürliche Blumen 
wurden von Kulis in langen Reihen zurückgebracht. Alle möglichen 
Nippsachen, Blumenvasen, Uhren und dergleichen Dinge schleppten 
viele Träger schwer beladen daher. Doch ihr verstaubtes, mit Schweiß 
überronnenes Gesicht wurde von einem roten Hute überschattet, 



— 273 — 

und das war Ehre genug und versüßte die Arbeit. Die meisten 
hatten überdies noch einen gelben Lappen als Fahne irgend- 
wo befestigt: an den Wagen sah man solche Fahnen in der Regel 
dem Maultiere über dem Rücken (will ich sagen) flattern, und 
bezeichneten damit den Wagen und die Last als kaiserliches Ei- 
gentum. Freilich sahen die Frachtwagen und auch die elenden 
Karrentiere nichts weniger als kaiserlich aus. 

Der Zug bot ein ungeordnetes Durcheinander: Frachtwagen, 
Packträger, Salonwagen, Sänftenträger, Reiter, alles folgte in buntem 
Aufeinander. Die Salonwagen haben eigene Farbe und Form. Das 
Gelb ist just so wie die Farbe unserer Postwagen in Deutschland. 
Was die Konstruktion aber angeht, so sind die Räder nicht in der 
Mitte des Wagenkastens angebracht, sondern am äußern Ende, was 
für den Insassen angenehm, für das Tier aber weniger bequem sein 
dürfte. Nun, eine solche Bequemlichkeit darf sich in China übri- 
gens auch nur der Kaiser erlauben oder seine Frauen, die wohl in 
den gelben Wagen fahren mochten. 

Mancher von den Europäern hatte sich längst hungrig gesehen, 
und hätte sich da oben auf der Mauer eine kleine Kantine etabliert, 
so würde sie heute sicher glänzende Geschäfte gemacht habe. Ich 
glaube, bei einer späteren Gelegenheit wird man es sich zu Nutzen 
machen. Als nun gegen halb drei Uhr die Kavallerie unter Musik 
durch die Tore zog, suchte sich jedermann einen geeigneten Platz 
zu ergattern, um den „Himmelssohn" wenigstens einmal im Leben 
von Angesicht zu sehen. Das Fatale dabei war nur, daß man so 
recht nicht wußte, in welcher Pagode er seine Andacht verrichten 
werde. Eine Pagode liegt rechts vom Wege, die andere links, 
beide aber waren vorbereitet, und die Wege dorthin waren mit 
gelbem* Sand bestreut. Auch die Bonzen schienen im Zweifel dar- 
über zu sein, welchem Gott heute die Ehre des kaiserlichen Besuches 
zu Teil werden sollte, dem Kriegsgotte Kuendi links oder der 
Göttin Pussa rechts. 

Als dann die Kavallerie vorbeigeritten — gegen hundert au- 
stralische Pferde und eine Anzahl Ponies — kam die Infanterie 
herangezogen in drei verschiedenen Abteilungen, jede zu ungefähr 
fünfhundert Mann. Die Kerls marschierten gar nicht so übel; daß 
einige die Beine etwas krumm hielten, mußte man ihnen verzeihen, 
denn sie waren jedenfalls müde. Endlich ließ sich denn eine gelbe 
Sänfte erblicken, und richtig, sie wurde nach links getragen direkt 
vor die Pagode des Kriegsgottes. Nachdem sie niedergesetzt und 
ein wenig nach vorne* aufgekippt war, stieg der Kaiser heraus und 

H. Pieper, „Neue Bündel". 18 



— 274 — 

ging höhenden Schrittes in die Pagode. Was er dort machte, 
konnte man naturlich nicht von oben sehen. Lange blieb er nicht 
darin, und wie er gekommen, stieg er auch wieder in die Sänfte, 
ohne sich umzusehen oder den Europäern oben auf der Mauer einen 
Blick zu gönnen. 

Wie sich die Zeiten andern ! Wo sich einstens die gewaltigen 
Tortürme der Chinesen erhoben, gehen jetzt die Ausländer spazieren 
und sehen, wie von einem Amphitheater, auf den Innentorhof hin- 
unter. Das Schauspiel ist der „HimmelsHohn" und die chinesi- 
sche Virago, die noch vor wenigen Jahren kein ungeweihter 
schauen durfte. 

Als die Kaisersänfte fortgetragen war, erschien bald darauf die 
zweite Sänfte; darin mußte die Kaiserin witwe sitzen. Mancher 
glaubte», die Kaiserin werde doch sicher der sanften Göttin Pussa 
einen Besuch machen und eilte schnell auf die andere Seite der 
Mauer. Aber er wurde getäuscht; auch diese Sänfte wurde zur 
Pagode des Kriegsgottes getragen und dort niedergesetzt. Der 
Deckel dieser Sänfte war mit Pfauenfedern reich verziert, während 
über der Kaisersänfte nur ein maskenartiges Seidengewebe hing. 
Im Gegensatz zum Kaiser entstieg die Kaiserinwitwe ihrem Trag- 
stuhle, ohne daß dieser gekippt wurde. 

Mit der Andacht hatte es die alte Dame — die übrigens gar 
nicht so alt ist und aussieht — vor der Hand noch nicht so eilig. 
Sie schaute sich erst einmal ganz gemütlich die Ausländer an, die 
auf der Mauer lehnten. Diese hingegen hefteten ihre Blicke auf die 
hohe Frau, die so liebenswürdig war, ihnen recht viele Muße 
hierfür zu schenken. Dann ging sie in den Tempel. Als sie nach 
einer Weile aus demselben heraustrat, begann das gegenseitige 
Angucken von Neuem. Mancher Fremdling war verlegen,* wie er 
der Kaiserin einen Ausdruck der Höflichkeit bezeugen sollte und 
zog ehrfurchtsvoll seinen Hut. Für den Moment war es feierlich 
stille, und die hohe Dame ging in ihrer Freundlichkeit so weit, 
einige Worte hinauf zu sprechen, freundlich zu nicken und zu 
winken. Wie es schien, galt das Nicken und Winken hauptsächlich 
den anwesenden Damen. 

Hierauf ging es wieder in die Sänfte hinein und weiter hinter 
die Doppelmauern der verbotenen Stadt. Die Glücklichen, die den 
rechten Platz gewählt hatten, waren vollauf befriedigt. Sic hatten 
den Sohn des Himmels gesehen, die Kaiserinwitwe mit Muße 
betrachtet und waren erfreut über das bezeigte Wohlwollen. Obwohl 
nun ja dem gnädigen Kopfnicken alle Achtung zu schenken und 



— 275 — 

dasselbe hoch genug zu schätzen ist, meine ich doch, daß man sich 
darob nicht allzu sehr entzücken lassen darf. Wir wünschen nur 
das Wohlwollen, das die hohe Dame in ihrem Äußern den Auslän- 
dern gegenüber bekundet, auch in ihr Herz hinein. Wenn es schon 
darin ist, dann um so besser. 



Peking, den 15. Mai. 1902. 

„Num quid confitebitur tibi pulvis ?" Soll der Staub dich 
denn preisen ? Hier in Peking hätte der Psalmist so fragen können, 
ohne an seinen eigenen Staub zu denken. Statt der Lerchen er- 
hebt sich hier der Staub zum Himmel und zwar in einer Mächtig- 
keit, daß er bisweilen die Sonne verdunkelt und den Tag zur Nacht 
umwandelt. Gestern nachmittag um drei Uhr wenigstens haben 
wohl die meisten, die im Zimmer zu tun hatten, Lampen angezün- 
det, denn ohne diese konnte man nicht mehr arbeiten. Viele 
Chinesen bekamen heillosen Schrecken und meinten, der Drache 
durchziehe die Luft. Um seinen Zorn zu besänftigen, eilten sie zur 
Pagode und verbrannten Weihrauch. Eine Christenfamilie, die ich 
zufällig besuchte, fand ich auf den Knieen liegend und gemein- 
schaftlich betend. Von den dienenden Boys baten einige, nach 
Hause gehen zu dürfen, um die Mutter zu trösten oder den Vater 
zu suchen. Nach Verlauf von einer Stunde klärte sich der Himmel 
wieder auf. Ein kleines Gewitter, das eingesetzt hatte, spendete 
etwas Regen, der die Luft vom Staube reinigte. 

Heute früh um neun Uhr war in der französischen Kathedrale 
feierlicher Seelengottesdienst für die in Westindien Verunglückten. 
Außer fünf Bischöfen und einer Anzahl Priester nahmen auch die 
Vertreter fast sämtlicher Nationen daran Teil; das große Gottes- 
haus war bis auf den letzten Platz von Chinesen gefüllt. Während 
ein älterer Pater die Requiems-Messe zelebrierte, hielt Bischof Favier 
vor einer mächtigen Tuba, welche mitten in der Kirche aufgestellt 
war, das feierliche Liberal 



Peking, 4. Aug. 1902. 

Bekanntlich sind zur Zeit der Wirren in Peking die vier 
Hauptkirchen daselbst sämtlich zerstört worden, mit Ausnahme der 
Pei-t'ang (Nordkirche, Kathedrale), welch letztere aber auch arg 
beschädigt wurde. Indes ist dieselbe sofort nach dem Einzüge der 
fremden Truppen wieder hergestellt worden ; die beiden Türme aber 

18* 



— 276 — 

wurden noeh um ein bedeutendos höher aufgeführt, als Hie früher 
gewesen. Allmählich fängt man jetzt auch an, die anderen Kirchen 
wieder aufzubauen. Zunächst werden einige Wohnungen für den 
bauleitenden Priester und seine Leute errichtet, und ein Lokal dient 
zugleich als vorläufige Kirche. — Bei den Aufräumungsarbeiten in 
der Ostkirche (Tung-fang) wurden kürzlich auch zwei Brunnen, die 
vollständig verschüttet waren, gereinigt. Alles Mögliche hatten die 
Boxer hineingeworfen, zumeist schwere Ornamentsteine und Stücke 
einer zertrümmerten Kommunionbank aus Marmor. Unter diesem 
Schutt wurden aus einem Brunen fünf, aus dem anderen sechs Lei- 
chen hervorgeholt, welche noch verhältnismäßig gut erhalten waren. 
Die Armen, haben jedenfalls ein schnelles Ende gefunden. Abgesehen 
von dem Brunnenwasser mußte ein Stein von oben, der ihren Kopf 
traf, genügen, um den sofortigen Tod herbeizuführen. Im ganzen 
sind in der Ostkirche gegen 400 Menschen ums Leben gekommen, 
eine Anzahl Waisenkinder und Christen aus der Umgegend ; ferner 
vier einheimische Schwestern und ein französischer Priester namens 
Garriques. Wenn die hohen Trümmermassen der zerstörten Kirche 
aufgeräumt werden, kommen ohne Zweifel noch viele Leichen 
zum Vorschein, die unter denselben verschüttet sind. Von der 
Kirche stehen nur mehr die äußeren Fundamente. Die Posta- 
mente der Säulen haben die Boxer bis tief in den Boden aufge- 
wühlt. Man vermutete wohl Silber darunter oder — Kinder- 
augen (aus denen mich Boxerbehauptung die Missionare Arznei 
machen sollten). 



Peking, 10. Febr. 1903. 

Das Gesandtschaftsviertel ist um ein neues Gebäude vermehrt 
worden. Diesmal ist es ein kirchliches. Ein schmuckes Gotteshaus 
in gotischem Stil erhebt sich dem belgischen Konsulate gegenüber, 
ungefähr in der Mitte der Gesandtschaftsstraße. Zwei reich verzierte 
Türme schmücken die Front; das Langschiff ist allerdings ziemlich 
eintönig und schmucklos gehalten. Das Mauerwerk ist aus kaiser- 
lichen Ziegeln aufgeführt; diese Ziegel übertreffen die gewöhnlichen 
um das zehnfache an Gewicht und sind auch eigens fest gebrannt. 
Säulen und Gewölbe der Kirche sind aus Holz aufgeführt, wie es 
auch bei der bischöflichen Kathedrale (Peit'ang) der Fall ist. Abge- 
sehen von der mangelnden Festigkeit macht eine solche Bauart auch 
keinen monumentalen Eindruck; eine Feuersbrunst aber kann in 
derartigen Kirchen in wenigen Stunden die größten Verheerungen 



— 277 — 

anrichten. Baumeister der Kirche war der greise Bischof Msgr, 
Favier, der auch die Peit'ang Kathedrale erbaut und dieselbe nach 
den Boxerunruhen hat wieder herstellen lassen. Fast täglich kam 
der alte Herr in einem chinesischen Karren, bespannt mit einem 
trefflichen Maultier, von seiner dreiviertel Stunden entfernten Resi- 
denz auf den Bauplatz gefahren, traf Anordnungen, gab seine Anwei- 
sungen und fuhr dann zur Peit'ang zurück. 

Die neue Kirche ist ausschließlich für die Ausländer bestimmt, 
besonders auch für das katholische Militär. Der Gottesdienst für 
unsere deutschen Truppen, deren Lager in unmittelbarer Nähe der 
Kirche sich befindet, wird voraussichtlich dort ebenfalls stattfinden. 
Zu wünschen wäre nur, daß die französichen Soldaten im Kirchen- 
besuche mit einem besseren Beispiel vorangingen, als es bisheran 
geschehen ist. Der Drill bei unseren deutschen Truppen zeigt sich 
nich nur im Dienste als kaiserlicher Soldat, sondern auch im Dienste, 
den der Soldat seinem höchsten Feldherrn, dem allmächtigen Gott 
gegenüber schuldig ist. Unsere Truppen werden zum pflichtmäßigen 
Gottesdienste beordert. Die Franzosen aber stellen es in das Belieben 
des einzelnen, ob er an Sonn- und Festtagen dem Gottesdienste 
beiwohnen will oder nicht. Infolge davon ist der offizielle Gottes- 
dienst so gut wie von Truppen leer. 



Von Peking nach Puoly. 

as soll aber ein glorreicher Einzug werden, dachte ich mir 
nicht ohne Hochgefühl, als ich von Peking fuhr, in Be- 
Jj* Leitung einer chinesischen „ Staatskarosse ai ), die ich für 
g^ das halbe Geld gekauft, und einen großen Gaul, den ich 
noch in letzter Stunde im Preise von 35 Dollar erstanden hatte. 
Doch mu-tsä-gin, tch'öng-tsä-t'ien: „ Der Mensch macht seine Pläne, 
das Gelingen hängt vom Himmel ab." Die Nemesis meines stolzen 
Hochgefühls sollte nicht lange ausbleiben. Meine liebe „Alice", 
die hochbeinige Stute hatte trotz ihres gräflichen Namens elende 
Tage verlebt bei ihrem früheren Herrn, davon gaben die hervor- 
stehenden Hüftenknochen und die durchschimmernden Rippen ein 
beredtes Zeugnis. Aber sie sollte es bei mir besser haben; war 




l ) In Peking ist im Allgemeinen alles teurer als bei uns in Schantung. 
Nur die Pekinger- Wägen (Vjao-t8che) sind bedeutend billiger. Da ich eines 
solehen für die Mission bedurfte, benutzte ich die Gelegenheit, dort einen zu kaufen. 



- 278 — 

sie doch noch sehr jung, erst neun Jahre alt, hatte man mir gesagt, 
und da läßt sich in Kürze das fehlende Fleisch und Fett anfuttern. 
Zu meinem größten Leidwesen aber mußte ich erfahren, daß Alice 
bereits eine recht alte Schachtel sei, mit der ich in Schantung wahr- 
lich keinen Staat mehr machen konnte. Es schien mir somit das 
Beste, sie bei Zeiten zu verschachern, nicht einem Juden, sondern 
einem Chinesen, der mir 38 Dollar darfür zahlte. Ich war wieder 
im Besitze meines Geldes, den Profit von drei Dollar aber hatte 
mir das Tier bereits an Futter verfressen. Wieder stand ich da 
allein mit meinem Karren, hegte aber noch immer die stille Hoffnung 
mit der Zeit auch das notwendige Gespann zu bekommen. 

In der Tat sah ich mich nach wenigen Tagen im Besitze 
eines herrlichen Pferdes, das mir freilich nichts gekostet, aber — 
auch nicht gehörte. Es war ein Geschenk des Herrn Generals an 
den Bischof von Anzer. Aber ich wollte doch die Freude haben 
damit einen feierlichen Einzug zu halten in Puoly. Zudem konnte 
ich für billiges Geld ein starkes Maultier bekommen; (Unser Bru- 
der Öconom hatte schon längst Verlangen nach solchem) das sollte 
das Gespann bilden vor meinem „Staats wagen u . Alles war klug 
durchdacht und fein berechnet nur t'ien pu gung: „Der Himmel 
wollte es anders haben". Schon öfter waren in den letzten Tagen 
Regengüsse niedergegangen und noch immer machte der Himmel 
kein freundliches Gesicht. Tags vorher als ich eben aufbrechen 
wollte, erhielt ich Nachricht, daß die Wege umpassierbar seien, an 
ein Durchkommen mit dem Karren sei nicht zu denken. 

Also „es wäre so schön gewesen", aber es hatte nicht sollen 
sein. Ich mußte mich für eine Barke entscheiden um auf derselben 
meine Reise zu Wasser zu machen von Tient.rin nach Lintsing. 
Von dort hatte ich dann noch einen Landweg von 14 Stunden, der 
unter günstigen Verhältnissen in einem Tage zurückgelegt werden 
konnte. Schon war ein Schiff gemietet zum Transport der Waren, 
die ich für unsere Waisenhäuser gekauft hatte. Als alles verladen 
war, wurde dann auch der Wagen hinaufgezogen ; die Räder muß- 
ten ins Innere des Schiffes verladen werden, der Wagenkasten aber 
paradierte auf dem Vordersteven, während am Ruder die deutsehe 
Flagge wehte. Ich selber mußte zwischen Kisten und Kasten 
mir ein Plätzchen suchen, mein nächster Nachbar waren die 
Wagenräder. 

Meinen Mafu schickte ich auf dem Landwege fort. Ihm hatte 
es das Schicksal zugedacht seinen Einzug zu halten auf dem euro- 
päischen Pferde, daß er nach Puoly zu bringen den Auftrag bekam. 



— 279 — 

Der Sicherheit halber ließ ich noch einen anderen Chinesen mitgehen, 
der ein Maultier führte, das anfangs bestimmt war, meinen Wagen 
zu ziehen. Hoch und heilig hatte ich ihm auf die Seele gebunden 
die Tiere unterwegs gut zu pflegen und sie wohlbehalten in die 
Mission zu führen. Mein Boy und ich stiegen dann auf das Schiff; 
er hockte im Wagenkasten, ich saß auf einer Glaskiste, und weil 
man sich nicht füglich den ganzen Tag fixieren kann, hieß ich ihm 
mir den Rücken zuzuwenden. Ehe ich dem Leser verrate wie 
lange ich da gesessen, will ich ihn zunächst auf das Schiff zur 
Besichtigung führen, damit er sich den Genuß vorstellen kann, 
wenn so eine Fahrt recht lange dauert. 

Unser Schiff ist ein „Dreibretter-Kasten" (Saen-pan drei Bretter) 
wie alle Chinesenschiffe, genau gearbeitet nach dem Typus, den die 
Zopfträger schon vor vielen hundert Jahren kannten. Es dient zum Wa- 
rentransport und deshalb fehlen denn auch alle Bequemlichkeitseinrich- 
tungen, wie man sie wohl auf Hausbooten trifft, ja selbst ein Stuhl 
oder Tisch ist nicht zu finden. Als der Kapitän mich einlud sein „Heim 
zu besichtigen, pries er es als ein Ausbund von Reinlichkeit und zeigte 
dabei auf die mit buntem Papier verklebten Fensterlöcher. Daß 
das Schiff aber wimmelte von einer Unzahl Kakerlaken, Wanzen 
und sonstigem Kleinvieh, davon sagte er wohlweißlich nichts. Zum 
Glück blieben mir die Wanzen ferne, die Schaben aber benagen 
alles Eßbare, was sie in der Nacht erhaschen können. Interessanter 
als das Schiff sind seine Mannschaften. Der Kapitän ist eine sehnige 
Gestalt mit Boxergesicht und seinerzeit auch zweifelsohne ein solcher 
gewesen. Er leugnet das freilich entschieden ab, obwohl ihm zur 
Zeit der Wirren das Haus verbrannt worden sei. Jetzt freilich 
lebt er ganz seinem Geschäfte und man muß gestehen, daß er kein 
Fremdling darin ist. Man braucht ihn nur auf seinem dreibeinigen 
Stuhle sitzen zu sehen, wie er die eine Hand am Steuer hält, und 
mit der andern das Segel schwenkt oder die Treckleine ordnet. 
Das Ende dieser Leine, deren Kraftpunkt oben am Mäste liegt, ist 
am Steuerarm befestigt »und kann leicht verlängert oder verkürzt 
werden, je nachdem die Umstände es erfordern. Seine bessere Hälfte 
führt unser Kapitän nicht bei sich im Gegensatze zu den meisten 
andern Schiffern, denen die Frau das Essen machen muß. Aber 
seine zwei Söhne bilden ein Teil der Besatzung ; der ältere ist ein 
stämmiger Bursche, der jüngere aber erst ein Knirps von neun 
Jahren der noch im Adamskostüm herumläuft. Aber er kann schon 
sprechen und arbeiten wie ein Alter und macht seinem kleinen 
Namen lao-höl „Altes-Kind" alle Ehre. Kürzlich, als ich mich auf 



— 280 — 

den Rand des Schiffes setzte und meine Füße auf eine anliegende 
Barke stützte, bat er mich entsetzt, ich solle doch schnell aufste- 
hen und anderswo Platz nehmen. Auf zwei Schiffen halb sitzen 
verderbe den Handel (luo-liao-mä-mä ;) das Glück falle alsdann ins 
Wasser. Endlich sind noch zwei Kuli vom Kapitän angagiert, die 
als Zieher fungieren, sich aber auf die faule Haut legen, wenn 
günstiger Wind bläst. Wir sollten den eigentlich alle Tage haben, 
sonst hat es seine Richtigkeit nicht mit dem Motto, das unser Schiff 
trägt; zou tnny, schöng fung: „Sobald die Anker gelichtet, weht 
günstiger Wind." 

Als ich mit meinem Boy eingestiegen, wurden denn auch so- 
fort die Anker gelöst, und stromaufwärts gings durch einen Wald 
von Schiffen und Kähnen in allen möglichen Formen und Größen. 
Da durchzukommen war bisweilen keine Kleinigkeit, -und wir waren 
froh, als wir am andern Morgen freie Bahn hatten. Die Schiffer 
pfiffen und schrieen den Wind herbei, aber er blieb aus, und die 
Zieher waren gezwungen, sich flott ins Zeug zu legen. 

Der Abend des zweiten Tages brachte uns ein wenig Abwechs- 
lung. Es war der 15. im 7. chinesischen Monate. An diesem Tage 
werden den Seelen der im Wasser ertrunkenen Opfer gebracht. Ein 
großes Schiff, festlich beleuchtet, fuhr auf dem Flusse umher. Eine 
Anzahl Frauen sangen Gebete zu Ehren Buddhas, und am kreuz- 
förmig aufgerichteten Mastbaume waren bunte Laternen aufgehängt. 
Hinter diesem Schiff fuhr noch ein kleiner Kahn, worin einige junge 
Leute beschäftigt waren, winzige Laternen und ausgehöhlte Wasser- 
melonen, worin ein Docht brannte, alle zehn Schritte weit auf das 
Wasser zu setzen, damit die irrenden Seelen den rechten Weg zur 
Unterwelt fänden. 

Der Morgen des dritten Tages hob an mit günstigem Winde. 
Leicht glitt das Fahrzeug über die Wasserfläche, und wir legten an die- 
sem Tage mehr zurück, als* in den zwei vorhergehenden zusammen. 
Die Matrosen aber machten ihrem Namen (Mottenschläfer) alle Ehre. 
Den ganzen Tag lang pflegten sie dem dolce far niente, um Kraft zu 
sammeln wenn es wieder an die Leine ging. Diese Zeit sollte nur 
zu bald kommen. Am anderen Tage wandte sich der Wind nach 
Süden und verblieb dort hartnäckig bis ungefähr zu Ende der 
Reise. Alles Flöten konnte ihn nicht mehr günstig stimmen. Nur 
der Kanal führte ihn zeitweilig hinter die Segel, wenn er nämlich 
eine Schwenkung machte in entgegengesetzter Richtung. Solche 
Biegungen gibt es allerdings eine ganze Anzahl. Die Länge des 
Kanals beträgt deshalb stollenweise das dreifache des Landweges; 



— 281 — 

einmal zählte ich nur 30 Schritt Abstand von der Wasserfläche, 
die wir soeben passiert waren. Schade um das viele Land, 
das der Kanal durch seinen Schnörkelweg fortgenonunen, äußerte 
ich einem Chinesen gegenüber. Zudem müssen die Schiffe den dop- 
pelten und dreifachen Weg machen. Der Chinese belehrte mich 
des Besseren. Der Kanal ist so angelegt, sagte er, damit er im 
Stande ist, die oft plötzlich eintretenden Wassermassen aufzunehmen. 
In einem verkürzten Bette müßte das Wasser über die Ufer treten 
und würde dann die Ernte meilenweit vernichten. 

Als wir einige Tage gefahren waren, sollte ich Qrfahren, daß 
der Chinese Recht gehabt. Das Wasser stieg in wenigen Stunden 
um 2 — 3 Meter höher, verschlang die an den Ufern von armen 
Anwohnern bestellte Saat, und drohte stellenweise sich einen Weg 
in die Felder zu erbrechen. Besonders gefährdet sind die Knieende 
im Laufe des Kanals, wo das Wasser beständig an den Ufern nagt 
und unaufhaltsam Erde fortschwemmt. Man hat deshalb an solchen 
Stellen vielfach eine Art Bassin angebracht, d. h. ein weiteres Stück 
Land, wohl mehrere Morgen groß, ist ausgehoben, und von der Erde 
sind Wälle um dasselbe errichtet, sowie eine Art Reserve-Erdhaufen, 
um Material zu haben, wenn das Wasser über die Ufer treten sollte. 
Diese Reservoirs können natürlich eine große Menge Wasser auf- 
nehmen, und man läßt sie voll laufen, wenn ein Dammdurchbruch 
zu befürchten ist. 

Zum widrigen Winde gesellte sich jetzt auch noch die reißende 
Flut des Stromes. An ein Bugsieren des Schiffes war kaum mehr 
zu denken, und es war stellenweise fast unmöglich von der Stelle 
zu kommen. Um das Elend voll zu machen, setzte auch noch wäh- 
rend zwei Tagen Regen ein, und wenns regnet ist bekanntlich der 
Chinese nur schwer aus seiner Behausung zu bringen. Unsere 
Mottenschläfer schliefen den Schlaf der Gerechten, während der 
Regen herniederrieselte. Gerne hätten sie der süßen Ruhe noch 
länger gepflegt; aber als der Regen am zweiten Tage etwas nach- 
ließ, wurden sie aus ihren Luken getrommelt und ans Seil gespannt. 
Eine angenehme Arbeit war es freilich nicht, nur mit dünner Hose 
bekleidet, auf dem Kopfe ein großes Ricinusblatt als Schutzdach, 
mit durchweichten Schuhen auf dem lockeren und glatten Ufer zu 
tappen. Doch als ich den Leuten einige Pfund Schnaps versprach, 
legten sie sich mit neuem Mute ins Seil und immer weiter ging es 
im Kampfe gegen Wind und Regen und die reißende Flut. Aber 
nur schneckenartig langsam bewegte sich das Schiff voran. Ehe 
wir eine Haltstelle erreicht, überraschte uns die Dunkelheit'mitten 



— 282 — 

im freien Felde. Die Zieher weigerten sich weiter zu gehen; sie 
konnten, sagten sie, keinen Fuß fassen auf dem nassen Boden, noch 
auch den Pfad erspähen. Fast wären sich Kapitän und Mannschaft 
in die Ilaare geraten, nur meine Dazwischenkunft und das Verspre- 
chen eines guten Trinkgeldes hielt die Leute auseinander, und brachte 
sie wieder an die Arbeit. Es war stockfinstere Nacht; noch öfters 
wurde Miene gemacht zum Halten; der Kapitän aber brachte dann 
immer wieder von neuem in Erinnerung, sie sollten doch bedenken, 
daß es keinen Dünger da sei, den sie auf dem Schiffe führen (dann 
könne er ja unbesorgt auf dem Felde übernachten), sondern ein Euro- 
päer. Und wenn da etwas passieren sollte, hätte er die Verantwortung. 

Als wir endlich einen Ankerplatz erreicht hatten, bekamen die 
Leute ihren wohlverdienten Schnaps, der sie erwärmte und alle 
Müdigkeit vergessen ließ. 

Am anderen Morgen war wolkenloser Himmel ; der Wind aber 
blies uns mit hartnäckiger Beständigkeit entgegen. Allmählich fing das 
Leben auf dem Schiffe doch ungemein langweilig zu werden an. Öfters 
stieg ich ans Ufer, um mit den Landleuten ein wenig zu plaudern. 

Meinen Kasten konnte ich ruhig fahren lassen. Selbst wenn 
selbiger einen weiten Vorsprung gewonnen hatte, war er bald wie- 
der eingeholt, da ich die vielen Flußkrümmungen auf direktem 
Wege abschnitt. Dem (leide zu Liebe sah ich gestern einen Bauern, 
dem bei der Überfahrt über den Fluß ein Ochs hineingefallen war, 
dem Tiere nachspringen, um es zu retten. Der Ochs arbeitete sich, 
allerdings mit vieler Anstrengung, durch die starke Flut und ge- 
langte glücklich ans Ufer. Nicht so der Chinese, der ihn retten 
wollte. Auch er hielt sich lange Zeit über Wasser; aber die Flut 
riß ihn immer weiter stromabwärts, und ehe er ans Ufer gelangen 
konnte, versank er im nassen Grabe. 

Die Ernte am Kanal entlang ist sehr verschieden. Der Unter- 
schied ist hauptsächlich durch das frühe oder spätere Eintreffen 
des Sommerregens bedingt. Stellenweise haben auch die Raupen 
besonders der Hirsenernte arg zugesetzt. Man sucht die Tiere zu 
fangen und bedient sich dazu blecherner Wannen, welche von einem 
Kinde durch die Furchen gezogen werden, während Frauen oder 
ältere Leute hinterhergehen und die Halme zu beiden Seiten über 
der Wanne mit einem leisen Schlage abschütteln. Die Raupen 
fallen in die Wanne und werden am Ende der Furche zertreten, 
oder in Löcher geschüttet und vergraben. Auch sah ich, wie man 
eine Anzahl schwarzer Käfer in diesen Löchern hielt, welche die 
Raupen mit großem Appetite verzehrten. 



— 283 — 

Die männliche Bevölkerung ist hauptsächlich beschäftigt Boh- 
nen zu behackten und Sorgho zu entblättern. Die Blätter, welche 
den Maisblättern ähnlich sind, bilden getrocknet ein vorzügliches 
Tierfutter besonders für die Ochsen und haben heuartigen Geruch. 
Alle Leute mit denen man zusammentrifft, erkundigen sich, wie 
es mit der Cholera im Norden stehe. Die Epidemie hat den ganzen 
Fluß entlang viele Opfer gefordert. Fast kein einziges Dorf wurde 
passiert in dem nicht Totenmusik gemacht worden wäre. 

Kein Schiff geht vorüber, das sich nicht beim Laupa (Kapitän) 
nach den Verhältnissen in Tien-tsien erkundigte. Die erste Frage ist 
naturlich immer, ob die Ausländer dort noch das Regiment führten. 
Auf das erfolgte Nein folgt dann stets (falls man mich nicht sieht) 
ein Ausruf der Freude. Die zweite Frage betrifft den Schiffszoll. 
Und wenn sie dann erfahren müssen, daß nummehr auch unter dem 
chinesischen Regimente die Schiffe samt und sonders einen Ge- 
werbeschein (tyuen) zu bezahlen haben (was früher nicht der Fall 
war), erfolgt ein Ausruf der Enttäuschung. Die Schiffsleute sind im 
allgemeinen, wenigstens soweit ich hinter den Brettern in unbewachten 
Augenblicken aus ihren gegenseitigen Gesprächen entnehmen konnte, 
dem Ausländer nicht besonders hold gesinnt. Es sind daran offen- 
bar die neuen Abgaben schuld, welche die „Yang-gin u , wie sie glau- 
ben, zuerst erfunden und ihnen aufgebürdet haben. Der Chinese 
ist so lange lieb Kind als seine Käsch verschont bleiben ; geht es 
diesen aber ans Leben, fühlt er sich im eigenen Leben getroffen, 
und er wird störrisch und ungemütlich. 

Die Jugend ergötzt sich vielfach am glitzerigen Ufer und macht 
Rutschpartien, indem sie sich auf der schiefen Ebene herunterglei- 
ten läßt mit einem jedesmaligen Plumps ins Wasser, was den Ben- 
geln ein Mords vergnügen zu machen scheint. Die Hosen zerreißen 
sie sich nicht dabei, da sie keine andere tragen als jene, die ihnen 
die Natur zugeschneidert hat, und die sind ebenso schnell gewaschen 
als geflickt. Deshalb lassen sie die alten Großväter, die oben am 
Ufer im Schatten der Weiden sitzen, auch ruhig gewehren und er- 
innern sich* vielleicht vergangener Zeiten, wo sie's auch so getan. 
Alles paßt übrigens zusammen: gelbes Wasser, gelbes Ufer, gelbe 
Chinesenknirpse. 

An einsamen Stellen des Ufers sonnen sich Schildkröten am 
Ufer und fliehen eilig ins nasse Element zurück, wenn ein Schiff her- 
annaht. Auch ihnen hat die Natur eine Chinesenhaut zubedacht. Kein 
Chinese aber mach „mit ihnen in Verwandtschaft stehen ; a das von 
jemanden behaupten, hieße ihn arg fluchen und dann wäre seine 



- 284 — 

Geduld zu Endo. Vermutlich wird auch die Geduld des verehrten 
Lesers bald zu Ende sein. Meine war es schon längst trotz 
langjähriger l'bung, doch die Hauptprobe sollte noch kommen : 
vencnum in fine. 

Wir sollten heute in Lintsing eintreffen, dem Ziele der Fluß- 
reise. Ende gut alles gut, dachte ich, denn der Wind war uns 
schon in der Frühe freundlich gestimmt und er blies kräftig genug 
um das Schiff trotz der reißenden Gegenflut auch ohne Zieher 
schnell über das Wasser zu schieben. Das war natürlich eine Wonne 
für die Schiffsleute, denn heute konnten sie sich ausruhen von den 
Anstrengungen der vorhergehenden Tage und vergnügt schmunzelte 
der Laopa im Gedanken daran, daß er heute den Rest seine Sportein 
werde einstreichen können, nebst Trinkgeld. Doch die Freude war 
noch verfrüht. Als sich die Mottenschläfer gemütlich auf dem Schiffe 
ausgestreckt hatten und einige Zeit in Morpheus Armen ruhten, 
der Kapitän aber am Steuer saß und nickte, kam mit einem Male 
ein Wirbelwind heran, packte in das weite Segel, ein Ruck und 
Mast und Segel lagen auf der Seite. Das Schiff wurde dabei derart 
auf die Kante gedrückt, daß an einer Seite das Wasser hineinströmte. 
Ein Schrei des Entsetzens weckte die Schläfer auf und mit katzen- 
artiger Gewandtheit war jeder an seinem Posten. Mit knapper 
Not gelang es, das Schiff vor dem völligen Umschlagen zu bewahren, 
aber eine Anzahl Kisten standen im Wasser. Es blieb nichts anderes 
übrig als uns stromabwärts treiben zu lassen zur nächsten Halt- 
stelle. Dort wurde Mast und Segel wieder ausgebessert, die nassen 
Kisten ausgepackt und in die Sonne gestellt. Am folgenden Tage 
war alles wieder so weit in Ordnung, daß wir die Weiterreise 
antreten konnten, doch gelang es auch heute noch nicht unser Ziel 
zu erreichen. 

Endlich tagte der 3. September ; es nahte die Stunde unserer 
Erlösung. Siebenzehn Tage lang hatte die Fahrt gedauert. Wir 
langten gegen Mittag in Lintsing an. Am Flußufer aber erwarteten 
mich schon Boten aus Puoly und der getreue Max. So nämlich 
hatte ich das für den Bischof geschenkte Pferd getauft (weil ich seinen 
früheren Namen nicht ermitteln konnte) in Erinnerung an den ver- 
ehrten Herrn M. M. und der in Peking verlebten Tage. Noch am 
nämlichen Abende machte ich einen Kitt von sechs Stunden und 
legte den Rest des Weges (80 li) in der Frühe des folgenden 
Tages zurück. Gegen Mittag gelangte ich in Puoly an, begrüßt 
von Waisenkindern, Greisen und Christen. Geschah mein Einzug 
auch nicht im „ Staats wagen ", so war er nichtsdestoweniger ein 



— 285 — 

freudenreicher, und selbst der Max schien sich zu freuen, als er sich 
von der großen Menge heiterer Gesichter umringt sah. Ihm aller- 
dings wurde noch mehr Bewunderung zu teil als mir selber, denn 
mich, den Europäer hatte man früher schon oft genug gesehen 
nicht aber ein europäisches Pferd. Also, sagte man sich, ist es doch 
eine Märe gewesen mit dem mu-ma (hölzernen Pferde) an die man 
bisheran geglaubt, und welche die Träger der abgeschlissenen 
Riesen -Hufeisen gewesen sein spllen, welche die chinesischen 
Kleinschmiede verarbeiten. 




Dritter Teil. 

Aus dem Missionsleben. 



Geächtet und vertrieben. 

Tsingtau, 18. Juli 1900. 

Freudeerfüllten Herzens begrüßte ich im Spätherbst vorigen 
Jahres nach zweijähriger Trennung China wieder, das Land meiner 
Wünsche und Hoffnungen. Den Wind, welcher uns auf dem Meere 
so scharf aus dem Osten entgegenblies, betrachtete ich als Heimats- 
wind. Gern ertrug ich es, als ich die Reise von Tientsin nach Puoly 
in einem verdeckten Wagen machen mußte, um nicht erkannt zu 
werden ; denn noch schlugen die letzten Wellen der Empörung und 
der Verfolgung, welche die Helden „vom großen Messer" angezettelt 
hatten. Überall auf dem Wege sprach man von nichts andrem als 
von den Sektierern und ihrem Werke. Indes kam ich als „kranke 
Frau* oder als „junge Braut* in meinem verhängten Wagen glück- 
lich durch. Wohl dauerten die acht Tage der Fahrt gar lange, aber 
die freudige Hoffnung, in Bälde unter meinen lieben Pflegebefohlenen 
zu weilen, ließ mich alles Ungemach vergessen. 

[n Puoly angelangt, war meine erste Tätigkeit, zu trösten, zu 
ermutigen, zu helfen so viel in meinen Kräften stand. Die Ruhe 
war leidlich hergestellt, und die Christen atmeten erleichtert auf. 
Zudem lebten sie der Hoffnung, wieder in den Besitz ihrer geraub- 
ten Güter zu gelangen. Sic hofften wochen-, monatelang; fast war 
ein Jahr verflossen, aber noch immer hofften sie vergebens. Endlich 
kam Mitte Juni vom hochw. P. Provikar die freudige Nachricht, es 
sei den Christen voller Schadenersatz zugesichert; die Flüchtlinge 



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könnten in ihre Heimat zurückkehren; der Vicckönig habe das Beste 
versprochen ; in kurzer Zeit werde er einen Abgesandten ( Ui-juen) 
schicken und den armen Christen sollte zu ihrem Rechte verholfen 
werden. Am 17. Juni d. J. ließ mir P. Petry durch einen Boten 
die Nachricht überbringen, es sei ein Abgesandter des Vicekönigs 
nach Z'aufu (wozu das Dekanat Puoly politisch gehört) gekommen ; 
ich möchte dorthin gehen und mit ihm verhandeln. Frühmorgens 
am anderen Tage machte ich mich auf den Weg. Nach zweitägiger 
angestrengter Reise gelangte ich am dritten Tage dort an. Aber 
welche Enttäuschung! Bereits war der Abgesandte des Vicekönigs 
telegraphisch abberufen. In Peking sei Revolution ausgebrochen, 
die Verhandlungen könnten jetzt nicht geführt werden. So waren 
mit einem Schlage die besten Hoffnungen unserer Christen wiederum 
vernichtet. In Begleitung des P. Petry begab ich mich zum Mili- 
tärkommandanten Liung, welcher sich der Mission gegenüber immer 
sehr wohlwollend bewiesen hatte, um von ihm näheren Aufschluß 
zu erfahren. Dieser hohe Mandarin, welcher s. Z. in Begleitung 
von Li-Hung-Dschang in Europa gewesen war, grüßte uns nach 
europäischer Weise und drückte uns warm die Hand; seine Augen 
aber verrieten, daß er etwas Besonderes auf dem Herzen habe. 
Anstatt sich denn auch in den üblichen leeren chinesischen Redens- 
arten zu bewegen, nahm er ein soeben eingelaufenes Schreiben 
des Vicekönigs aus Tsinanfu zur Hand und legte es mir vor. Durch 
dieses Schreiben wurden sämtliche Mandarine beauftragt, die Euro- 
päer aus ihren Bezirken zu entfernen und sie unter militärischem 
Schutze zur nächsten Hafenstation bringen zu lassen. „Auch eueres 
Bleibens ist nicht mehr hier", bedeutete uns der Kommandant; „wir 
können für euere Sicherheit nicht mehr aufkommen. Ich werde 
euch einige Soldaten mitgeben, damit ihr unbehelligt abziehen könnt. u 

Wir wußten genug; unser Herz war voll, und wir hatten gar 
keine Lust mehr, den uns dargereichten Süßwein zu kosten. In 
unsere Wohnung heimgekehrt, fanden wir ein Telegramm des hochw. 
P. Provikar Freinademetz aus Tsining: „Wegen Rebellion schutzlos 
erklärt. Schnell das Notwendigste ordnen und hierher kommen/ 

Es brannte mir unter den Fußsohlen ; im Fluge wäre ich gern 
nach Puoly geeilt, aber trotz der großen Eile dauerte die Reise 
dennoch zwei Tage. Als ich abends spät ankam, fand ich die 
Residenz in der größten Aufregung. Der gute Bruder Ulrich weinte 
fast vor Freude, als er mich wiedersah. Während meiner Abwesen- 
heit war ein Brief des P. Provikars eingetroffen, worin er uns 
von der bedenklichen Sachlage Mitteilung machte, es aber jeden] 



— 288 — 

freistellte, zu bleiben oder zu gehen. Kurz darauf wurde durch ein 
Telegramm «dieser Brief als ungültig erklärt, alle Europäer maßten 
sich schnell entfernen und in Sicherheit bringen**. Alle Europäer 
müssen sich schnell entfernen: welch ein Befehl! Wenn je in meinem 
Leben, so ist mir damals das Opfer des Gehorsams schwer gefallen. 
Ich konnte mich gar nicht mit dem Gedanken vertraut machen, 
Puoly zu verlassen; verlassen die vielen hülflosen Waisenkinder, 
die todesmüden Greise; verlassen die weinenden Christen; verlassen 
die Gräber der verstorbenen Mitbrüder; verlassen die Stätte so vieler 
Arbeiten und Mühen, so viele Neuchristen, die sich schon so oft 
wacker gehalten im harten Kampfe; verlassen das Werk, an dem 
so viele Vorgänger unter Mühe und Tränen gearbeitet; verlassen 
die Wiege der Mission und sie vielleicht nie mehr wiedersehen! — 
Keinen Augenblick konnte ich während der langen Nacht schlafen; 
ich glaubte einen Kampf auf Leben und Tod durchkämpfen zu 
müssen. Wohl erinnerte ich mich der Worte: „Besser ist Gehor- 
sam als Opfer", aber erst als ich dem Heiland vor dem Altare 
mein Leid geklagt, konnte ich mich in etwa wieder fassen. 

Am folgenden Tage mußten in aller Eile die notwendigsten 
Anordnungen gemacht und die Vorbereitungen zur Abreise getroffen 
werden. Der P. Provikar hatte vier chinesische Priester geschickt, 
die in der Residenz weilen sollten, um sich im Augenblicke der 
größten Gefahr verkleidet zu retten. Wir erwarteten auch noch 
den P. Volpert, der sich in einem Nachbarbezirke aufhielt und mit 
uns entfliehen sollte. Gegen Mittag langte er an. 

Furchtbar waren die Nachtstunden vorübergegangen, der Tag 
war nicht minder schrecklich. Hier weinten Christen, dort rangen 
Greise ihre Hände, bald klammerten sich die Waisenkinder an die 
Kleider des Missionars: wo man stand oder ging, sah man nichts 
als herzzerreißende Scenen. Dennoch mochten die guten Christen 
den Missionar nicht direkt bitten, er solle bei ihnen bleiben, weil 
sie für sein Leben fürchteten. Wie ein Lichtstrahl schoß mir der 
Gedanke durch den Kopf : Geh' nach Tsining, unterbreite dem Pro- 
vikar die Sachlage und bitte ihn, dich zurückkehren zu lassen. — 
„Tröstet euch", ermahnte ich deshalb alle, „wir gehen nur bis 
nach Tsining, kommen aber, wenn eben möglich, bald zurück^ 
Dieser Trost war wie das milde Abendrot beim Abschied der unter- 
gehenden Sonne. Auch diese Nacht wurde nicht geschlafen; die 
Christen mußten nach Hause heimkehren; die Bewohner der Resi- 
denz aber waren nicht aus unserer Umgebung zu entfernen. Kurz 
nach Mitternacht lasen wir die h. Messe; dann wurde ein kleiner 



— 289 — 

Imbis genommen, und fort ging es, die unseren Herzen so traute 
Stätte zu verlassen. Ein Glück, daß die noch dunkle Nacht das 
traurige Abschiedsbild mitleidsvoll verhüllte. 

Auf vieles Bitten hin hatten sich die Soldaten, welche mich 
aus Z'au-fu begleitet, dazu verstanden, mit uns bis nach Tsining 
zu gehen. Die Reise dorthin verlief noch verhältnismäßig günstig. 
Die Heiden sahen unsere Militärbedeckung und wußten, daß wir 
noch nicht ganz schutzlos seien. Eine halbe Tagereise von Tsining 
entfernt, kam uns ein Bote entgegen, den der Herr P. Provikar 
geschickt. Er bat uns dringend, uns doch ja nicht in die Stadt 
zu begeben, weil die Durchreise zu gefährlich sei. Da standen wir 
denn ratlos mitten auf dem Felde, ohne zu wissen wohin. Die 
Soldaten erklärten bündig, uns nicht weiter als bis nach Tsining 
begleiten zu dürfen; ohne Bedeckung aber zu reisen, wäre diesmal 
eben so viel gewesen, als sich in den sicheren Tod zu begeben. 
Solche Lagen im Leben sind furchtbar, besonders wenn man das 
Leben anderer noch zu verantworten hat. Als wir unschlüssig 
einige Stunden weiter geeilt waren, traf uns ein zweiter Bote aus 
Tsining mit einem Briefe des Provikars: „Pax Christi. Diesen 
Abend die Lage noch ungefährlich; kommt deshalb über Tsining \ u 
Auf den Knieen hätte ich dem lieben Gott für diese Kunde danken 
mögen. Schnell ging es in die Stadt hinein; wohl sahen wir dro- 
hende Blicke, niemand aber wagte es, Hand an uns zu legen. 

In der Residenz trafen wir den Herrn Provikar mit drei an- 
deren Patres und einem Laienbruder. Es wurde nun beratschlagt, 
was am besten zu tun sei. Eben war ein Telegramm aus Tschifu 
vom deutschen Konsul (Hrn. Dr. Lenz) eingelaufen, worin er uns 
dringend ersuchte, uns möglichst schnell in Sicherheit zu begeben. 
Auch waren Nachrichten eingetroffen, daß „der deutsche Gesandte 
in Peking mit allen dortigen Europäern massakriert seien, daß die 
Jesuiten und Franziskaner ihre großen Residenzen nicht mehr hätten 
halten können, daß bereits mehrere Missionare ermordet seien und 
die Mandarine mancherorts die Missionare mit Gewalt hinausgetrie- 
ben hätten". Sollen wir uns opfern, um die Christen, die beim 
Priester aushalten werden, ohne sich zu verbergen, noch sicher in 
den Tod zu bringen, oder sollen wir uns zu erhalten suchen, um 
für die Christen noch mehr wirken zu können? Die Mehrzahl der 
Missionare war dafür, uns vorläufig nach Tsingtau zu begeben. 
Dorthin war bereits Tags zuvor eine Karawane von 14 Missionaren 
abgereist. Nur mit schwerem, schwerem Herzen entschloß sich der 
Herr P. Provikar dazu. Er hatte immer vorgehabt, mich aus Puoly 

R. Pieper, „Neue Bändel". 1» 



— 200 — 

wegzulocken (und das war ihm ja gelungen vi saneta? obedienti», 
vermittels des gelobten Gehorsams), um dann selber dorthin zu 
gehen und sich zu opfern. „Aber weshalb soll ich mich denn nicht 
opfern ? . . . Ich bin doch schon halb tot", meinte der fromme Mann, 
„und muß so wie so bald sterben. An meinem Leben ist nichts 
mehr gelegen, wahrend Sie noch lange für den lieben Gott arbeiten 
können". Da indes alle Patres den Herrn Provikar dringend baten, doch 
von seinem Plane abzulassen, weil ja die zurückgebliebenen chinesi- 
schen Priester zur Zeit der Not ihren Landslcuten beistehen könnten, 
entschloß er sich endlich, mitzugehen. Abends spät kam auch noch ein 
Jesuitenpater (P. Höffel) zu uns, der, aus der Nachbarmission ver- 
trieben, nirgends mehr einen Ausweg gefunden hatte; zwei seiner Mit- 
brüder waren einige Tage zuvor von den Sektierern ermordet worden. 

Sehr früh morgens verließ der traurige Zug die Tore der 
Residenz. Man mußte den Hrn. P. Provikar förmlich hinausschieben, 
denn noch immar wankte er in seinem Entschlüsse. Als wir unge- 
fähr zwei Stunden weit von Tsining entfernt waren, wurde Halt 
gemacht. Hr. P. Provikar ließ mich zu sich rufen. Soll ich's ver- 
raten, was mir sein edles Priesterherz offenbarte? Nun der Leser 
wird es schon erraten haben: Sterben als Opfer für die Mission, 
das war sein sehnlichster Wunsch, und deshalb, so beteuerte er, 
könne er den Seelenfrieden nicht finden, wenn er, als Oberer der 
Mission, nicht in der Mission verbliebe. Das sich mehrere Missio- 
nare hinopferten, könne und dürfe er nicht erlauben, denn er sei 
für das Leben aller verantwortlich. Was sollte ich antworten? Ich 
nahm mit den anderen Mitbrüdern Rücksprache ; schließlich meinten 
alle, man dürfe sich nicht länger dem Verlangen des heldenmütigen 
Mannes widersetzen. Wir knieten nieder und baten mit Tranen 
in den Augen um seinen Segen und empfahlen uns seinem frommen 
Gebete. Sobald Bruder Ulrich den Entschluß des Hrn. Provikars 
vernommen, lebte auch der seine mit erneuter Heftigkeit auf. Er 
wollte den P. Provikar beschützen, er wollte sich mit ihm opfern. 
Als ich in Z'aufu gewesen, hatte der Bruder geglaubt, ich werde 
sofort von dorther nach Tsining reisen, ohne zuvor nach Puoly 
heimzukehren. In einem Briefe, den er an mich abgeschickt hatte, 
bat und beschwor er mich, ihm die Erlaubnis zu erwirken, in Puoly 
verbleiben zu dürfen, dort wolle er sterben. Nunmehr wurde auch 
seiner Bitte willfahrt. Mit einem „Auf Wiedersehen im Himmel"! 
verabschiedeten wir uns, und die beiden kehrten um. 

Von Jenfu kamen uns zehn Soldaten entgegen, welche der 
Mandarin (Taotä) zu unserem Schutze bestellt hatte. Schon am 



— 291 — 

ersten Abend hatten sie unseren Leuten gegenüber verlauten lassen, 
sie seien bestellt, nicht um die Europäer zu beschützen, sondern 
nur des „Gesichtes" halber mitgeschickt; sollte Gefahr im Anzüge 
sein, würden sie die fremden Teufel im Stich lassen. In einem 
Dorfe, wo man sich nach ihrer Sendung erkundigte, streuten sie 
unter das Volk, sie brächten die Ausländer an die Grenze, wo sie 
geköpft werden sollten, gleich den vielen Tausenden, die bereits in 
Peking und Tientsin gefallen seien. 

Die Reise von Tsining nach Tsingtau dauerte volle zwölf 
Tage. Glücklich wurde sie beendet, Gott sei Dank, aber nie in 
meinem Leben werde ich diesen Schmerzensweg vergessen. Keiner- 
lei Gefahren blieben uns erspart: Gefahren zu Lande und zu 
Wasser, Gefahren von Blitz und Ungewitter, Gefahren von Räubern 
und Christenfeinden ; unter allen möglichen Leiden hatten wir zu 
dulden: Hunger und Durst, Hitze und Kälte, Angst und Bangen. 
Besonders beschwerlich gestaltete sich der Rest der Reise, welchen 
wir auf einer elenden Schiffsbarke von Tsingkou nach Tsingtau an 
der Ostküste durch das chinesische Meer zu machen hatten. Fünf 
Tage mußten wir auf der Barke aushalten, bei Tag und Nacht 
unter freiem Himmel, beschienen von der heißen Julisonne, ohne 
weiteres Obdach als unseren Schirm (und jeder hatte nicht mal 
einen). Der Schirm bildete auch das einzige Obdach bei den Ge- 
wittern, die täglich niedergingerf und unsere Habseligkeiten bis auf 
den letzten Faden durchnäßten. Das kleine Schiff hatte Ölkuchen 
als Ladung, welche durch die Feuchtigkeit in Verwesung überge- 
gangen waren und einen entsetzlichen Geruch um sich verbreiteten. 
Bei einem starken Gewitter schlug der Blitz mit furchtbarem Knalle 
neben uns ins Meer ; die Schiffsleute machten verzweifelte Gesichter 
und mochten wohl die Europäer verfluchen, die sie in solche Gefahr 
gebracht. Eines Abends konnten wir wegen starken Sturmes nicht 
anlegen; im offenen Meere mußte Anker geworfen werden, der nach 
vielen vergeblichen Mühen endlich faßte. Das Schiff schaukelte 
wie eine Nußschale auf den sturmbewegten Wogen, wir mußten 
uns förmlich anbinden, um nicht heruntergespült zu werden. Als 
der Sturm etwas nachgelassen, wurde unsere Barke von vielen klei- 
nen Fahrzeugen umkreist, in denen finstere Gesellen saßen, die wir 
sofort als Seeräuber erkannten. Schnell griffen wir zu unseren 
Waffen und zeigten den Kerlen das blanke Ende ; allmählich zogen 
sie ab. Zum Glück waren einige muntere Naturen unter uns, 
denen der gute Humor niemals ausging und die ein fröhliches 
Liedchen sangen, wenn es anders nicht mehr gehen wollte. Die 

19» 



— 292 — 

Schiffsleute konnten uns nichts besseres bieten als Reis und Bohnen 
in Wasser gekocht, welche uns aber mit der Zeit derart verleidet 
wurden, daß mancher es vorzog, Hunger zu leiden, als daran seinen 
Hunger zu stillen. 

Endlich, endlich tauchten die Spitzen der Berge von Tsingtau 
in der Ferne auf. Zum Glück blies noch zu guterletzt ein gunsti- 
ger Wind, der die Fahrt beschleunigte. Schon glaubten wir nach 
einer Stunde unsere Mitbrüder begrüßen zu können, als sich uner- 
wartet der Wind änderte und das Schiff nicht mehr vom Flecke 
kam. Nur angestrengtes Rudern konnte es vor dem Zurücktreiben 
bewahren; alles mögliche wurde versucht, um es weiterzubringen, 
aber umsonst; auch gaben wir allerlei Signale, um in der Bucht 
die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken, aber vergebens. Die Nacht 
kam herangezogen, im Hafen erglänzten die Lichter — so nahe 
dem Ziele und doch konnten wir es nicht erreichen. Den Schiffs- 
leuten wurde ein gutes Trinkgeld versprochen, wir selber griffen 
mit in die Ruder: ja es half, das Schiff kam ein wenig weiter. 
Kurz vor Mitternacht klopften wir an die Pforte der Missionsstation 
und konnten unsere dortigen Mitbrüder begrüßen. 



« cccecce ag 




Von Tsingtau nach Kiautschou. 

Kaumi, 2. Jan. 1901. 

jjlsu im alten Jahre sollten wir doch das Ende unseres Exils 
«rieben. Es war Sylvestertag, als ich mit Bruder Rudolf 
ein Schifflein bestieg, das uns noch vor Sonnenuntergang 
über die Bucht nach Kiautschou bringen sollte. Adien 
Tsingtau! Du hast uns während der Zeit unserer Verbannung gast- 
liche Aufnahme bereitet; habe Dank dafür. 

Es war ein herrlicher Tag, ein klarer Sonnentag nach drei- 
tägigem Regen- und Schneewetter. Die hohen Zacken des Lao- 
gebirges stachen mit ihren schneeigen Firnen scharf ab gegen das 
blaue Firmament. Zur Linken lagen die Höhen des Perlgebirgos, 
einer riesigen Totenbahre gleich, bedeckt mit gewaltigem Leichen- 
tuche. Ringsumher war es totenstill, das Meer glatt wie ein Spiegel, 
und das leichte Fahrzeug schoß pfeilschnell über die blaue Fläche. 
Eine solche Fahrt ist ein wahrer Hochgenuß: unten das Meer mit 
seinen Geheimnissen, in der Ferne silbern schimmernde Gebirge, am 
Himmel die milde Wintersonne, drinnen im Herzen das Frohgefühl 



— 293 — 

zu wissen, daß es hinausgeht auf die alte Stätte der Arbeit. 
Wie sich der Kaufmann freuen mag, wenn er mit reichen Schätzen 
beladen über das Meer segelt zu den lieben Seinen! Sollte sich 
der Missionar nicht freuen, wenn er heimkehren darf zu seinen ver- 
lassenen Schäflein, denen sein Herz gehört! 

Wer sollte es glauben, daß die Bucht, jetzt so friedlich schlum- 
mernd, sich zu Zeiten erheben könnte, als peitsche sie ein wilder 
Dämon. Unerwartet und unvermerkt mit wahrer Windeseile setzt 
der rauhe Nord ein und läßt dem fahrenden Schiffe bisweilen gar 
keine Zeit mehr, seine Segel zu legen. Das Fahrzeug schlägt um, 
und mancher, der sein halbes Leben auf dem Wasser zugebracht, 
findet dann sein Grab darin. Überhaupt ist das Wetter in Tsing- 
tau so unbeständig, wie ich es anderswo in China kaum getroffen 
habe. Nicht selten lächelt am frühen Morgen die Sonne hinter den 
Bergen herauf und wünscht guten Tag, aber plötzlich ist sie hinter 
schwarzen Wolkenbergen oder hinter dem chinesischen „Grauhimmel" 
verborgen, und alle Herrlichkeit des Tages ist dahin. 

Eine sehr angenehme Beigabe auf dieser schönen, anregenden 
Fahrt war, daß wir ein Stück greifbare Erinnerung aus der Heimat 
mit uns führten, ein Stück westfälischen Schinken. Im allgemeinen 
kann sich ein Missionar hier, so weit von der Heimat entfernt, der- 
artige lukullische Genüsse nicht gönnen — ein Pfund westfälischen 
Schinken kostet in Tsingtau 2,20 M. — und er tut es nur dann, 
wenn ihm der Zufall oder vielmehr eine gute Seele so etwas zu- 
gestellt hat. Das wird dann aufgehoben für die Zeit der Not, für 
Reisen und dergleichen, wenn außer gekochtem Wasser sonst nichts 
zu haben ist. Ist das doch ein duftiges Stück Fleisch, dieser west- 
fälische Schinken: paßt ganz zu den knorrigen Eichen und den 
harten Köpfen in meiner Heimat. Zum westfälischen Schinken gehört 
eigentlich der westfälische Pumpernickel, und auch diesen kann 
man in Deutschchina kaufen, wohlverschlossen in Blechdosen. Freilich 
kommt er nicht aus Westfalen, sondern aus Berlin, ist also eigent- 
lich Berliner Pumpernickel. Was auch ihn weniger empfehlenswert 
macht, ist wiederum der hohe Preis: eine Dose (ein Pfund) kostet 
70 Cents, also mehr als eine Mark. Da wäre zu bedauern, wer 
ihn als tägliches Brot genießen müßte. 

Schon neigte sich die Sonne dem Untergange zu, als wir die 
Ningpaofahrzeuge passierten, eine Reihe mächtiger Kauffahrteischiffe, 
die aus dem Süden, aus der Nähe von Schanghai, alljährlich einige 
Mal in die Kiautschoubucht kommen, um den Handel ins Innere 
zu vermitteln. Als Ausfuhr nehmen sie meistens Reis, Papier, 



— 294 — 

Zucker, Bambus und sonstige südländische Produkte mit, während 
sie für die Rückfahrt Erdnüsse, Bohnenöl, Kohl, Birnen, Nüsse, 
trockene Gottesbirnen und andere Früchte Schantungs verladen. 
Wo die Bucht seicht zu werden beginnt, bleiben sie vor Anker 
liegen. Kleine Schiffe vermitteln den Handel so weit hinauf, als 
der Fluß fahrbar ist; dann muß der Schiebkarren eintreten. 

„Voran, voran !" mahnten wir unsere Schiffer, Vater und Sohn, 
die sich am Ruder abwechselten; „denn es wird dunkel." „Morgen, 
morgen kommen wir an," trösteten sie uns. „Nein nicht morgen, 
sondern heute müssen wir ankommen; denn wir haben Eile." „Aber 
die Eile bringt uns auch nicht weiter; die Flut ist am abziehen, es 
geht gegen den Strom, und bald liegen wir auf dem Trockenen. 
Das gescheiteste wäre, Anker zu werfen und so lange zu warten, 
bis die Flut zurückkäme und uns weiter den Fluß hinauftrüge. u 
Als die Schlauberger dann wirklich Anstalten machten, ihre Anker 
zu lösen, mußten wir noch energischer mit ihnen reden. Schon 
hatten uns mehrere Fahrzeuge überholt und schössen an uns vor- 
über. „Weiter voran," befahlen wir; „so lange andere Wasser 
haben zum Rudern, habt ihr es auch." Als wir endlich aufs Trockene 
gekommen, hieß es Geduld haben und sich ins Unvermeidliche 
und den kalten Schiffskasten fügen. Zum Glück dauerte es nicht 
sehr lange, da begann das Wasser wieder zu steigen, und unter 
vielem Schreien ging es durch den Schlamm langsam weiter. In 
den chinesischen Flußmündungen ist meistens ein Drängen und 
Schieben wie bei uns auf der Kirmeß vor einer Schaubude. Es ist 
nur ein Schaukeln nach rechts und links; aber man kommt nicht 
voran. Wer es dann eilig hat, nimmt am besten ein Schlafpulver 
und macht die Augen zu und sucht sich über das Unvermeidliche 
hinwegzutäuschen. Jedermann bringt das freilich nicht fertig, und 
auch uns wollte der Schlaf nicht kommen trotz vorgerückter Nacht- 
stunde. Die Füße aber schliefen schon seit langem von allem Lie- 
gen und Hocken, und die Kälte wurde mit jedem Augenblick 
empfindlicher. 

„Springen wir vom Schiffe aufs Ufer und versuchen es auf dem 
Trockenen," meinte der Bruder. „Ja, wenns nur trockenen wäre; 
da durch den Schlamm zu waten beim Dunkel der Nacht scheint 
mir auch kein Plan zu sein. Doch ich wills versuchen. Bleiben 
Sie auf dem Schiffe ; ich werde ins Dorf vorauseilen und mich nach 
einer Herberge umsehen. Hier zu schlafen ist doch nicht möglich, 
man würde ja zum Eiszapfen frieren." Ich schloß mich einigen 
Chinesen an, die gleichfalls aus ihren Schiffen gestiegen, und tappte 



— 295 — 

vorsichtig über die halbgefrorene Eiskruste, über Schlamm und 
Morast voran. Die Chinesen kamen leichtfüßig hinüber, ich hinge- 
gen sank einige Male ein, nicht bis an den Hals, aber doch weit 
genug, um erst nach ordentlichen Anstrengungen wieder herauszu- 
kommen. Endlich gelangten wir in das elende Chinesendorf Mat'ou. 
Die Chinesen, denen ich gefolgt war, sahen sich nach einer Herberge 
um, und ich bat sie, auch mir eine anzuweisen. „Es ist überhaupt 
nur eine Herberge hier für bessere Leute, und das ist eben diese, 
wo wir anklopfen/ antworteten sie. Es war schon oft angeklopft, 
auch hatte man von innen Laute vernommen, die Türe wurde aber 
noch immer nicht losgemacht. „Nun mal endlich aufgemacht !" 
schrie der Anführer. „Es wartet draußen ein europäischer Meister, 
der bei dir übernachten will." Gleich darauf wurde die Türe los- 
geriegelt, und wir konnten ins Chinesenhotel einziehen. Im „Vor- 
zimmer" hing eine halbe Sau; daneben lag ein Chinese und schlief. 
Der Wirt, der uns Einlaß gewährt, war ein alter Mann mit weißen 
Haaren und hohlen Wangen. Die Kleider hatte er noch lose um 
die Schultern hängen, um sie gleich wieder als Oberbett beim 
Niederlegen sich aufzulegen. Der da rechts bei der toten Sau schlief, 
kümmerte sich wenig oder gar nicht um die angekommenen Gäste, 
sondern schnarchte in einer Weise, daß man hätte glauben sollen, 
die Sau habe ihm geholfen. „Aber, guter Mann, Anstalten gemacht 
und geholfen, daß wir einen Raum zum Schlafen bekommen." „Alles 
ist besetzt," erwiderte er trocken, „ich wüßte wahrhaftig nicht, wo 
ich Euch hinlegen wollte; kommt selbst und überzeugt Euch." Er 
führte mich dann in sein „Gastzimmer". Aber da lagen nicht nur 
die Betten voll von Leuten, sondern auch am Boden lagen die Gäste 
herum wie die Schafe. Es waren meistens Karrenschieber und Esels- 
treiber, die nun bei Nacht einen ähnlichen Lärm vollführten, wie 
es ihre Gefährten bei Tage zu tun pflegen. Nein, dann lieber aufs 
Schiff zurück, dachte ich, als hier am Boden zu liegen, wo das 
Schlafen doch eine Unmöglichkeit ist. „Ich sehe, Ihr habt absolut 
keinen Platz, aber könnt Ihr mir anderswo kein Obdach verschaffen?" 
„Am besten geht Ihr in das deutsche Hotel," sagte der Wirt; „da 
gibt es europäisches Essen und Trinken, und Platz wird man auch 
noch wohl haben." „Das hättet Ihr auch gleich sagen können," 
antwortete ich ihm. „Seid denn so gut und laßt mich dort hinführen." 
Ein Führer war sofort zur Stelle, und so ging es denn weiter durch 
Dunkel und Morast. 

Als wir einige Zeit herumgetappt waren, wurde Halt gemacht 
vor einem Chinesenhause, besonders erkenntlich gemacht durch eine 



— 296 — 

lange Fahnenstange, die vor demselben aufgepflanzt war. „Hier 
ist das europäische Hotel, hier klopfet an,* sagte mein Begleiter. 
„Herein!* wurde von Innen gerufen. Wahrhaftig, dachte ich, das 
klingt ja deutsch wie daheim, [ch trat in ein niedliches Stübchen; 
in der einen Ecke desselben brannte ein Ofen, in der anderen stand 
ein Christbaum. Der Wirt und ein Gast, beide Deutsche, saßen 
beim Ofen und knackten Nüsse. Eine angenehme Wärme umfing 
meine frostkalten Glieder. Rechts stand das Büffet mit Flaschen 
aller Größe und Gattung und dem verschiedensten Inhalte. „Grüß 
Gott! Noch ein Gast zur späten Abendstunde; ist aber kein Chinese, 
sondern ein Landsmann.* „Leider haben wir nur zwei Stübchen 
und zwei Betten,* antwortete der Wirt, „und gerade heute sind 
zwei Gäste gekommen. Also ist eigentlich kein Platz mehr übrig; 
aber wenn Sie sich behelfen, werde ich schon Rat schaffen.* Der 
Wirt schaffte Rat, nicht nur für mich, sondern auch für den Bruder, 
der unterdessen auch vom Schiffe gestiegen und mir nachgefolgt 
war. Als wir etwas gegessen und getrunken, fanden wir Unterkunft 
in einem Chinesenzimmer; die Betten waren halb europäisch, kalb 
chinesisch. Müde, wie wir waren, sanken wir bald in Morpheus 
Arme. Am anderen Morgen brachte mich ein Eselein nach Kiau- 
tschou, wo ich die anderen Missionare noch traf, die eben im Begriffe 
standen, ihre Weiterreise ins Innere anzutreten. Der Weg ist lang 
und die Tage sind kurz, zudem ist tiefer Schnee gefallen, welcher 
die Wege stellenweise vollständig unpassierbar macht. Da wird es 
an mancherlei Abenteuern nicht fehlen, und wenn alle wieder glücklich 
in ihre Bezirke gelangt sind, können wir getrost Deo gratias sagen. 



Erste Stimmungsbilder 
nach den Boxerunruhen. 

Puolv, U7. Matt 1901. 

^ii sitze ich wieder seit anderthalb Muntjl^^f int lntt^*, 
' von Schantung, aber mich noch kcii^^ jrk'llpin < M v 

irgend eine Nachricht hat sich vf^ «V 

Man fühlt sich ho immam 
glauben Deutsch-China sei verschwi 
den Chinesen ihren UeraemwiU 




gemacht. In Tsingtau, wo 
granime gab und auch die 




— 297 — 

Besuch machten, fühlte man sich fast wie daheim. Hier muß man 
wieder „von Gerüchten leben", und die sind meistens nicht sehr 
erbaulich; oder man macht sich seine eigenen Kalkulationen und 
die fallen auch in der Regel nicht sehr erfreulich aus. Es ist eine 
Atmosphäre wie vor Ausbruch eines gewaltigen Orkans, und man 
will oft nieinen, unter den Füßen glühe vulkanischer Boden. Solche 
Gefühle entspringen natürlich hauptsächlich von all den „ schreck- 
lichen Dingen, die da noch kommen werden", welche die Chinesen 
aber mit einer Gewißheit erzählen, als hätten sie Prophetengeist. 
Vor drei bis vier Wochen war es mit den Gerüchten noch viel 
schlimmer, als nämlich die Boxer über den Mandarin von Tung- 
schang-fu hergefallen waren, und ihm den Garaus gemacht hatten. 
(Tung-schang-fu ist 50 Li von hier entfernt). Da glaubten sie wieder 
Herr der Lage zu sein. Als aber eine energische Hetze auf sie 
gemacht worden ist, haben sie Fersengeld gegeben. Die Frau des 
ermordeten Mandarinen soll noch Leichenwache bei dem im Yamen 
aufgestellten Sarge ihres verstorbenen Gatten halten und soll sich 
nicht eher zufrieden geben wollen als bis 300 Boxerköpfe zu ihren 
Füßen liegen. 

Auf den Märkten werden vielfach Bilder feilgeboten, auf denen 
die Kämpfe der Europäer mit den Chinesen in bunten Farben ge- 
malt sind. Besonders werden die „Schlachten" von Tientsin und 
Paotingfu dargestellt. Wer Sieger war, kann sich der Leser leicht 
denken, natürlich wieder die Chinesen. Und sie sahen auf den 
Bildern so wild und schreckenerregend hinter den laufenden Euro- 
päern drein, daß man schier glauben sollte, es gäbe unter den 
Chinesen nur Helden. Ob das Volk auch an den Schwindel glaubt ! 
Warum nicht gar! Was man wünscht, das glaubt man gern. Eine 
eigentliche Niederlage der Chinesen ist den Zopfträgern überhaupt 
unverständlich. 

Die Mandarine sind im allgemeinen geschmeidig und geben 
gute Worte. Einer aber, der diese Herrn etwas genauer kennt, 
fühlt bald heraus, daß es ihnen gar so ernst nicht damit gemeint 
ist. Mir will indes scheinen, als hätten die Mandarine und Gelehr- 
ten aus den Wirrnissen der letzten Zeit wenigstens das gelernt, daß 
sie allmälig anfangen müssen, sich mehr für das „Europäische" zu 
interessieren; wenigstens erkennen sie jetzt die Europäer als eine 
Macht an, mit der man doch eventuell zu rechnen hat. Ist ihr 
Wissen in Geographie und dgl. auch meistens sehr stümperhaft, so 
wissen sie nun doch vielfach schon, daß China sehr groß und Ruß- 
land auch nicht grade klein ist; daß Deutschland tapfere Soldaten 



— 298 — 

hat, und daß Japan etwas näher bei China liegt, als Europa. Das 
überlegene, selbstbewußte Lächeln indes, das bisweilen ihren Mund 
umspielt / wenn sie sich nach europäischen Verhältnissen erkundigen 
und ihre ausländische Wissenschaft zum besten geben, zeigt genug- 
sam, daß sie die Gleichberechtigung der Barbaren des Westens 
im Rate der Weisen im Reiche der Mitte doch noch stark in 
Zweifel ziehen. 

Wir fragen uns oft, was die Zukunft wohl bringen mag? Die 
Ansichten sind verschieden. Der Ansicht ist aber jeder, daß die 
Zukunft noch viel heikler werden wird, wenn das Militär der euro- 
päischen Mächte abzieht, bevor die Chinesen gründlich gedemütigt 
sind. Denn sie sind sich wohl bewußt, daß es nicht so leicht 
wieder zu einem zweiten Feldzuge gegen sie kommen wird. Ein 
zweites Mal dürfte aber an ein so verhältnismäßig leichtes Entrin- 
nen der meisten Europäer aus dem Innern in die Hafenstädte wohl 
nicht mehr zu denken sein. Die Chinesen sind oft unberechenbar; 
vielleicht geht es besser, als mancher denkt ; vielleicht wird es auch 
schlimmer, als die Mehrzahl erwartet. Das „Parati estote" dürfte 
aber wohl jeder Europäer im Innern von China die ersten Jahre 
nicht vergessen und auch darüber hinaus noch nicht. 

Das Frühjahr hebt wieder an, wie im vorigen Jahre: Wind 
und Staub und nichts wie Staub. Wenn nach der neuesten Regen- 
theorie der Staub mit dem Regen so eng zusammenhängt, wo bleibt 
dann aber in China der Regen; Alle Fingerlang erhebt sich ein 
Staub, der die Sonne verfinstert und den Tag zur Nacht macht; ist 
aber der Wind vorbei, ist auch bald der Staub verflogen ; der Regen 
aber bleibt aus. Die Aussichten auf eine gesegnete Weizenernte 
sind im Allgemeinen recht günstig. Der kalte Nord nimmt aber 
die jungen Sprossen unter dem Schnee, welcher dieses Jahr aus- 
nahmsweise reichlich gefallen ist, arg mit. Allenthalben verlangt 
man wieder nach Regen. Im Frühjahr aber bleibt er besonders 
gerne aus; „Tsch'uin jii sian-sä ju u , sagen die Chinesen, d. h. der 
Frühlingsregen ist gleich dem Ol (so rar und kostbar). Sollte es wie- 
der zur Mißernte kommen, dann werden die hungernden Chinesen trotz 
aller Friedensbeschlüsse doch keinen Frieden halten: Parati estote! 



Yangku (Stadt), 12. April 1901. 
Bin gestern hier in die Stadt gekommen, um die Angelegen- 
heiten der Kirche und der Christen mit dem Mandarin in Ordung 
zu bringen. Von allen unseren Christen in Süd-Schantung sind 



— 299 — 

nämlich die Christen aus dem Bezirk Yangku (wozu auch Puoly 
gehört) bisher am schlechtesten fortgekommen, was die Besorgung 
ihrer Angelegenheiten betrifft. Während in den meisten anderen 
Bezirken so ziemlich wieder Ordnung hergestellt ist, und den Be- 
raubten auch eine mehr oder weniger entsprechende Endschädigung 
zu teil wurde, harren die armen Christen von Yangku vergebens 
darauf, und die meisten nagen am Hungertuche und wohnen so 
zu sagen unter dem freien Himmel, da ihre Häuser größtenteils 
zerstört wurden. Daß ihnen bisher keinerlei Gerechtigkeit wider- 
fahren, daran ist Niemand Schuld als der hiesige Mandarin. P. Pro- 
vinzial hat s. Z. viel mit ihm unterhandelt und der gute Pater bot 
seine ganze Beredungskunst auf, um ihn einigermaßen für die Sachen 
der Christen zu gewinnen, aber umsonst. Selbst als später ein 
Abgesandter des Gonverneurs geschickt wurde, der die Verhand- 
lungen leiten sollte, konnte noch nichts erreicht werden, da ihn der 
Mandarin zeitig genug mit vielem Gelde bestochen hatte. Der 
Mandarin aber suchte sich das „ Wohlgefallen u seines Vorgesetzten 
zu erkaufen, indem er mehr Steuern aufbrachte als Vorschrift war 
und die Kasse desselben mit Silbergeschenken füllte. Nichtsdesto- 
weniger hat er ob aller Ungerechtigkeit, die er sich beim Volke 
zu Schulden kommen ließ, seinem Posten entsagen müssen. Bei 
Nacht und Nebel mußte er unter Soldatenbedeckung abziehen, denn 
das Volk wollte ihm an den Kragen. Und jetzt der Nachfolger! 
— Er rühmt sich ein Freund der Europäer zu sein und die Ver- 
hältnisse der Ausländer aus dem ff zu verstehen : Tatsache ist, daß 
er den europäischen Weinen freundlich zuspricht, überhaupt den 
westindischen Comfort hochschätzt — ein Freund der Christen 
aber ist er mit Nichten und auch wohl kein Freund der Europäer, 
mag er dieses aucli zehnmal in einem Atemzuge beteuern. Äußerlich 
freilich tut er den Missionaren gegenüber sehr zuvorkommend und 
beobachtet peinlich genau die Etikette, erheben aber die Christen 
ihre Rechtsansprüche, dann hat er allerhand Einwände und Ent- 
schuldigungen. Jetzt soll ein zweiter Abgesandter des Vicekönigs 
kommen, und ich erwarte ihn seit gestern. Die Christen leben der 
Hoffnung und ich noch mehr ; aber meine Haupthoffnung habe ich 
auf den hl. Joseph gesetzt ; wenn Er nicht hilft und zwar mit starker 
Hand, dann ist auch jetzt noch wenig Aussicht vorhanden, daß die 
Angelegenheiten zu einem günstigen Resultat geführt werden. Wir 
haben dem hl. Joseph versprochen, Sein Schutz-Fest in besonderer 
Weise festlich zu begeben, wenn Er uns helfend Seine Vaterhand 
reiche — ich hoffe auf Ihn auch diesmal und bin überzeugt, daß 



— 300 — 

Er uns nicht im Sticht» laut. Ja wa> sollt*» aber auch aus den 
armen Christen worden, wenn ihnen keine Hilfe geschähe. Manche 
sind fast um Kunde der Verzweiflung und wenn sie die Gnade nicht 
«rehalten, hatten nie überhaupt nicht so viel ertragen und leiden 
können. Dazu kommt da- halbe Hungerjahr von 1900 und die 
schlechten Aussichten für das kommende Jahr. Nein, so eine Wit- 
terung, wie sie uns der heurige Frühling gebracht, habe ich trotz 
aller abnormalen Zustande selbst in China noch nie erlebt. Aber 
auch kein Tropfen Regen ist in die>em Frühjahr gefallen: nichts 
wie Staub und Wind. Wind und Staub, und das geht in einem fort, 
Tag für Tag. Mancherorts haben sich förmliche Staubhügel gebil- 
det, ähnlich wie bei uns daheim, wenn im Winter der Wind den 
Schnee zusammenfegt. Die Hohlwege sind geebnet, viele Felder sind 
zu Niederungen ausgehöhlt. Die Wintersaat ist indes verschwunden 
und wo noch Einiges stehen geblieben, hat sich eine oft fußdicke 
Sandschicht darauf gelegt. Daß die Sonne vollständig verfinstert 
war. und daß man bei Tage das Licht anzünden mußte, ist öfter 
als einmal vorgekommen. Vor wenigen Tagen, als aber der kalte 
Norden mit voller Gewalt loslegte und wahre Sandmauern vor sich 
her trieb, sind viele Leute, die sich auf den Feldern oder auf den 
Wegen befanden, im Staube erstickt. Kein Wölkchen verirrt sich 
mehr an den blauen Himmel; man sollte schier glauben, Eliaszeiten 
seien angebrochen. Seit ich von Europa heimgekehrt, habe ich in 
Puoly keinen Regen mehr erlebt, daß es mir fast schwer wird, 
mir auch nur einen regelrechten Landregen vorzustellen. — Was 
der liebe Gott doch eigentlich mit China und den armen Chinesen 
vorhat? Seine Strafrute folgt Schlag auf Schlag. Schon jetzt be- 
ginnen sich Räuberbanden zu bilden und das hungerleideude Volk 
schließt sich ihnen an. Falls es in diesem Jahre zu einer eigent- 
lichen Mißernte kommt, ist eine allgemeine Revolution in hiesiger 
Gegend unausbleiblich. Aus der Nachbar-Provinz Tschely, wo im 
verflossenen Jahre die Ernte vollständig mißraten, sterben die Leute 
zu Tausenden des Hungertodes. Tagtäglich kann man Auswanderer 
vorbeiziehen sehen, die der heimatlichen Scholle, die für sie ein 
( )rt des Schreckens geworden, entflohen sind, um anderswo ihr Leben 
zu retten. Wahre Jammergestalten sind es, denen der Tod seine 
Knochenhand bereits in den Nacken gelegt hat. Beim Anblick 
eines solchen Elendes müssen alle Gefühle der Rührung und des 
Mitleides erstarren: Der Missionar sieht sich einem Strome gegen- 
über, dessen Lauf er nicht hemmen kann. Wie oft habe ich das 
Herz einer armen Mutter brechen müssen (und auch das Herz des 



— 301 — 

Missionars war dabei zum Zerbrechen voll!), die mir ihren weinen- 
den Säugling vor die Füße legte, mit der Bitte, ihn zu ernähren. 
Wie oft mußte ich die Türe verriegeln, um einen jammernden Vater 
abzuhalten, der sein Kleines, dem die Mutter gestorben, „dem Prie- 
ster schenken" wollte, um es vor dem Hungertode zu retten. 

„So lange noch Kinder wachsen, wächst auch noch Brot", hat 
ein gelehrter und frommer Mann gesprochen (P. Kreiten) und er 
hat recht geredet, wird jeder sagen, der es hört. Aber dennoch 
sollte man hier in China bisweilen an der Richtigkeit seines Aus- 
spruches zweifeln, wenn man nämlich die Unmassen von Kindern 
sieht, die obdachlos und brotlos und nicht selten auch elternlos 
herumirren oder -liegen. Wer soll ihnen denn Brot brechen oder 
läßt der himmlische Vater keines für sie wachsen? Ganz gewiß 
doch! Er, der für die Spatzen sorgt, sollte sich der Kleinen nicht 
annehmen, die Seine Lieblinge sind! Der fromme Tobias belehrt 
uns, wer Brot unter sie austeilen soll: „Hast du viel, so gib auch 
viel, hast du wenig, so gib auch von dem Wenigen mit freudigem 
Herzen. u Für Manchen ist eine Mark viel, für Manchen aber be- 
deutet eine Mark ein Weniges. Viele halten es in ihrem Leben 
gerne mit der Witwe im Evangelium, indem sie den Heller der Armen 
zahlen. Dabei gleicht aber nur ihre Gabe jener der Witwe: ihre 
Gesinnung ist eine ganz andere. Sie könnten auch das Opfer der 
Reichen bringen, vor unserm Herrgott aber belieben sie gerne arm 
zu scheinen, weil sie sich von ihrem Reichtum nicht gut tren- 
nen können. — 



Puoly, 10. Mai 1901. 
Dieser Tage ist hier ein erquickender Regen gefallen, eigent- 
lich der erste, den ich seit beinahe zwei Jahren in Puoly gesehen 
habe. Es hat fast drei Tage geregnet und drei Nächte dazu. Ein 
ganz milder Landregen war es, der Zeit genug fand, in das dürstende, 
ausgetrocknete Erdreich einzusickern. Dem Himmel sei gedankt! 
Nach einer solchen Trockenheit freut man sich mit der lechzenden 
Natur und ist entzückter, als wenn Wein oder Bier vom Himmel 
geträufelt wäre. Dieser Regen nützt uns vorläufig mehr als alle 
Friedensverhandlungen und Vorschläge der Diplomaten und besänf- 
tigt zu allermeist die aufgeregten Gemüter. Fällt die Weizen ernte 
in hiesiger Gegend auch spärlich aus, so können doch die Leute 
für die Herbsternte anbauen, und die ist ja die Hauptsache. Hoffent- 
lich hat sich jetzt auch der Wind ausgeblasen. Gestern war 



— 302 — 

chinesischer Sommeranfang und da hat sich kein Lüftchen gemuckst. 
Wenn aber an diesem Tage Windstille ist, dann hält sich der Wind 
für den ganzen Sommer kaduk, sagen die Chinesen. „Zu Sommer- 
anfang ist der Wind erstorben; ist er nicht erstorben, dann bläst 
er noch vierzig Tage lang", lautet ein Sprichwort, und die chine- 
sischen Sprichwörter sind meistens nicht ganz ohne. — Die Furie 
des Krieges scheint allmählich in der Ferne zu verschwinden. Das 
Volk spricht hier kaum mehr vorn Kriege. Wozu auch gar; Geld 
hat er ihm noch wenig gekostet oder gar keins, und ein gefallener 
Sohn oder Bräutigam ist nur in seltenen Fällen zu beklagen. „Was 
sollen die paar gefallenen Söldlinge aus dem Norden oder Süden 
gegen die Millionen, die sich noch ihres Daseins erfreuen l u Tat- 
sache ist, daß ich in hiesiger Gegend noch keinen Chinesen habe 
klagen hören, der seinen Sohn vermißt, weil er im Kriege gefallen. 
Und was den „Sohn des Himmels* (den Kaiser) angeht, so mag 
er ruhig in der Ferne weilen, den gewöhnlichen Mann kümmert 
dies herzlich wenig. Er muß sich durchschlagen und sehen, wie 
er fertig wird; mag der Himmelssohn es auch so machen, wenn 
ihm sonst keine Macht zu geböte steht. Auch ist es dem chine- 
sischen Staatsbürger höchst gleichgültig, ob der Kaiser in Peking 
oder in Singanfu oder anderswo weilt; des Kaisers holdes Antlitz 
darf sein sterbliches Auge ja doch nicht schauen, und Steuern muß 
er entrichten, einerlei ob der Drachenthron im Norden aufgeschla- 
gen ist oder im Süden. Auch die Boxer sind so ziemlich von der 
Bildfläche verschwunden. Da sind ja in der letzten Zeit so viele 
Strafen angedroht und durch Maueranschläge bekannt gegeben, daß 
es ihnen ordentlich in die Knochen gefahren sein muß. Freilich 
wissen die Sektenbrüder sehr wohl, daß es längst nicht so schlimm 
gemeint ist, als es da auf dem Papier steht und daß auch in China 
die Suppe nicht so heiß gegessen wird, als sie die „europäischen 
Teufel" auftischen. Mit der Bestrafung der Übeltäter wird es denn 
auch keineswegs so eilig und ernst genommen, als mancher wohl 
erwarten mochte. Wohl muß der eine oder andere seinen Kopf 
lassen, dafür werden aber Tausende schuldlos erfunden oder man 
läßt sie in Ruhe. Die chinesische Justiz scheint sich bei Bestra- 
fung der Boxer nach dem mittelalterlichen Grundsatze zu richten: 
Wer einen straft, straft hundert. „Wie sollten wir, u erklärte mir 
neulich ein Mandarin, „all das unschuldige Volk zur Rechenschaft 
ziehen können, da damals die Spitzen der Regierung (der Mandarin 
spielte auf den berüchtigten Yühien, Vicekönig von Schantung, an) 
selber die Boxer beschützten und ihnen gewogen waren? Wer 



— 303 — 

selber nicht mittat, mußte wenigstens irre werden." Der Gedanke 
ist ja wohl wahr, aber es handelt sich nur darum, ob bei einem zu 
milden Vorgehen die Zukunft gesichert bleibt. Wer sich'den trügeri- 
schen Illusionen hingeben wollte, müßte die Chinesen nicht kennen. 



Puoly, den 11. Juli 1901. 

Gestern Abend donnerte und blitzte es hier ganz gewaltig, 
aber der lang ersehnte Regen blieb aus. Die Chinesen sagten: 
„Tieft kuan chui ta lei f pu chui chia jü a : „Der Himmel hat nur 
Donner, aber keinen Regen. u Heute hat indessen der Himmel 
bewiesen, daß er auch noch Regen hat, denn Regen ist gefallen, 
der lang ersehnte und viel erflehte, zwar nicht in Strömen, aber 
doch genug für die dürstenden Fluren. Jetzt kann die Spätsaat 
bestellt werden (Bohnen, Mais, Buchweizen) und die bestellten Saaten 
(Sorgho, Hirse), die dem Vertrocknen sehr nahe waren, können 
neubclebt aufatmen. Jetzt wächst es wirklich, „daß man's hört". 
Jeden Morgen ist der Sorgho um fast eine Pingerlänge höher ge- 
schossen. Gott sei Dank! Die Aussichten für eine wenigstens ziem- 
lich gute Herbsternte sind jetzt gesichert. „Uen tjin tjin, mä-pu-lio 
na-jan chao jü u , sagen hocherfreut die Bauern: „Für zehntausend 
Pfund Gold ist solch ein herrlicher Regen nicht zu kaufen. u So 
ein Regen belebt nicht nur die Felder, er besänftigt auch, wenig- 
stens einigermaßen, die aufgeregten Gemüter und nützt uns vorläu- 
fig mehr als alle Friedensverhandlungen und -Versicherungen. 

„Der Himmel kann nur donnern hat aber keinen Regen", 
diesen Ausspruch gebrauchen die Chinesen auch in figürlichem 
Sinne; wenn Jemand nämlich zu drohen versteht, aber seinen Dro- 
hungen keinen Nachdruck zu geben vermag. Oder wenn sie Donner 
und Regen aus dem Spiel lassen, sagen sie wohl : Der Mann spricht 
große Worte und gebraucht kleine Käsch (Mu-gin schuo ta chua, 
sehe sio ts'ien) das heißt : er ist ein Großsprecher und macht nur die 
Leute bange. 

Die Chinesen haben vor den Europäern und besonders vor 
den europäischen Soldaten gewaltigen Respekt gehabt und mancher 
hatte auch wohl schon geglaubt, sein letztes Stündlein habe geschla- 
gen und „die Dynastie der großen Klarheit u sei dem Untergange 
geweiht. Jetzt ist es aber anders geworden. Gewiß die Soldaten, 
die Deutschen sind tapfer und schießen vorzüglich, aber — China 
ist groß und der Chinesen Beine sind flink. Was wir nicht mit 
Waffengewalt erringen konnten, das haben wir mit vielen Versprechen 



— 304 — 

und guten Worten erreicht. „Hou-Ie tsä schuo". Kommt Zeit 
kommt Rat. Die Europäer haben tüchtig gedonnert und uns bange 
gemacht: der Regen ging leidlich vorüber. 

Wir Missionare müssen wohl froh sein, wenn uns die Chinesen 
nicht allzu bald den Hals umdrehen oder gar die Haut abziehen, 
und wir werden es uns schon gerne gefallen lassen, wenn sie uns 
nur schief angucken. Aber Schade ist es, daß man im vorigen Jahre 
um diese Zeit nicht die Erfahrungen hatte, die man jetzt gesammelt 
hat, dann wäre der Feldzug vielleicht anders ausgefallen und es 
wären andere Resultate erzielt worden. Die Chinesen sind uns dies- 
mal einmal wieder zu schlau gewesen und — es wird vielleicht 
noch nicht das letzte Mal gewesen sein. 

Ob es in der Zukunft ruhig bleiben wird, hängt teils davon 
ab, ob der Kaiser seine Residenz nach Peking zurückverlegt. Die 
Kaiserin-Witwe hat bereits bei den Gräbern ihrer Ahnen auch für 
sich ein Mausoleum errichten lassen, das viele Millionen gekostet 
hat: da« wäre wohl ein Grund, mit dem man die alte Dame be- 
wegen könnte, das verlassene Heim wieder aufzusuchen. Wenn sie 
aber an die gefahrdrohende Stellung der Europäer in Peking denkt, 
mag es ihr wohl schwül ums Herz werden: „Tsien u lu, hou u 
t schuang" „Vorwärts kein Weg, rückwärts keine Stätte — da ist 
schwer ein Entschluß zu fassen. 

Aber auch für den Fall, daß es die chinesische Regierung 
mit dem Frieden aufrichtig meint und nach Peking zurückkehrt, 
werden noch Jahre vergehen, ehe die Gemüter der Zopfmänner 
vollständig wieder beruhigt sind. Die Überreste der Boxer aber — 
und die dürften gar nicht so klein sein — werden es noch oft genug 
versuchen, die Fahne der Empörung von Neuem zu erheben und 
falls sie ihnen dann nicht sofort entrissen wird, kann sich das Boxer- 
Drama immer wieder von neuem aufspielen. Wir werden in nächster 
Zeit noch oft genug von Sengen, Morden und dergleichen hören. 
Was aber nach dreißig oder fünfzig Jahren sein wird, ehe die Kriegs- 
entschädigung vollständig eingelöst ist, wer vermöchte das zu sagen. 
Die Schwarzseher sagen: Nach dreißig bis fünfzig Jahren holen 
sich die Chinesen ihre Kriegsentschädigung von den Europäern zu- 
rück. Wer die Dinge aber ohne schwarze Brille betrachtet, wird 
sich sagen müssen: dreißig bis fünfzig Jahre ist eine lange Zeit, 
lang genug, um allerlei Überraschungen zu bringen. 

Doch wozu sich mit der Zukunft beschäftigen in banger Sorge. 
Jeder Tag hat genug der Plage und die Gegenwart macht uns 
vollauf zu schaffen. 



— 305 — 

Puoly, den 3. Oktober 1901. 

Die ineisten Menschenkinder haben es nicht gerne, wenn sie 
während der Nacht im Schlaf gestört werden. Läßt doch mancher 
selbst den Freund vergeblich klopfen, wenn er gar zu spät an die 
Türe kommt. Und in China muß man mit dem Türöffnen im Dunk- 
len erst recht vorsichtig sein, denn gewöhnlich sind es keine Freunde, 
die spät um Einlaß bitten. 

Eben hatte ich mich gestern Abend zur Ruhe gelegt, als es 
an der großen Pforte rappelte. Ich hörte, wie der Pförtner bereits 
mit dem Klopfenden unterhandelte und keine Lust mehr hatte, ihm 
zu öffnen. Draußen bellten die Hunde, als ob Räuber im Anzüge 
wären, und das viele Schießen ringsumher schien auch nicht für 
die Eatz zu sein. Schnell war ich auf den Beinen und fragte zum 
Fenster hinaus, was da denn los sei. „Der Kopf eines Geköpften", 
rief mir der Pförtner zu. „Eben sind Leute aus dem Mandarinate 
gekommen und führen das Haupt des Li-gu-le mit sich." — „Laß 
die Leute zum Wirtshaus gehen, sagte ich; in so später Nacht- 
stunde wird die Türe nicht mehr geöffnet." Die Sache schien mir 
ein wenig verdächtig. Ich fürchtete, anstatt des toten Räuberhaup- 
tes könnten am Ende lebende Räuber zum Tore hereinschlüpfen; 
weise Vorsicht ist bei den Chinesen immer am Platze. 

Heute morgen ist denn nun aber doch das leibhaftige Haupt 
des Li-gu-le in die Residenz gebracht worden. Gestern Abend spät 
wurde es dem armen Sünder vom Rumpfe getrennt, und da der Man- 
darin wohl fürchtete, der Geist des Li-gu-le könne ihm während 
der Nacht Lärm machen, ließ er das Sünderhaupt noch während der 
Nacht an den Ort seiner Untaten bringen. 

Li-gu-le war nämlich einer der Haupthelden, die im vorigen 
Jahre mit einigen Tausenden Boxern die hiesige Residenz drei Tage 
und drei Nächte lang bombardierten. Als sich die Zeiten geändert 
hatten, fahndete der Mandarin lange vergeblich auf ihn. Nur durch 
List gelang es schließlich den Schergen des Mandarins, des Übel- 
täters habhaft zu werden. Als Li-gu-le seine Untaten eingestanden 
und auch eine Reihe Mitgenossen angegeben hatte, hat der Man- 
darin kurzen Prozeß mit ihm gemacht. Das hätte der arme Mensch 
vor einem Jahre, als er mit unzähligen Gesinnungsgenossen die hie- 
sige Residenz zu erstürmen suchte, wohl nicht gedacht, daß hier 
so bald sein Haupt aufgehängt werden solle, zum abschreckenden 
Beispiel für andere. Wir haben jedoch von dem Aufhängen Abstand 
genommen, und die Büttel mit dem Haupte des armen Sünders 
heimgeschickt. Unserthalben mögen es die Verwandten wieder an 

K. Fiepe i, „Neue Bündel". 20 



— 306 — 

den Rumpf nähen, damit der Geköpfte im Jenseits nicht kopflos 
vor dem Jen-wang, (Itichter in der Unterwelt zu erscheinen braucht. 

Im Übrigen haben es hier die Herrn Mandarine in Bestrafung 
der Schuldigen nicht so eilig und sind, wo eben möglich, bestrebt, 
Milde vor Recht ergehen zu lassen. Wer sich «kaduk* halt und 
sein Leben nicht durch fortgesetzte Räubereien verwirkt, hat nicht 
viel zu fürchten. Unser Mandarin Siä scheint überhaupt gerne den 
Ruf eines .milden Herrschers u ernten zu wollen und glaubt seine 
.braven Kinder" mit guten Worten regieren zu können. Wenn 
er seine Pappenheimer besser kannte, würde er ganz gewiß andere 
Saiten aufziehen. Die Folgen seiner Großmutterwirtschaft machen 
sich denn auch mit jedem Tage mehr bemerkbar. Die Wege sind 
unsicher, da es überall von Raubern wimmelt; Verkehr und Handel 
stockt ; Einbrüche während der Nacht und Räubereien bei Tage sind 
an der Tagesordnung. Es ist schon eine wahre Kunst, die Brief- 
boten nach Tsining und anderen Städten unbehelligt durchzubringen. 
Schon zweimal wurde mir eine ganze Sendung Briefe geraubt. Der 
Vorgänger des Herrn Siä, der „alte Je* (wild), machte seinem Xa- 
men alle Ehre, denn er war ein wahrer Schrecken aller Bösen. Hatte 
er nicht allzusehr nach dem Fette der Guten gegeizt, wäre er gmr 
kein so übler Mann gewesen. Die Räuber hatten damals saure 
Gurkenzeit, aber dafür stahl Herr Je selbst die „Groschen* aus den 
Taschen seiner Untergebenen; ob gerecht oder ungerecht, darüber 
machte er sich wenig Sorgen. Deshalb hat er sich auch einem 
Räuber gleich bei Nacht und Nebel davon gemacht, seine T Schäf- 
chen* aber brachte er glücklich ins Trockne. 

Armes Chinesenvolk! geschoren mußt du werden. Verschone 
die Wölfe, dann beißen dich die Hunde. 



Puoly. den 6. November 1901. 
Jetzt, wo der Friede ins Land gezogen, fangen die Leute 
allmählich an, den Krieg zu fühlen. Aber das ist ja ein wahres 
„Heidengeld", das uns die weißen Teufel aus den Rippen schneiden 
wollen: muß das doch eine hungerige Bande sein!" Wenn die 
Leute bisweilen so denken und sprechen, kann man es ihnen nicht 
sehr verargen. Sie haben die Boxer nicht aufgefordert Unheil über 
das Land und den „Himmelssohn" zu bringen, und .mitgeholfen" 
haben sie nur da, wo die Hoffnung blinkte, etwas zu erhaschen. 
Die Boxer aber haben sich nun aus dem Staube gemacht, und der 
gemeine Mann kann die Lasten tragen. Wenn das noch Lasten 



— 307 — 

wären, die der Krieg wirklich verursacht hat! Unter dem Titel 
Kriegsentschädigungen sucht man aber dem Volke auf alle mögliche 
Weise Geld abzuzwicken. Den Herrn Mandarinen ist damit wieder 
einmal gute Gelegenheit geboten, ihr Schäflein ins Trockne zu brin- 
gen. Das meiste Geld bleibt natürlich, wie gewöhnlich, in den 
Taschen der Väter des Volkes hängen. Und dabei können sie doch 
nichts dafür, daß die Ausländer so exorbitante Forderungen gestellt 
haben. Auf allen Klaviaturen wird herumgetappt, um das Volk zu 
täuschen und dabei trocken zu melken. Alle erdenklichen Steuern 
will man auflegen und versucht es bald hiermit, bald damit. Neu- 
lich war gar die Rede davon fortan müsse für jedes eierlegende 
Huhn Steuer bezahlt werden. Da könnten sich ja wahrlich noch 
einem Miquel neue Gesichtspunkte zur Verbesserung der Finanzen 
erschließen! Auch spricht man von Marktsteuern, Kopfsteuern, 
Haussteuern und Salzsteuern. Die Kopfsteuer wäre wohl das beste 
Mittel, um endlich einmal zu erfahren, wie viele Zopfträger es denn 
eigentlich im „himmlischen Reiche" gibt. Die Salzsteuer besteht 
aber bereits mancherorts. Schon suchten mich wiederholt Deputa- 
tionen aus den Dörfern eines Nachbarbezirkes auf, um sich Rat zu 
holen, wie sie sich das entsetzlich viele Salz, daß ihnen der Man- 
darin zum Essen und zum Bezahlen auf den Hals schickte, vom 
Leibe halten können. Die armen Leute sind vielfach wirklich zu 
bedauern; manche konnten sich früher den „Luxus" des Saltzge- 
brauches nicht erlauben, da sie nicht einmal Geld hatten, Brod zu 
kaufen. Andere kauften für den halben Preis „kleines Salz" (sio-ien). 
Jetzt soll Jedermann, einerlei ob arm oder reich, in bestimm ler 
Zeit ein bestimmtes Quantum, Salz essen und wenn er das nicht 
tut, wird ihm mit dem Bambus „Raison beigebracht". — Alles das 
sind Dinge, die noch vorläufig über den Horizont der Bauern hin- 
ausgehen. Wenn sie jedoch einmal begriffen haben, um was es sich 
handelt, dann werden sie's genug haben, nicht nur das Salz, sondern 
noch manches Andere. Der Chinese duckt. sich so lange, wie nur 
eben möglich; wenn es aber einmal zu arg wird, dann bekommt 
auch er es „satt". Es läge im allgemeinen Interesse, zu verhüten, 
daß ihnen der Appetit nicht verdorben würde. 

Unsere Bauern hier vom platten Lande haben auch nicht die 
leiseste Ahnung von der Sühnemission, die Prinz Ch'un nach Deutsch- 
land vollführte. Wie sollten die guten Leute auch so etwas erfahren. 
Die Herren Mandarine beobachten wohlweislich silentium trictissimum, 
ebenso die Gelehrten, die von dem Vorgange etwas wissen. Zei- 
tungen aber, die aus nah und fern Neuigkeiten verkünden, werden 

20» 



— 31)8 — 

vom gewöhnlichen Mann nicht gehalten, (In er sie doch nicht lesen 
kann. Was das Volk wissen soll, kommt schon zu Heiner Kenntnis, 
auch ohne Zeitungen und Telographendienst. Wenn z. B. ein 
europäischer Prinz dem Kaiser Kuang-hsü einen Sühnebesuch ab- 
gestattet hätte, dann wurden es die Spatzen von jedem Dache her- 
unterschreien und man würde von den Ketten erzählen, mit denen 
der arme Prinz gefesselt gewesen sei und den unzählichen Kou-t'ous, 
die er vor der chinesischen Majestät habe machen müssen. 



Puoly, 17. Dez. 1901. 
Seit Jahren soll es nicht mehr so kalt gewesen sein, wie im 
heurigen Winter. So weit das Auge reicht, ist Alles mit fußtiefoni 
Schnee bedeckt und seine Kegion soll sich meilenweit erstrecken. 
Die Leute sind darob sehr erfreut, besonders jene, deren Acker mit 
Weizen bestellt sind. Unter der Schneehülle steht die Saat gut, 
geschützt gegen Frost und Kälte ; auch kann das Vieh die Sprossen 
nicht mehr abweiden. Im Winter bilden Weizenfelder gemeiniglich 
die Wiesen für Kühe und Kälber, Ochs und Esel, Schafe und Ziegen. 
Einige Bauern wollen freilich nichts davon wissen, indem sie behaup- 
ten durch das Abweiden werde die Saat beschädigt. Dann tun sich 
meistens einige Dörfer zusammen und lassen Theater spielen. „Laen 
tsing chi u heißt ein solches Theater: „Verhindern (abzuweiden) 
das Grüne*, nämlich den Weizen, denn anderes Grün ist im Winter 
bei uns hier auf den Feldern nicht zu finden. Theaterspielen ist 
bei den Chinesen das beste Mittel, eine Sache bekannt zu machen, 
denn um einem Theater beiwohnen zu können, pilgert man gerne 
aus weiter Ferne herbei. Auf roten Zetteln steht an den Ecken 
angeschlagen, welche Strafe jene zu erwarten haben, deren Vieh 
auf den Feldern angetroffen wird. Für ein großes Stück (Kuh, 
Pferd oder Esel) ist meistens ein Tio zu zahlen, für ein kleines 
(Ziege, Schaf) die Hälfte. Dann heißt es, sich in Acht nehmen, 
aber die Nächte sind oft dunkel genug, um sich nicht attrapieren 
zu lassen, während das Vieh auch im Dunkeln weiden kann. Sollte 
es aber eingefangen werden, dann hat es sich natürlich „losgerissen" 
oder „die Stalltüre war nicht gut geschlossen u . 




— 309 — 

Nur Mut! immer weiter! 

Puoly, 15. Febr. 1901. 

Jio freudig pochte das Herz des Missionars, als die Kunde 
kam: „Zurück ins Innere!" Zurück in den alten Wir- 
kungskreis, zurück zu den verlassenen Schäflein, von 
Cf^SSSSÜS denen ihn die Gewalt getrennt hat. Mancher hatte kaum 
zu glauben gewagt, daß „die Zeit der Erlösung" so schnell heran- 
nahen werde. — Zurück also in die Heimat, mag der kalte Nord 
auch noch so stürmen und die Schneeflocken ihre Reigen tanzen. 
Die Witterung tat denn auch ihr Möglichstes, um die Reise zu 
einer wahren Bußfahrt zu machen. „Liu la pu tsch'u möl u sagen 
die Chinesen, d. h. „im sechsten und zwölften Monate soll man nicht 
auf Reisen gehen." Im sechsten nicht wegen Hitze, Regen und 
Überschwemmung, im zwölften nicht wegen Schnee, Frost und Kälte. 
Die Vorsehung wollte es aber, daß beide Fahrten, sowohl nach Tsing- 
tau als von dort wieder zurück, gerade in den sechsten und zwölften 
chinesischen Monat fielen. So verschieden die Witterung war bei 
Flucht und Rückkehr, ebenso verschieden waren auch die Gefühle 
in der Brust des Missionars. Damals Trauer, Bangigkeit um die 
verlassenen Christen: jetzt freudiges Hoffen, neuer Mut, erstarktes 
Gottvertrauen. 

Ja jetzt heißt es schaffen, arbeiten mit erneuter Kraft, heißt 
es tätig sein, um das Zerstreute zu sammeln, das Zerstörte aufzu- 
bauen; jetzt heißt es das gebeugte Rohr kräftig zu stützen, den 
glimmenden Docht zu neuer Glut anzufachen. Zu alledem bedarf 
der Missionar neuen Mut und der — Gott sei Dank — fehlt ihm 
nicht. Nur fürchte ich, lieber Freund Leser, daß bei Dir in den 
letzten Monaten der Mut ein wenig gesunken, Dein Interesse für 
die Mission ein wenig erkaltet ist, besonders für die chinesische. 
Vielleicht hast Du bei Dir gedacht oder gar gesprochen, es ist ja 
doch Alles umsonst. Die Chinesen sind ein gar zu barbarisches 
und hinterlistiges Volk. Was die Missionare heute unter vielen 
Mühen und Arbeiten aufbauen, das wird nach wenigen Jahren doch 
wieder in Trümmer geschlagen und alles Arbeiten ist umsonst; und 
auch meine Sparpfennige, die ich für die Mission geopfert habe, 
sind in einen durchlöcherten Sack gelegt. — Aber nur langsam, 
mein lieber Freund, so arg ist es nun doch nicht. Vor Allem, und 
das merke Dir für immer — der liebe Gott hat keinen durchlöcherten 
Sack. Dein Verdienst, und wäre es auch nur ein Pfennigsverdienst, 



— 310 — 

ist in goldenem Schreine aufgehoben und dazu hat es der liebe Gott 
noch gebucht mit unausl<~Hchban»n Lettern. Das Verdienst beim 
lieben Gott, und das ist ja die Hauptsache — geht Dir niemals ver- 
loren, mag es in China auch noch so darunter und darüber gehen. 
Dann ferner: (flaube nicht, es «ei bei un<* nichts mehr vorhanden 
aN Trümmer und Ruinen. Unsere Hauptre^idenzen mit ihren An- 
stalten sind unversehrt geblieben und auch sonst noch mehrere Kirchen 
und Gebetshäuser. Was aber zerstört ist, wird die Regierung wenig- 
stens einigermaßen ersetzen. Und dann — und das ist wieder die 
Hauptsache — das geistige Gottesgcbände in den Herzen unserer 
Christen ist nicht zerstört worden. Fast alle haben treu und uner- 
schrocken an ihrem hl. Glauben festgehalten. Hab und Gut hat 
man ihnen geraubt, nicht aber den wahren Glauben. Ja es scheint, 
als sei bei Manchem das Glaubenslicht durch den Sturm zu noch 
größerer Glut angefacht worden. 

Also nur Mut. mein lieber Leser und nicht verzagt. Ich meine, 
Du müßtest eigentlich den Missionar aufmuntern, damit er nicht 
kleinmütig werde auf seiner verantwortungsvollen Laufbahn, und 
jetzt muß der Missionar gar Dir noch Mut zusprechen. Doch viel- 
leicht bedarfst Du eines solchen Zuspruches auch nicht, da Du Dir 
selber Mut einzuflößen verstehst und die Ereignisse hienieden immer 
vom richtigen Standpunkte aus betrachtest, vom Standpunkte des 
Glauben*. «Was der Herr tut. ist wohlgetan — Denen, die Gott 
lieben, gereichen alle Dinge zum Besten — Wen Gott lieb hat, den 
züchtigt er*. — Solche und andere Wahrheiten sind Deine Wahl- 
sprüche und Du klammerst Dich daran empor. Es sind das auch 
die Trostsprüche des Missionars. Er weiß, daß man ihm Alles rauben 
kann, Gesundheit und Leben, nicht aber — die Krone; daß man 
ihm Alles nehmen und zerstören kann, nicht aber — das Verdienst. 

Es ist ja menschlich und das begreift der Missionar sehr wohl, 
daß es dem Herzen wehe tut. wenn wir die Arbeiten unserer Hände, 
die Ersparnisse unseres Fleißes gleichsam mit einem Schlage ver- 
nichtet sehen. Aber soll uns das entmutigen! Zahle die Millionen, 
die auf dem Meeresboden vergraben liegen, über welche die Wogen 
des Oceans hinwegrauschen, die keine menschliche Hand heraus- 
zuheben im Stande ist. Und diese Millionen werden alle Jahre ver- 
mehrt durch Schiffe, die ihren Untergang finden und ins nasse Grab 
hinabsinken mit allen Schätzen, welche sie enthalten. .Doch traurig,* 
denkst Du. — .Ja wohl,* aber Du denkst nicht: Man solle die 
Schifffahrt doch einstellen, dann gingen auch keine Schiffe mehr zu 
gründe.* — Wie das Herz des Landmannes blutet, wenn er seine 



— 311 — 

Saat vom Wetter zerschlagen am Boden liegen sieht. Wie viel 
Arbeit und Schweiß hat es ihn gekostet, ehe er sie so weit gebracht ; 
jetzt sind seine Hoffnungen zerstört. „Doch traurig," denkst Du. 
— „Ja wohl a — aber Du denkst nicht: „Der Landmann sollte doch 
das Land nicht mehr bestellen, dann könnte ihm der Hagel auch 
seine Saat nicht vernichten. u Wie oft muß der Winzer vergeblich 
düngen, pflügen, hacken, schneiden : seine Reben bringen ihm keine 
Trauben. Aber überläßt er deshalb den Weinberg seinem Schicksal? 
Nein, er hofft immer von neuem, und im Frühlinge pflegt er mit 
neuen Hoffnungen seine Reben. — So in der Natur; ähnlich ist es 
auf geistigem Gebiete. Glaube nur, lieber Leser, auch in Europa 
hat es nicht immer so „glatt* abgegangen. Die Martyrer-Akten 
liefern dafür ein beredtes Zeugnis. Unsere herrlichen Dome und 
Gotteshäuser sind vielfach erbaut auf zerstörten Kapellen, auf Boden, 
der mit Martyrerblut getränkt wurde. 

Darum nicht verzagt und sollte es gar noch ärger werden wie 
im verflossenen Jahre. Fahre fort Dich zu interressieren für das 
hohe Werk der Glaubensverbreitung. Fahre fort zu beten, zu 
opfern, unbekümmert um das, was noch kommen mag: 
„Nur stille liebes Herz, 

Und laß den Stern der Hoffnung, der uns blinket, 

Mit frohem Mut und klug entgegensteuern." 



*^9i^^X^£^r- 



Maria Helferin der Christen! 

Ijn der Residenz Puoly im Speisezimmer hängt eine Tabelle, 
i worauf Folgendes zu lesen ist : 
| Gelöbnis. 

JIM Gefertigter gelobte feierlich im Angesichte der ganzen 
Gemeinde Puoly und von nahezu 1000 Flüchtlingen, das Fest 
Maria Auxilium Christianorum (Monat Mai) fünf Jahre lang feier- 
lich mit 13stündigem Gebete (Expositio Stmi. Sacramenti) begehen 
zu wollen, wenn die Residenz Puoly bei der großen Verfolgung 
unversehrt bleibt. 

Puoly, den 8. Juli 1900. 

Jos. Freinademetj, 
Provicar. 



— 312 — 

Gestern nun feierten wir das Fest „Maria Hülfe der Christen* 
und zwar so feierlich als möglich. Zwar bot der Garten wenig 
Blumen — diese Frühlingskinder wollen bei uns so recht nicht 
gedeihen in dem versalzenen Boden — und auch die Flur war öde 
und grau, denn die Sonne hatte Alles ausgetrocknet. So mußten 
denn künstliche Blumen und viele Kerzen helfen, um das „Wunder- 
bild" der lieben Gottesmutter würdig zu zieren. Die Christen waren 
recht mit Feldarbeit beschäftigt, aber jeder opferte doch freudig 
und gerne einige Stunden, um sie in stiller Andacht zu verbringen 
vor dem Allerheiligsten. Oben auf dem Altare stand das Bild der 
Gottesmutter und manches tränenfeuchte Auge richtete seine Dankes- 
blicke zur Gebenedeiten empor. Sie, die mächtige Schutzfrau der 
Christenheit, hat in hart bedrängter Zeit die Gebete der Flehenden 
gnädiglich erhört und hat ihren mütterlichen Schutzmantel über 
Residenz und Gemeinde Puoly ausgebreitet. Hätte uns Maria nicht 
beschützt und zwar in so auffallender, wunderbarer Weise, dann 
wäre die Wiegenstätte der Mission in Süd-Schantung ohne Zweifel 
dem Erdboden gleich gemacht und mit ihr zugleich die ganze 
Christengemeinde ruiniert worden. Zur Erbauung aller frommen 
Kinder Mariens — wozu der freundliche Leser hoffentlich auch 
gehört — sei der Vorgang hier kurz erzählt: 

Bekanntlich kehrte der hochw. Herr P. Provicar Freinademetz 
mit Bruder Ulrich auf der Flucht nach Tsingtau gleich am ersten 
Tage wieder in das Innere der Mission zurück, weil sich der hochw. 
Herr Pater nicht von der Heerde trennen konnte, für die er damals 
als Vertreter des Bischofs die Verantwortung hatte. Der gute Bruder 
Ulrich aber wollte den Provikar gerne begleiten, da er hoffte, als 
Märtyrer zu sterben, weshalb ihm denn auch seine Bitte, mit um- 
zukehren, gewährt wurde. In Puoly angelangt, fanden sie die ganze 
Residenz in größter Aufregung. Viele Christen glaubten der Über- 
macht der Boxer gegenüber doch nicht Stand halten zu können 
und waren eben im Begriffe, die Residenz zu verlassen, um sich 
zu heidnischen Verwandten zu flüchten. Aber kaum waren sie 
einige Stunden weit fortgezogen, als Boxer über die Flüchtlinge 
herfielen, sie sämtlicher Habe beraubten und einen Christen tot- 
schlugen. Schleunigst kehrten die Armen wieder um nach Puoly; 
man sah ein, daß Fluchtversuche unmöglich waren. Sich vertei- 
digen bis aufs Blut und dann sterben für den lieben Gott, das war 
nun die Parole Aller. Die noch nicht getauften Katechumenon 
wurden schnell vorbereitet und dann getauft; alle anderen Christen 
beichteten, kommunizierten und bereiteten sich auf den Tod vor. 



— 313 — 

Täglich aber erschienen an der großen Pforte Häscher des Manda- 
rinen, der in immer strengeren Befehlen Räumung der Residenz 
verlangte. Zu guterletzt setzte er einen Termin fest, bis wann sämt- 
liche Christen die Residenz zu verlassen hätten, widrigenfalls er 
mit seinen Soldaten im Vereine mit den Boxern die Residenz an- 
greifen und zerstören werde. Daß noch zwei Europäer darin seien, 
davon hatte der Mandarin keine Ahnung, sonst hätte er zweifelsohne 
schon längst losgeschlagen. Der hochw. Herr Provicar überlegte 
nun mit den anwesenden chinesischen Priestern und den Christen- 
vorstehern, was am besten zu tun sei. Alle waren der Meinung, 
die Residenz müsse der Übermacht des Feindes unterliegen. P. 
Provikar und Br. Ulrich möchten auf verdeckten Wagen fliehen, da 
für sie bei einem Überfalle überhaupt nicht an Rettung gedacht 
werden könne. Die Christen aber wollten sich zur Wehr setzen 
so lange es möglich sei. Noch immer schwankte P. Provikar in 
seinem Entschlüsse, der Abschied von den Christen schien ihm 
unmöglich. Nur der Umstand, daß die Christen gegen die Soldaten 
des Mandarinen kämpfen wollten, wozu er seine Einwilligung nicht 
geben zu dürfen glaubte, brachten ihn zur Überzeugung, daß es 
wohl das beste sei, dem allgemeinen Drängen nachzugeben und 
zu fliehen. In Betreff der Waisenkinder hatte man schon einige 
Tage zuvor die nötigen Vorkehrungen getroffen und sie bei guten 
Christen unterzubringen gesucht resp. die größeren zu ihren Ver- 
wandten geschickt. 

In nächtlicher Stille verließen die beiden Flüchtlinge die Resi- 
denz — der gute Bruder das zweite Mal — und gelangten nach 
einer 7tägigen Reise auf verdeckten Schiebkarren bei größter Som- 
merhitze glücklich in die cirka 80 Stunden entfernte Residenz Wang- 
tschuang an. Die Strapazen der Flucht, die Gefahren bei Tage 
und Nacht könnten am besten die beiden Flüchtlinge selber schil- 
dern, wenn ihnen die Bescheidenheit nicht den Mund schlösse ; nur 
bei Gelegenheit erfährt man das eine oder andere davon. 

Nach Abzug der Europäer wurden Aufregung und Unordnung 
in der Residenz mit jedem Augenblicke größer. Ein Teil der 
Christen wollte gleichfalls flüchten, ein anderer Teil zog es vor, zu 
bleiben. Jene, welche fliehen wollten, suchten sich von dem Gute der 
Residenz (Kleider etc.) das anzueignen, was ihnen gut schien. 
(„Wenn die Residenz zerstört wird, fällt doch Alles in die Hände 
der Feinde", sagten sie sich.) Es hätte nicht viel gefehlt, dann 
wäre unter den Christen selber Streit und Meuterei entstanden, 
und der lauernde Feind hätte um so leichteres Spiel gehabt. Doch, 



— 314 — 

was war das ! Es läuteten ja die Glocken und in der Kirche horte 
man nichts wie Weinen und Schluchzen. Alles stürzte ins Gottes- 
haus: „Liebe Gottesmutter, hilf uns", flehte der eine. „Liebe 
Gottesmutter, errette uns", betete der andere. Das Bild der Him- 
melskönigin, eine mittelgroße Figur, welche die Gottesmutter mit 
gefalteten Händen in betender Stellung darstellt, war der Brenn- 
punkt, auf den alle Augen gerichtet waren — ihren Augen entquol- 
len Tränen: Maria weinte. 

Wer hat das Bild weinen sehen? Alle, die in der Kirche 
versammelt waren, freilich lauter Chinesen. Ob ihre eigenen Augen, 
die von Tränen überliefen, auch in den Augen des Bildes Tränen 
zu sehen glaubten, ob also das Gesehene auf Täuschung beruhte 
— das wage ich nicht zu entscheiden. Tatsache aber ist, daß von 
diesem Augenblicke an alle Christen eines Herzens und eines Sinnes 
waren, und daß Niemand mehr den Gedanken hegte, die Residenz 
zu verlassen. Die liebe Gottesmutter wird uns schützen, so rief der 
eine dem anderen zu; nur mutig gekämpft. Und wie mutig die 
Christen gekämpft und wie gnädig die Himmelskönigin die Christen 
und die Residenz beschützt hat, das hat die Folge bewiesen. Zu 
drei verschiedenen Malen suchten die Boxer in einer Übermacht von 
vielen Tausenden die Residenz anzugreifen, aber jedesmal wurden 
sie zurückgeschlagen. Die Rebellen sollen zu Haufen gefallen 
sein, auf Seiten der Christen aber war kein einziger Toter. 

Sobald die Kunde von diesen wunderbaren Vorgängen nach 
Wang-tschuang kam, beschlossen die beiden Flüchtlinge, P. Provicar 
und Bruder Ulrich sofort wieder nach Puoly heimzukehren. Schon 
am andern Tage begaben sie sich in aller Frühe auf den Weg. 
Und auch die Heimreise verlief glücklich, obwohl die Gefahren 
noch größer waren, als das erste Mal. 

Seit dieser Zeit ist das Bild der hehren Gottesmutter Gegen- 
stand allgemeiner Verehrung für die Christen von Puoly und der 
Umgegend. Schon Mancher will in allerlei Nöten Hilfe und Trost 
erfahren haben. Ich führe nur ein Beispiel an aus nächster Nähe 
und von gestern. 

Ein Kind in unserem Waisenhause, ein Mädchen von 8 Jahren 
war vor Jahresfrist blind geworden. Auch wurde sein Allgemein- 
befinden mit jedem Tage schlechter ; jeder, der das Kind sah, glaubte, 
es müsse sterben. Als nun das Fest der lieben Gottesmutter her- 
annahte, ermahnte die Vorsteherin des Waisenhauses das Kind, es 
solle einmal die liebe Gottesmutter recht vertrauensvoll und an- 
dächtig anflehen; die sei gut und mächtig, die könne es noch 



— 315 — 

gesund und sehend machen. Ein anderes Kind führte die kleine 
Blinde in die Kirche. Dort kniete sie vor dem Bilde nieder und 
betete: „Liebe Gottesmutter, ich bin eine arme Waise, habe sonst 
Niemanden, der mir Mutter ist. Sei Du meine Mutter hilf, daß ich 
sehend werde ; ich will auch immer fromm und brav sein und Dich 
niemals beleidigen. u Als das Kind so gebetet, sprach es zu dem 
anderen Mädchen, das neben ihm kniete: „Ich kann sehen \ u Ohne 
Führung ging es dann in das Waisenhaus und überraschte auch die 
Vorsteherin mit dem freudigen Rufe: „Ich kann sehen \ u — 

Zu dem Vorfalle kann ich Folgendes konstatieren: 1. Daß 
das Kind vorher wirklich nicht sehen konnte, und 2. daß es nun- 
mehr sieht. Ob es durch ein Wunder das Augenlicht zurück erhalten, 
will und kann ich nicht entscheiden. Weshalb übrigens sollte die 
liebe Gottesmutter nur ihren bedrängten Kindern in Europa wunder- 
bar zu Hilfe kommen und nicht auch den armen Chinesen, wenn 
sie es verdienen! — 

Maria, Hilfe der Christen, bleibe uns auch in Zukunft eine 
gute Mutter: beschütze gnädiglich Puoly und die ganze Mission! 



O OCCCC** **» 




■>! 



Zwei Tage Aufenthalt. 

SB 

ntef Regen rieselt hernieder, und vom Dache plätschert es 

schon seit gestern. Viele Tropfen vereinigen sich mit den 
Jl Pfützen da unten ohne Aufsehen und Geräusch, nur dieser 
oder jener klatscht auf die Fläche und schlägt eine Blase. 
Aber nicht lange glänzt das luftige Gebilde der nächste Tropfen 
zerschlägt ihn : Tropfen und Blasen sind verschwunden. Im Leben 
hienieden geht es ähnlich so. Es ziehen die Menschenkinder über 
die Bildfläche; der eine oder andere macht von sich reden, man 
nennt seinen Namen, und die Zeitungen feiern ihn. Aber es dauert 
nicht gar lange, dann kommt der Tod heran, und den er faßt, muß 
folgen. Die Zeitungen bringen die Todesanzeige, einen Nekrolog, 
und damit ist er vorläufig abgetan. Wird er länger genannt und 
spricht man noch nach Jahren von ihm, war es kein gewöhnliches 

Alltagskind mehr Aber auch der Tropfen Wasser, welcher 

still und unbemerkt sich mit dem Elemente da unten verbindet, hat 
gerade so gut seinen Zweck erfüllt wie jener, der klatscht und eine 
Blase schlägt. Wie so mancher verdient gelobt und gefeiert zu 
werden, — aber unbeachtet zieht er vorüber, und doch hat er nicht 



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• /_ - ■■■•■• Hv//-^- : ; ö-v Fr«-. -'.: 7^ ; --4ju:m M d«r Hui. 



— 317 — 

dessen Ehehälfte keinen Zuckerverkäufer über die Straße gehen läßt, 
ohne zu verkosten, ob seine Sachen auch gut sind. Putzmacher- 
innen gibt sie allerdings nichts zu verdienen, da sie sich selbst den Putz 
macht, was bekanntlich ein leichtes ist, da die Mode nicht wechselt. 

Beim Nachbar nebenan wird geflucht und Gift und Galle ver- 
schenkt in den gröbsten Ausdrücken. Ich fürchte jeden Augenblick, 
einer der Streitenden mache Ernst mit seiner Drohung und spalte 
seinem Gegner das Haupt oder tue Dinge an ihm, die noch schlim- 
mer sind. Und doch sind es Brüder, die da streiten und sich 
gegenseitig verwünschen. Man will die Erbschaft teilen; das ist 
immer eine heikle Sache. Tsing ktien naen tuen tja-u-sche, sagt 
der Mandarin, wenn ihm ein Erbschaftsprozeß unterbreitet wird: 
„Häusliche Angelegenheiten gerecht zu entscheiden, ist selbst einem 
klugen Mandarin kaum möglich/ 

Während der Regen einige Augenblicke aussetzt, spricht ein 
alter Chinese vor, der sich als „Dorf große " präsentiert. Er hält 
mich anfangs für den verstorbenen Bischof von Anzer, den er 
schon oft gesehen und gesprochen habe, und er ist nicht wenig 
bestürzt, als ich ihm mitteile, der Bischof weile nicht mehr unter 
den Lebenden. Eingehend erkundigt er sich, wann und wo der 
„Friedensbischof" {ngan — Friede, phonetisch = Anzer) gestorben sei. 
Er weiß so viel zu erzählen, wie der Bischof immer so gut und 
herablassend gewesen und ihn behandelt habe als einen lieben 
Freund. „Weißt du auch," fragte ich den Alten, „wo dein Freund 
jetzt weilt?" „0, der ist sicher auf einen wonnigen Platz gekom- 
men, irgendwohin, wo es gut ist. Der hat ja sein Lebtag nur Gutes 
getan, und wer Gutes tut, wird belohnt." „Möchtest du nach deinem 
Tode nicht mal gern deinen Freund sehen und auch an den won- 
nigen Ort kommen?" „0 wie gern; aber das wird nicht möglich 
sein." „Gewiß ist das möglich, aber du mußt den nämlichen Weg 
gehen, den der Bischof gewandelt und den er dir sicher schon ge- 
zeigt hat." „Ich verstehe nicht, was das für ein Weg ist." „Das 
ist der Weg der wahren Lehre; du mußt Christ werden und dich 
aufrichtig bekehren. Tust du das, dann darfst, du hoffen, nach 
deinem Tode auch dorthin zu kommen, wo es gut ist, und du wirst 
dann auch deinen Freund wiederfinden." „Ja wenn das möglich 
wäre, wollte ich ja gern Christ werden ; ich meinte immer, das habe 
keine Eile; aber ich bin jetzt doch schon alt, und es ist vielleicht 
gut, bald Ernst damit zu machen." 

Noch lange unterhielt ich mich mit meinem Besucher. Gute 
Worte und Versprechungen hat er genug gegeben, ob es ihm aber 



— 318 — 

ermt damit ist. muH die Zukunft zeigen. Nur schade, daß die 
Chinesen >o ^ern naeh dem Munde reden! Im Kerzen denken sie 
oft ganz anders, und die KiittäuMhuiig hinterher wirkt nicht selten 
wie ein kalter Wasserst ralil. 

Kin gewaltiges Drohnen wahrend der Nacht labt mich empor- 
fahren. Nicht weit von der Herherge entfernt ist eine Hauswand 
eingefallen. Die Fundamente waren vom Regen durchweicht, und 
da dieselben aus Luftziegeln befunden, gaben sie nach. Zum Glück 
war das Dach noch eigens dureh llolzaäulen gestützt, sonst wurden 
die Kinwohner unter den Trümmern begraben liegen. Jetzt sind 
wie mit dem Schrecken davongekommen, nur ein Schweinchen, das 
in der Nahe der eingefallenen Mauer lag, hat sein Leben lassen 
müssen. Die Kinder scheinen darüber ganz untröstlich zu sein; 
sie stehen da im Hegen neben dem Tiere und weinen bittere Tranen. 

Eben kommt mir eine Arme in den Sinn, die ich gestern auf 
dem Damm des gelben Flusses gesehen habe. Ihre Behausung 
bestand aus einigen Fetzen Strohmatte, welche durch Sorghostengel 
zu einem Dache vereinigt waren. Darunter lag sie auf etwas Streu 
gebettet, ein Kochtopf stand draußen; darin machte sie sich das 
Essen. Doch hatte? sie schon seit drei Tagen kein Feuer mehr 
angelegt, weil sie malariakrank daniederlag und niemand da war, 
der ihr einen Dienst erwiesen hätte. Ihr Mund murmelte nur mehr 
leise Worte des Schmerzes; aber in den groben Augen spiegelte 
sich da» ganze Bild einer schmerzdurchwühlten Seele. Nicht nur 
war ihr Heim von den Fluten des Huangho weggespült nebst Hab 
und Out — ihr Liebstes, der einzige Sohn, hatte auch sein Leben 
dabei gelassen, und dieser Schmerz war es. der besonders stark an 
ihrem Herzen nagte. 

Mein Entschluß ist gefaßt. Auch wenn das Wetter sich nicht 
aufklärt, geht es morgen weiter, da übermorgen Sonntag ist. Hier 
in dieser elenden Wohnung ist es unmöglich, die h. Messe zu feiern. 
Auch fühle ich schon das Malariafieber herannahen. Dem nassen 
Zimmerboden entsteigen alle möglichen Dünste;, und die lauwarme 
Temperatur erzeugt Krankheitsstoffe. 

Lan~uo nennen die Chinesen Untiefen auf den Wegen, die 
das Wasser sich gegraben. Man kann dieselben gewöhnlich nicht 
entdecken, da Wege und Felder während der Regenperiode nur 
mehr einem See gleichen. Lanuo heißt, „Wellenhöhle*, kann aber 
auch „ Wolfshöhle u bedeuten. 1 ) Wenn nun der Karren in so eine 

'; In .Slawonien wird eine Pfütze, die mit einer Luftblase leicht berührt 
itst, auch «,Wolf* genannt. 



— 319 — 

Wellenhöhle gerät, schlägt er fast regelmäßig um, und dann bleibt 
einem kaum mehr ein Faden trocken am Leibe und von den 
Habseligkeiten im Wagen. Deshalb haben die Fuhrleute vor den 
Lan-uo im Wasser die nämliche Scheu wie vor den Lan-uo in den 
Bergen: wer hineinstürzt, kann von Glück sprechen, wenn er mit heiler 
Haut herauskommt. Mein Fuhrmann versteht sich recht wohl auf 
die Kunst des Wagenlenkens, aber dennoch gerieten wir einmal in 
eine Wellenhöhle. Von außen und innen in einer übelen Verfassung, 
langten wir endlich in Tätja an. Prompt setzte dann das Fieber 
ein und führte das geplagte Menschenkind zuerst in die Regionen 
des ewigen Eises und dann zum Aequator nach Afrika; drei Dosen 
Chinin brachten es zurück in die gemäßigte Zone und stellten das 
Gleichgewicht wieder her. 



Auf der Reise nach Tjüfu. 

'enn nicht Dürre im Lande ist, dann brechen mit Gewalt 
§ die Wasser ein; wenn das Land aber weder an Dürre 
noch an Überschwemmung leidet, dann wütet sicher die 
f^jjSSgJJj^ Revolution. (Pu han tsiu jen; pu jen tsiu han; pu jen 
pu han, tsiu tuen. Sprüchwörtliche Redeweise.) Der so sprach, war 
ein chinesischer Altvater, dem des Lebens Mühsale schon manche 
Furche auf die Stirne gedrückt und die spärlichen Haare völlig 
gebleicht hatten. Er saß auf einem Flußdamme im Kreise seiner 
Familie und der wenigen Habseligkeiten, die man aus dem zusammen- 
brechenden Hause gerettet hatte. Es waren mit ungestüm die Flu- 
ten des Kaiserkanals hereingebrochen, da die Wälle dem Andränge 
des Wassers keinen genügenden Widerstand zu bieten vermochten. 
Die gelben Fluten wälzten sich durch den Dammbruch in die Felder; 
in wenigen Stunden sah das Auge, soweit es reichte, nichts als 
Wasser; die üppigen Saaten waren vernichtet, nur der Sorgho 
streckte hier und da seinen schwarzen Aehrenbüschel aus dem 
Wasser empor. Wie ich aber auf den Damm gekommen zu 
den Unglücklichen, das soll der freundliche Leser sogleich 
erfahren. 

Pechvogel, wie ich gewöhnlich auf Reisen bin, sollte ich auch 
auf dem diesjährigen „ Sommerausfluge u das Pech haben. Meinen 
Herrn Konfrater, P. T., dem ich den Begleiter zu machen hatte, 
machte ich sogleich auf die fatale Eigenschaft aufmerksam. Er 




H 



— 320 — 

meinte dann, ob ich vielleicht am 13. April geboren sei. Nein doch 
nicht am 13. April, aber am 3. „Na" sagte er, „dann war es um 
zwei Tage zu spät." 

Unser Keiseziel hatte dem Heiligtume des „heiligen Mannes" 
gegolten, des Konfuzius, seinem Grabe nämlich und seinem Tempel 
in der Stadt Tjüfu. Mein Konfrater war weit im Süden Chinas 
tätig, und da ihn einmal das Schicksal nach Schantung geführt, 
mochte er nicht gerne die Gelegenheit versäumen und wollte alles 
„Sehenswerte mitnehmen". Als gründlichen Forscher in den klassi- 
schen Schriften des Konfuzius mußte ihn natürlich auch der klassi- 
sche Boden besonders interessieren. Auch in China gilt es : Je wei- 
ter vom Heiligtum, um so größer das Verlangen danach. Jeder 
studierte Südchincse fühlt sich glücklich, wenn er einmal das Land 
des „heiligen Mannes" betreten darf, während zahllose Chinesen, 
die kaum eine Stunde von Tjüfu entfernt sind, kaum je im Leben 
das Heiligtum des Konfuzius und sein Grab besuchen gehen. 

Als wir dann alles Sehenswerte genug besehen und bewundert 
hatten — der eine mehr, der andere weniger: jeder gemäß seiner 
äußeren oder inneren Disposition — wollte mein Konfrater auch noch 
gerne den Tempel des Mentius aufsuchen, in der Stadt Tschouhien. 
Da die Reise bisheran so glatt verlaufen, meinte er, mein Geburts- 
tag, der 3. April, sei wohl ein Sonntag gewesen. 

Der Weg von Tjü-fu nach Tschou-hien beträgt 50 bis 60 Li. 
Die Tour war miserabel genug; der Wagen ging meistens bis an 
die Achse durch Schlamm und aufgeweichte Erde. Daß er nicht 
stecken blieb, war Ehrensache der vier kräftigen Maulesel, die sich 
um so mehr anstrengten, je näher wir dem Ziele kamen. Am Mittag 
war dasselbe erreicht, und während die Tiere ihr verdientes Futter 
bekamen, besuchten wir die Pagode. Mentius, der „Heilige zweiter 
Kategorie", (ja-scheng) ist als solcher gut erkenntlich. Alles ist in 
weit bescheidenem Verhältnissen gebaut und angeordnet im Vergleich 
zur Pagode des Konfuzius, des „Heiligen sondergleichen". Nur die 
Bäume machen keinen Unterschied zwischen den beiden Heiligen. 
Mir wollte es fast scheinen, als ob die Bäume in dem Mentius-Hain noch 
kräftiger und größer seien, als bei den Tempelanlagen des Konfuzius. 

Die „Herrlichkeiten" waren bald abgeschaut; zu guterletzt auch 
noch ein Wunderbaum, „der Krankheiten heilt, besonders wenn sie 
sich auf das Herz beziehen" (Sin-li-t'öng). Man war freundlich 
genug, uns etwas trockenes Holz von dem Wunderbaume anzubieten, 
um es als Heilmittel mitzunehmen. Wir schlugen die Medizin indes 
bescheiden ab: unser Herz war noch guter Dinge, nur der Magen 



— 321 — 

knurrte; aber auch er sollte bald befriedigt werden. Als wir in 
die Herberge zurückgekehrt waren, trug der Wirt allsogleich Table 
d'höte auf: Knoblauch, Bohnenkäse, Suppe, chines. Eier, und dgl. 
— lauter leckere Sachen für zwei in China ergraute Missionare. 

Nachdem wir dann gespeist hatten, hieß es heimfahren. Eine 
drückende Hitze machte sich fühlbar; daß Regen dahinter steckte, 
war vorauszusehen. Ich wäre deshalb lieber im nächsten Dorfe 
geblieben, wo sich eine geräumige Herberge befand, zumal die 
Sonne zur Rüste ging. Mein Herr Konfrater aber entschied, weiter 
zu reisen. Es wird nicht regnen, sagte er so überzeugend, als sei 
er ein Wetterprophet, und daß man es ihm glauben mußte. Also 
nur weiter! Zunächst hieß es, über einen Fluß setzen. Ein Schiff 
war nicht vorhanden, deshalb mußte er durchwatet werden. Dienende 
Chinesengeister waren bald zur Stelle, welche zunächst die beste 
Fährte ausfindig machten, wo die Karren fahren konnten, ohne im 
Sande zu versinken. Die Sache schien mir doch nicht recht geheuer, 
und ich hätte lieber aussteigen mögen, um durch das Wasser zu 
reiten. Die Chinesen aber baten uns, wir möchten ruhig im Karren 
bleiben, es würde alles gut gehen. Hinein denn ins Wasser! „Fuhr- 
leute, vergeßt ja nicht, gut auf die Tiere zu schlagen, a mahnten 
noch die Führer; „wenn die Karren auch nur einen Augenblick 
anhalten, so versinken sie im Sande. u Also, „holiah hott, holiah 
hott", immer weiter. Schon sind wir in der Mitte des Flusses, da 
sitzt der Deichselesel mit allen Vieren fest im Sande. Alles „holiah 
hott* und alle Prügel bringen ihn nicht mehr heraus ; im Gegenteil 
scheint er aus der Not eine Tugend machen zu wollen und läßt 
sich ruhig im weichen Sande und dem lauen Wasser zum sommer- 
lichen Bade nieder. Die Maultiere haben im allgemeinen alle ihre 
Launen, und was das eine tut, tut das andcie in der Regel mit. 
Als ich mich umsah, erblickte ich auch den Karren meines Kollegen 
im Wasser stecken. Die Chinesen hatten heillose Angst und bemühten 
«ich au* allen Kräften, uns auf das Trockene zu bringen. Dort 
warfen sie sich auf den Boden und baten um Verzeihung, „weil sie 
uns so schlechte Wege geführt hätten". Dann ging man daran, 
Tiere und Karren aus dem Flusse zu holen. Der Vorspann einiger 
Pferde brachte die Gefährte wieder ins Rollen, und auch die Esel, 
durch das Bad gekräftigt, machten Anstrengungen, herauszukommen. 

Unsere Habseligkeiten waren natürlich naß bis auf den letzten 
Faden, und damit auch der obere Korperteil zu dem unteren in 
das passende Verhältnis komme, setzte sofort ein milder Regen ein. 
Das Übersetzen des Flusses hatte natürlich viel Zeit in Anspruch 

K. P i e p e r , „Neue Bündel*. 21 



— 322 — 

genommen; schon fing es an zu dunkeln, und noch hatten wir einen 
Weg von mehr als drei Stunden vor uns. Ich faßte den Entschluß, 
niemals mehr auf Wetterpropheten zu hören; mein Herr Konfrater 
aber hat vielleicht den Vorsatz gemacht, nie mehr das Wetter zu 
prophezeien. Zum Glück fanden wir nach vielem Herumfragen 
noch eine kleine Herberge. Die Tiere mußten draußen im Regen 
stehen, uns aber bot sich Unterschlupf in einer armseligen Hütte. 
Zum Willkommen stieß ich erst gewaltig mit dem Kopf gegen einen 
Balken, denn es war dunkel in dem Loch. „Der Balken gibt nicht 
nach," meinte mein Konfrater; ich möge doch nicht allzu eindringlich 
dagegen rennen. Auch war die Hütte feucht und dumpf und 
geschwängert mit allerhand Dünsten; Schwärme Moskitos aber 
brachten uns ein Abendständchen. Wohl hatte ich ein Netz bei mir, 
um mich zu schützen gegen die frechen Blutsauger, aber das Netz 
war naß und unbrauchbar geworden. Mein Kollege begnügte sich 
mit etwas Thee als Abendbrod; ich bekam einige Eier und Mehl- 
nudeln. Eine interessante Unterhaltung würzte indes das frugale 
Mahl, und wir plauderten bis spät in die Nacht. Das war übrigens 
auch das beste, denn an ein Schlafen war bei den Moskitoschwär- 
men nicht zu denken. Als wir es endlich dann doch versuchten, 
ging der Kampf los. Der Schlaf suchte seine Rechte, den Moskitos 
aber gelüstete nach unserem Blute, und sie behielten die Oberhand. 
Der Schlaf zog sich besiegt zurück. Wir erhoben uns in aller Frühe, 
und mein Herr Kollege donnerte zum Morgengruße mit seinem 
Denkerhaupte gegen den Zimmerbalken. „Der gibt ja nicht nach/ 
belehrte ich ihn ; „lassen Sie doch den armen Balken in Frieden." 
Nach einer halben Stunde saßen wir auf, es war eben hell genug 
geworden, den Weg zu unterscheiden. Gegen 9 Uhr langten wir 
in Tsiniug an; es war ein Sonntag, und wir bereiteten uns sogleich 
auf die li. Messe vor. 

Von Tsining gedachten wir nach Tätja zu fahren; das ist ein 
Weg von nur 15 Li, aber venenum in cauda: das dicke Ende 
kommt nach. Kaum waren wir eingekehrt, da setzte ein gewaltiger 
Regen ein, wie er wohl nur im gewaltigen China fällt. Drei Tage 
und drei Nächte regnete es, und nicht piano, wie sonst die meinten 
Landregen herunterkommen, sondern fortissimo, als habe der Him- 
mel die vorsündflutlichen Schleusen wieder geöffnet. Was so ein 
langer und starker Regen für Folgen hat, ist leicht zu denken. 
Die Straßen wurden zu Flüssen, die Felder aber verwandelten sich 
in Seen. Wessen Haus nicht über seinem Haupte zusammenbrach, 
konnte sich glücklich schätzen; solche Glückliche aber, die keinen 



— 323 — 

Regenschirm im Hause aufzuspannen brauchten, gab es nicht viele. 
Sogar neugebaute Häuser mit Pfannendächern fielen ein, und man- 
cher Arme hat seinen Tod unter den Trümmern gefunden. 

Ruhig hatten wir gewartet; jetzt aber, als der Regen aufhörte, 
hieß es schnell nach Tätja gehen, denn dort warteten unser not- 
wendige Geschäfte. Man sagte, der Weg dorthin sei noch leidlich, 
da die Wasser schnell abgelaufen wären. Vorsichtshalber setzten 
wir uns zu Pferde und versuchten so hindurchzukommen. Noch 
aber hatten wir das Stadttor nicht hinter uns, als uns jedermann 
zurief, wir möchten nur heimkehren, an ein Durchkommen sei nicht 
zu denken. Doch wir wollten uns selber überzeugen und ritten 
immer weiter in die Fluten; aber je weiter wir ritten, um so tiefer 
versanken die Tiere im Wasser. Da wir keinen des Weges kundigen 
Führer hatten, beschlossen wir, wieder umzukehren. Als Führer 
wurde uns dann der Fuhrmann des P. R. gegeben; er sei aus 
dortiger Gegend und wisse ganz genau, wo am Wege ein Brunnen 
oder ein Teich sei, und er versprach, uns sicher ans Ziel zu bringen. 
Mein Herr Konfrater bestieg diesmal einen Karren, während ich 
mich wieder auf meinen Schimmel setzte. Der hohe Karren, von 
einem noch höheren Maulesel gezogen, ging vorauf, während ich 
mit meinem Tiere folgte. Als uns die Leute diesmal wieder sahen, 
meinten sie, es sei ein tollkühnes Unternehmen, durch das Wasser 
zu gehen, es werde sicherlich über unserem Haupte zusammen- 
schlagen. Wer lange in China ist, weiß, daß die Chinesen jegliches 
Ding schlimmer machen als es ist, und daß es ihnen beim Vergrößern 
niemals auf ein Kuhdick ankommt. Wir* gaben deshalb wenig auf 
ihre Warnungen, zumal uns der Fuhrmann das eine über das andere 
Mal mit seinem „Pu-ngä-sche" (nicht gefährlich) tröstete. Als aber 
mein Schimmel den Boden unter den Füßen verlor und der Karren 
des Paters zu schwimmen begann, dachte ich nur immer: Wären 
wir daheim geblieben oder könnten wir doch. umkehren! Das treue 
Tier schwamm vorzüglich bis an einen Dammdurchbruch, wohin 
das Wasser mit Gewalt zog. Dort verlor es die Kraft und den 
Atem und begann unruhig zu werden. Zum Glück gelang es mir 
noch, das Pferd mit einem kräftigen Ruck etwas auf die Seite zu 
bringen, wo ein Weidenbaum seine Zweige aus den Fluten streckte. 
Ich ergriff einen Ast des Baumes und zog mich daran so viel empor, 
daß das Pferd einige Entlastung bekam. Wie angewachsen lehnte 
es sich gegen den Baum, ich aber rief so laut ich nur konnte um 
Hülfe: „Tjiu ming, tjiu ming ! u (Rettet mein Leben!) Freilich 
dauerte es eine Weile, ehe ein Lebensretter erschien, aber er kam 

21* 



— :*24 — 

«loch und brachte mich so weit in Sicherheit, dali ich Buden unter 
den Füllen fühlte. Dann arbeitete ich mich selber durch da« Wasser 
auf einen Damm. Auch das Pferd wurde entsattelt und aus dem 
Wasser geholt. Meinen Konfrater sah ich in der Ferne an dem 
Dache eines Hauses sich festhalten; sein Wagen mitsamt dein Esel 
waren dorthin geschwommen. Ks war die höchste Zeit, auch ihm 
zu Hülfe zu eilen. Den Wagen üherlieii man vorläufig seinem 
Schicksale; der Maulesel aber half sich selbst aus dem Wasser, 
sobald er von den Strängen befreit war. Kaum war der Pater in 
Sicherheit gebracht, da — ein dumpfes Getöse: das Haus, woran 
er sich gerettet hatte, lag in Trümmern zusammen. Es war das 
Haus meines Ketters, und sein Vater, ein hochbejahrter Greis, war 
es, der die Worte sprach, welche ich anfangs erwähnte. 

Wir hatten unsere liebe Not, wieder in die Stadt zurückzu- 
kommen, denn das Wasser stieg mit jeder Minute. Einige kraftige 
Chinesen griffen uns an den Armen und führten uns hindurch. Oft 
ging es bis an den Hals, und bisweilen war die {Strömung derart 
stark, dali wir alle Mühe hatten auf den Beinen zu bleiben. Endlich 
war das Stadttor wieder erreicht. — Gott sei Dank, sagten wir. 
Die Chinesen aber, die uns zuvor gewarnt hatten, waren entzückt 
über unser pudelnasses Aussehen und sagten : Wer nicht hören will, 
muH fühlen (Pu tiny luo </in im, i *che k'n-chuang lien), wörtlich: 
Wer nicht dem Rate der Alten folgt, hat sein Leben lang Bitter- 
keiten zu verkosten. 

Auf einem Wallgraben der Vorstadt in der Nähe einer kleinen 
Pagoden hockte eine Menge Weiber, die laut schrieen und jammer- 
ten und beständig zur Pagode hin ihre Verehrungen machten, d. h. 
mit der Stinte den Boden berührten. Sie Hellten zum Tä-uang, 
dein Gotte der Flüsse, daß er doch das Wasser nicht durch den 
JStadtdamm gehen lassen wolle, weil sonst ihre Häuser vernichtet 
würden. Überall standen rote Kerzen angezündet, und die Weih- 
rauchstcngcl glühten nicht nur, sondern brannten lichterloh. Der 
Damm wurde gerettet und das Wasser ferngehalten. In der Nähe 
der Stelle aber, wo wir in Lebensgefahr geschwebt hatten, sahen 
wir am anderen Tage fünf Leichen am Ufer liegen. Wäre der 
Himmel nicht unser Beschützer gewesen, wie leicht hätten auch 
wir dabei sein können! 



— 325 — 

Des Missionars Festtagswohnung 
und seine Stubengenossen. 

VfB3SS'' n Missionar ist Aposteljünger und sein Meister ist Jesus 
*V»-*^*' Christus. Der hat aber von sich gesagt, daß er nicht einmal 
tx fc^fy habe, wohin er sein Haupt legen könne, während Füchse 
3r5f55(#t ihre Höhlen und Vögel ihre Nester besitzen. Zudem hat 
er gesagt, daß der Jünger nicht mehr haben solle und sein dürfe, 
als sein Meister; also wird es mit der 'Wohnung eines Missionars 
sicher nicht weit her sein. Oft genug ist es denn auch nicht sein Bett, 
worin er ruht, und die Hütte, wo er wohnt, hat ihm ein Katechumen 
oder ein Christ für einige Tage abgetreten. Das ereignet sich gar 
nicht selten im Wanderleben des Missionars, und dann fühlt er auch 
so recht was es heißt, Missionar zu sein. Aber nicht das ganze 
Jahr kann er wandern und ein Nomadenleben führen. Zur Zeit der 
Ernte und Aussaat sind die Christen derart beschäftigt, daß sie sich 
für etwas Höheres durchaus nicht finden lassen, also das Missionieren 
fast unmöglich ist. Für solche Zeiten hat der Missionar meistens 
ein eigenes Heim, ebenso für die Feier der höchsten Feste, und 
dieses Heim liegt womöglich im Zentrum seiner Wirksamkeit; er 
nennt es Residenz, obschon er die meiste Zeit dort nicht residieren 
kann. Heute nun wollte ich den freundlichen Leser zur Wohnung 
meiner Residenz für ein Viertelstündchen einladen, und dann soll 
er mir nachher sagen, wie es ihm darin gefällt. 

Also Platz genommen; die chinesischen Lehnstühle sind zum 
»Sitzen gar nicht so übel; Sofa, Sekt und Bier gibt es nicht, aber 
Tee aus unverfälschter Quelle; und auch mit Wochen- Ausgabe 
der K. V. kann ich dienen, freilich um anderthalb Monat rück- 
wärts datiert, doch paßt dieselbe gar nicht übel zu dem westfä- 
lischen Schinken, der schon ein halbes Jahr alt ist und ganz vor- 
züglich mundet. 

Westfälischer Schinken, das Pfund um einen Dollar in Tsing- 
tau käuflich — solche Verschwendung erlaubt sich ein Missionar? 
Ja, das ist kein Schinken aus Westfalen, sondern nur von einem 
Westfalen gemacht, und die Schweine, welche sie geliefert, sind 
europäischer Abstammung, also weiß beborstet, die Urenkel jener 
zwei, welche seinerzeit der deutsche Gesandte Hr. von Brand dem 
sei. Bischof von Anzer zum Präsent gemacht. Daß sie sich gut 
akklimatisiert haben, zeigt die zahlreiche Nachkommenschaft, und sie 
gedeihen ohne Futterkalk und haben immer mehr Appetit als Futter. 



— 826 — 

Und auch mit Pumpernickel kann icli dienen, einer zweiten 
Westfalenkost, gleichfalls käuflich in Tsingtau ä Dose fein verlötet 
1 Dollar. Vorzüglich! Aber auch dieser Pumpernickel ist selbst 
gemachte Ware. Die Hälfte Weizenmehl und die Hälfte Sorghomehl, 
gut vermengt und richtig behandelt, liefert ein Brot, das im Geschmack 
und Aussehen es mit dem Pumpernickel aufnimmt. Spargel, Erbsen, 
Kartoffeln und Erdbeeren wachsen noch im Garten, und es ist nur 
mehr eine Frage der Zeit, wann dieselben pflück- und eßbar sind. 




Missionsstation Ngö-ya-tsch'ang bei Yentschoufu. 

Wollen Sie, Herr Konfrater, auf wohlbestellter Pfründe es nicht 
einige Jährchen als Missionar versuchen ? Wir könnten deren noch 
so viele gebrauchen. Mangel brauchen Sie nicht zu leiden, und 
Arbeit gibt es genug. — Doch Carissime, Sie sollen heute keine 
Antwort geben. Erst muß ich Sie in das Feld der Wirksamkeit 
führen und an den Werktagstisch des Missionars und seine Alltags- 
wolumng zeigen im Chinesenheim; doch das später mal. 

«Die (üegend muß hier recht gebirgig sein," fragt mein Be- 
sucher; „denn ich höre einen Bach vorbei rauschen." „Nichts als glattes 
Land ist hier; es fehlen sogar die Mnulwurfshügel; in solchem 



— 327 — 

Sande und Löß würde der Schwarzpelz nicht vorankommen. Das 
Rauschen tun einige Pappeln, die ich nahe ans Haus gepflanzt 
habe; sie sind mir Wald und Quelle hier in öder Gegend. u 

„Aber ich höre noch ein anderes Rauschen; es ist wie Meeres- 
brandung aus der Ferne. u „Das Meer ist wohl 100 Stunden von 
hier entfernt; aber auch die Geisterstimmen des dunklen Meeres 
habe ich in mein Zimmer gezaubert. u Zugleich stehe ich auf und 
schiebe einen Vorhang auf die Seite, der an der Wand hängt. 
Dann nehme ich das Licht und leuchte vor ein Fensterglas. „Das 
sind die kleinen Meeresmusikanten, das sind meine lieben Stuben- 
genossen. u Ein großer Schwärm Bienen hat in einer Mauernische 
Wohnung genommen ; nach Außen hat er sein Flugloch ; im Zimmer 
höre ich seine Musik, und die hat den Vorteil, daß sie nicht im 
geringsten bei der Arbeit stört. Zudem liefern die lieben Gäste 
alljährlich 20 bis 40 Pfund Honig und Wachs und spenden den 
Blütenduft des süßen Nektars, wo sie denselben aus den Blumen 
sammeln. Sie selber sind vollends anspruchslos und verlangen 
nichts weiter als das bißchen Wohnung, das sie obendrein noch 
reichlich verzinsen. 

Also ein Stück Heimat en miniature. Es fehlen der Wald 
und sein Rauschen, Blumenduft und die plätschernde Quelle hier 
in der öden Puolyebene. Und doch genießt der Missionar davon; 
freilich mit Hülfe von Homöopathie und Sympathie und in seiner 
Weise. Aber sich bescheiden und beschränken wissen gehört ja 
zu den Kardinaltugenden des Aposteljüngers; und seine Stubenge- 
nossen dienen darin als Beispiel nicht minder wie im fleißigen Schaffen. 

Es fehlen Wiese und Heide und der Blumenteppich in den 
Gärten. Weder Feld noch Anger sind mit einer lebenden Hecke 
umsäumt und kein Lindendach spendet Ambrosiaduft vor der Hütte. 
Recht mager ist es deshalb um den Bienentisch bestellt, und wo 
ihn das zahlreiche Volk nur finden mag, ist mir oft ein Rätsel. 
Freilich behaupten die Chinesen, daß die Biene den Honig nicht 
nur aus den Blumen hole, sondern sie soll sogar zum Meere pilgern, 
um dort ihren Salzbedarf zu decken; sie soll die vom Schweiße 
bedeckte Stirne des Landmannes aufsuchen und dort „ Menschensaft u 
aufsaugen; sie soll selbst auf dem Düngerhaufen noch Aroma finden, 
um ihrem Produkt Wohlgeschmack und Haltbarkeit zu verleihen. 
Das ist nun wohl zum größten Teil Phantasie, obschon jeder Chinese 
daran glaubt, wie er überhaupt vom Immenreich mancherlei Wunder- 
bares zu erzählen weiß. Die Biene wohnt nur dort, sagt er, wo 
Tugend und gute Sitte wohnt. Sie ist eine „ Himmelsgabe ", und 



— 328 — 

wer solcher nicht würdig ist, sucht vergeblich, sie zu halten. Um 
keinen Preis wird deshalb ein Chinese einen Bienenstock verkaufen, 
denn dadurch würde er sich auch anderer Göttergaben verlustig 
machen und das Glück würde ihn fliehen. Nach vielen Jahren erst 
gelang es mir durch Vermittlung eines befreundeten Heiden, einen 
Bienenstock zu ergattern. Derselbe hat sich nach zwei bis drei Jahren 
recht vermehrt, so daß die Nachkommen bereits ein Dutzend aus- 
machen. Als vor kurzem unser Bezirksmandarin bei mir zum Besuche 
war und ich ihn in das Bienenreich schauen ließ, stand er eine 
Weile sinnend da. Dann blickte er mich treuherzig an und sagte : 
„Ja, mein Freund, jetzt bin ich noch fester überzeugt, daß du ein 
guter Mann bist." 

Das Volk behauptet sogar, daß ein Imker, der hundert Bienen- 
körbe besitzt, vom Kaiser vollständig Steuererlaß bekomme, zur 
Belohnung für Tugend und gute Sitte. Ich bezweifle aber sehr, 
ob in ganz China jemand ist, der so viele Bienenstöcke sein eigen 
nennen kann, da es an der notwendigen Weide fehlt. Bienen zu 
stehlen, wird als ein besonders schweres Verbrechen betrachtet und 
verhältnismäßig schwer geahndet. Der Grund dafür ist, weil die 
Bienen einen König (uang) haben; wer also einen Bienenkorb stiehlt 
oder ruiniert, begeht „Königsmord", und richtet ein Reich zu Grunde 
und das ist soviel als Staatsverbrechen, wenn auch nur im Kleinen. 
„Klein ist die Biene", sagt das Sprüchwort, „aber der Weg zum 
Throne steht ihr offen. Leicht ist das Wagengewicht (decimalsystera), 
und doch reguliert es 1000 Pfd." Der Chinese tötet deshalb auch 
niemals die Bienen, wenn er ihnen den Honig nimmt; er bittet sie, 
etwas von ihrem Überfluß abzutreten. „Ihr habt ein Haus Toll 
Süßigkeiten, während wir nur La-tse (spanischen Pfeffer) essen und 
schwarzes Nestbrot." Und während er das sagt, macht er Kompli- 
mente und verbrennt Weihrauch. Durch den Rauch ziehen sich 
die Bienen natürlich in einer Ecke zusammen, was der Iraker als 
ein Zeichen betrachtet, daß sie gewillt sind, Süßigkeit zu überlassen. 
Er schneidet dann die vollen Waben in eine untergehaltene Schüssel 
ab ; das kann um so leichter geschehen, da die chinesische Bienen- 
wohnimg einen sehr beträchtlichen Umfang hat. Dieselbe ist in der 
Regel von Luftziegeln erbaut und hat ein bis anderthalb Meter im 
Geviert. Von Mobilbauten und dergleichen haben die Chinesen 
natürlich keine Ahnung. Es wird darauf geachtet, daß die Bienen 
sehr wonig oder gar nicht schwärmen, deshalb werden die neuen 
Königinnen in ihren Zellen, ehe sie ausgeschlüpft sind, während der 
Nacht bei Kerzenlicht mit einer langen Nadel getötet. 



— 329 — 

Das Honigschneiden geschieht regelmäßig zu Beginn des Früh- 
lings und es wird nicht nur der „Überfluß" genommen, sondern 
so viel, als man eben haben kann. Ein guter Stock liefert 40 bis 
(j0 Pfund Honig. Derselbe wird nicht aus den Waben gepreßt, 
sondern eingekocht und zwar mit Wachs und toten Bienen zusam- 
men. Gerade dadurch soll -er ein besonders gutes Aroma bekom- 
men. Der Honig wird verhältnismäßig teuer bezahlt und dient 
hauptsächlich für medizinische Zwecke, ebenso das Wachs und die 
toten Bienen. Mit Vorliebe wendet man Honig bei pockenkranken 
Kindern an. Ein europäischer Bienenfreund, der kürzlich zu Besuch 
hier war, fand meinen „Zimmerhonig" „ganz vorzüglich" und das 
Aroma „wunderbar". Derselbe war nach chinesischer Methode 
behandelt worden, die also auch in diesem Falle wiederum nicht 
so ganz dumm sein muß. 

Ist der Honig geschnitten, dann beginnt für die Biene die Arbeit. 
Ihr erstes Futter sucht sie auf frisch gefällten und geschälten Pappeln 
und Ulmenstämmen. Dann kommen die Kätzchen der Pappeln an die 
Reihe und hierauf die Ulmen. Beide haben nur eine ganz kurze 
Blütezeit und sind nicht mehr als ein Notbehelf. Ein ausgiebigeres 
Feld bilden die vielen Weidekätzchen, aber auch sie blühen nur 
wenige Tage. Hierauf erscheinen die Fruchtbäurae in Blüten : 
Aprikosen, Pfirsiche, Aepfel und Birnbäume. Anfangs April setzen 
dann die Blüten von Sämereien ein, Kohl, Rüben und dgl. Mitte 
April locken die Maulbeerkätzchen das Bienenvolk herbei, bis dann 
zu Mitte Mai die Zysiphus ihren Nektar spenden. Und von dort 
holen sie ihren Hauptvorrat fürs ganze Jahr. Zudem dauert die 
Blütezeit ziemlich lange und sind in hiesiger Gegend recht viele 
Zysiphus angepflanzt. Im übrigen aber muß sich die chinesische 
Biene bescheiden. Hat sie im Herbste nur wenig eingesammelt, sucht 
man ihr zu helfen. Zucker zu füttern ist natürlich zu kostbar, 
sie muß mit Hiersenbrei vorlieb nehmen, vermengt mit etwas Brei 
von Gottesbirnen Kakifeigen oder Zysiphus. Wenn es dann anfängt, 
kalt zu werden, werden die Fluchlöcher bis auf ein kleines 
verschmiert. 1 ) 

Herrscher im chinesischen Bienenstaate ist, wie angedeutet, 
nicht eine Königin, sondern ein König (uang). Derselbe hat keinen 
Stachel, sondern die Tugend ist sein Szepter. Dreimal im Tage 
machen ihm alle Untertanen ihre Aufwartung. Die Fleißigen erhalten 

J ; Das Folgende ist hauptsächlich Bücherweisheit. Da unter den Lesern 
auch wahrscheinlich Bienenfreunde sind, mag ich ihnen dieselbe nicht vorent- 
halten. Ist auch nichts Belehrendes darin, so doch genug Kurioses. 



— MM) — 

Belobung und Relohmmg. die Faulen werden getadelt. Verstoße 
der rntergrhenen wiM-ilfii -trengi* In »«•traft. Dazu gehört auch, wenn 
die Ricne jemanden ge^tm-hen Int. Der Missetäter wird al Isogleich 
vnr des König*» Tribunal ^«'^rhli*j»|»t und da-* I " rt i • i I lautot auf Tötung 

/ l'atf JtHn fsrt. 

Im Bienenrejche heiT«eht ausgeprägter Sozialismus. Es wird 
gemeiner huftlieh gearbeitet, ge^peiM und gefastet. Jedem Staats- 
bürger i-r eine bestimmte Arlit*it zugewiesen, die er nirht wechseln 
darf. Man kennt Materialsammlcr (mifung) und Honigbereiter (siang- 
fung, unsere Arbeitsbienen und Drohnen). Die Honigbereiter stellen 
in drei Tagen au«* dem Material den Honig her, verladen aber nie 
die königliche Burg. Zu l>egimi lies Winters sterben sie, sollten 
sie aber am Lehen bleiben, würde der Honigvorrat nicht reichen. 
Kin Sprichtwort sagt: l 'herlebt die <ian hing den Winter, sind im 
Frühjahr die Speicher leer (Zun Inm hihu. 

Die Arbeitsbiene tragt das Material in den Hosentaschen (tscha 
k'u) herbei : nur die Königsgaben, welche aus den besten Blüten ge- 
sammelt weiden, trägt >ie auf dem Kücken (aus Anstand!) Bao puo tse. 

Will der König>sohn ein neuen Kejrli gründen, nimmt er eine 
Anzahl Volk mit hinau*. Hat die Hirne dann einmal das Flugloch 
verlassen, wird -*ie al- abtrünnig betrachtet und es ist ihr nicht mehr 
erlaubt zurückzukehren. Krheht sich der Schwann hoch in die Lüfte, 
wird er sich nahebei niederlassen; fliegt er nahe am Boden, nimmt 
er einen weiten Weg. Trifft das in den Krieg ziehende Herr einen 
Bienenschwarm, lauern die Feinde im Hinterhalt. Im neuen Heim 
wird zunächst das Kesidenzsrhloß gebaut und ein Thron für den 
jungen König. ( ('-j'mn<i~t*rhtuuj.) 

Auch das (refühl für Anciennitat soll bei den chinesischen 
Bienen stark ausgeprägt sein. Kin neuer Stock darf mit den alten 
nie in einer Reihe stehen, sonst würden sich die alten über ihn 
her machen und ihn töten. Sein IMatz wird meistens einen Meter 
nach hinten gerückt, weil er eine Generation jünger ist. (Huo-scku). 

Prosit Freund, sonst wird der Tee kalt; < 'hampagnerflaschen- 
stöpsel gibt es keine abzuknallen; die würden meine Stubengenossen 
auch zu stark erschrecken. Hoffentlich gefällt dir des Missionars 
Festtagswohnung auch ohne diese. 

Als Jlauptfeind der chinesischen Biene ist vor allem der Toten- 
kopf (Nachtfalter) zu nennen. Um ihm den Zugang in .die Behau- 
sung der Bienen zu wehren, sind die Fluglöcher möglichst klein 
gehalten. In ein Brettchen oder einen dünnen Ziegelstein werden 
20 30 runde Lorher gebohrt, grade groß genug, um den Bienen 



— 331 — 

als Ein- und Ausgang zu dienen; damit wird das Fluchloch verschlos- 
sen. Hier und da zwängt sich dennoch ein kleiner Falter durch; 
wenn er sich voll Honig gesogen, findet er beim Rückgang die 
Öffnung zu klein. Ist der Bestand kräftig, machen sich die Bienen 
zu Hunderten über den Eindringling her, und solchen Anstürmen 
ist er nicht gewachsen. Die Sieger zerbeißen ihn vollständig und 
saugen den gestohlenen Honig wieder auf. Gelingt es einem Falter 
aber, seine Eier im Bienenstocke abzulegen, ist der Bestand so 
gut wie verloren. Als zweiter Feind ist die Eidechse zu nennen, 
welche versteckt auf ihre Beute lauert. Will sich ein Bienlein 
abseits ein wenig ausruhen oder sonnen, macht sie ihm unversehens 
den Garaus. Auch der Scorpion dringt gerne in die Bienenwohnung, 
aber auch über ihn machen sich die Völker her, wenn sie zahlreich 
genug sind und viel Lebensmut besitzen. Mit Vorliebe bringt eine 
große Spinnenart in den Flugbereich der Bienen ihre Netze an; 
hat sich eine darin verwickelt, hilft alles zerren nnd zetern nichts 
mehr; bald ist sie eingesponnen und ausgesaugt. Hornissen und 
Wespen gibt es hier in Fülle; aber ich habe niemals bemer- 
ken können, daß sie als Räuber bei den Bienen vorzusprechen 
versucht hätten. 

Eigentümlicher Weise schwärmt die chinesische Biene nur für 
ganz kurze Zeit, höchstens während der Dauer eines Monats ; es ist 
gewöhnlich die Zeit um Pfingsten herum, und Mitte Mai bis Mitte 
Juni. Deshalb sammelt auch ein junger Stock, wenn er einiger- 
maßen zahlreich ist, Vorrat genug für den Winter. 

Ich weiß nicht, ob überall zu Lande die Bienen ein so gutes 
Gedächtnis haben, wie die hiesigen. Während des Sommers hatte 
ich einen Korb in eine Fersternische gestellt, weil dort frische Luft 
und freier Ausflug war. Mitte October, da das Wetter kalt geworden 
und die Bienen schon längst ihre Arbeit eingestellt hatten, wurde 
ihre Behausung an einen gegen den kalten Norden geschützten 
Ort getragen. Am 4. Januar nun, da es die Sonne mal extra gut 
meinte, lockte sie auch vieles Immenvolk hinaus und ich sah, wie 
ganze Scharen noch ihre alte Stätte aufsuchten und lange dort 
herumschwärmten. 




— 382 — 

Bischofsweihe in Jentschoufu. 

(30. Okt. 1904.) 

Ijentschoufu ist die Hauptstadt der Mission von Süd-Schantung. 
-wjJ. Noch vor zehn Jahren waren die Tore dieser Stadt dem 
3 K\P Christentum verschlossen, und als der verstorbene Bischof 
at'&t&fc von Anzer es dennoch versuchte, hineinzudringen, hätte er 
seinen Wagemut fast mit dem Leben bezahlen müssen. Doch was 
man damals für unmöglich hielt, ist nach wenigen Jahren zur Tat- 
sache geworden. Die stolze Confuziusfeste hat nicht nur der christ- 
lichen Religion ihre Tore geöffnet, sie ist sogar zum Mittelpunkte 
und Hauptresidenzsitz der hiesigen Mission geworden. Das war es 
ja auch, was Msgr. von Anzer in weiser Voraussicht so lange erstrebt, 
warum er so viele Jahre im heißen Ringen gestritten und gelitten 
hat. Wie freute er sich, als dort das erste Kapellchen erbaut 
wurde, in dem sich allmählich andächtige Anbeter versammelten. 
Das Kapellchen ist längst verschwunden, und an seiner Stelle 
erhebt sich jetzt eine stattliche Kirche, die Kathedrale der Mission 
von Süd-Schantung. 

Unter dem Chore der Kirche ist eine Krypta erbaut, in welcher 
sich sechs Mauernischen befinden ; selbige sind bestimmt die irdischen 
Reste der verstorbenen Bischöfe aufzunehmen. Das hohe Ideal des 
seligen Bischofs war es gewesen, sein Leben lang für die Bekehrung 
des Chinesenvolkes zu arbeiten; nach dem Tode aber sollte seine 
sterbliche Hülle dort in der Kathedralen-Krypta ihre stille Ruhe 
finden. Der Lebensabend für den Kirchenfürsten ist viel früher her- 
eingebrochen, als er selber auch nur geahnt hatte. Für sein Lebens- 
ideal hat er gearbeitet bis zur letzten Stunde ; die ewige Ruhe aber 
sollte der Tote im Schatten von St. Peter finden in der Hauptstadt 
der Christenheit. 

Nur wenige Male war es dem verstorbenen Bischöfe vergönnt 
gewesen, in der eben fertig gebauten Kathedrale ein Pontifikalamt 
zu halten. Heute aber zogen zwei Bischöfe ein, in ihrer Mitte den 
neuerwählten Apostolischen Vikar P. Henninghaus, bestimmt der 
verwaisten Herde fortan Hirte zu sein. Heute sollte die Konse- 
kration stattfinden, und zu diesem Zwecke war das Gotteshaus und 
die Umgebung reichlich geschmückt. Als Konsekratoren waren 
zwei Bischöfe erschienen, Msgr. Chang (Xordost-Schantung, Residenz 
Jente) und Msgr. Giesen (Nord-Schantung, Residenz Tsinanfu). 
Der dritte Bischof, Msgr. Maquet, war leider an seinem Kommen 
verhindert worden. 



— 333 — 

Zur festgesetzten Stunde begaben «ich die Würdenträger, be- 
gleitet von ungefähr 40 Priestern in feierlicher Prozession zur Kirche. 
Das weite Gotteshaus war derart mit Andächtigen überfüllt, daß an 
ein Durchkommen vom Hauptportal aus nicht zu denken war, und 
der kurze Weg durch die Sakristei genommen werden mußte. Auf 
dem Chore war eine ganze Reihe chinesischer Mandarine in ihrem 
Festornate versammelt. Ferner waren anwesend der Vertretender 
deutschen Regierung Herr Konsul Dr. Betz aus Tsinanfu und 
Hauptmann Mauve als Vertreter des Herrn Gouverneur Truppel 
in Tsingtau, der am persönlichen Erscheinen verhindert war. Außer- 
dem waren noch einige andere Herren der Zivilgemeinde von Tsing- 
tau zur Festfeier erschienen. Vizekönig Tschoufu in Tsinanfu hatte 
sich durch den Taot'ai Tschang von Tsining vertreten lassen. 

Sobald der Zug in die Kirche trat, erklang ein mehrstimmiges 
Ecce sacerdos von der Orgelbühne, kräftig und voll gesungen, aber 
schwach begleitet von einem kleinen Harmonium, weil die Orgel 
noch fehlt. Dann begann die Konsekration, welche drei Stunden 
in Anspruch nahm. Als der Neugeweihte im Bischöflichen Ornate 
mit Stab und Mitra durch die Menge schritt, überallhin den Segen 
spendend, füllte sich manches Auge mit Tränen. Mit weithin schal- 
lender Stimme sang er ad multos annos! Was er sich da selber 
gewünscht, ist auch der Herzenswunsch aller gewesen, die an der 
schönen Feier teilgenommen. Möge es dem neuen Bischöfe vergönnt 
sein, viele Jahre zum Segen der ihm anvertrauten Herde zu arbeiten 
und zu wirken. 

An der Festtafel waren gegen siebzig Gäste vereinigt. Die 
erste Rede hielt der bisherige Administrator von Südschantung, dei 
hochw" Provikar Freinademetz, und zwar in lateinischer Sprache. 
Sie galt hauptsächlich dem Neugeweihten, und auf ihn wurde auch 
der erste Trinkspruch ausgebracht. Bald darauf erhob sich der 
Bischof selber. In längerer Ansprache redete er aus bewegtem 
Herzen, und was er sagte, ging zu Herzen. Für alle hatte er Worte 
des Dankes und der Liebe, zumal für den hochw. Hrn. Konsekrator 
Msgr. Chang und dessen Assistenten, die Vertreter der deutschen 
Regierung und des Gouvernements und die versammelten Missionare. 
Schließlich wandte er sich in lateinischer Sprache auch noch an 
die chinesischen Priester und dann in chinesischer Sprache an die 
Mandarine. Ein Trinkspruch auf den Heiligen Vater, dessen Bild 
den Festsaal schmückte, bildete den Schluß der herrlichen An- 
sprache. Konsul Dr. Betz brachte ein Hoch aus auf Se. Majestät 
den Kaiser, nachdem er in markigen Worten die Versicherung 



— 334 — 

gegeben hatte, er werde sein Möglichstes und Bestes tun, die In- 
teressen der Mission überall zu wahren. Dann folgte ein Hoch auf 
den Kaiser von China und auf den Baumeister der Kathedale, P. 
Erleinann. Letzeres galt umsomehr, als es aus dem Munde eines 
Baurates kam. 

So sehr die Mission von Südschantung Grund hat, den Tod 
ihres ersten Bischofs zu bedauern, ebenso sehr ist sie heuto sich 
zu freuen berechtigt über den Ersatz, den ihr die göttliche Vorsehung 
geschenkt hat. Msgr. Henninghaus ist ein Mann, den ganz außer- 
gewöhnliche Gaben des Geistes und Herzens schmücken. Es ist, 
als ob die Natur, die ihn nach der Körperlänge etwas kurz bemessen, 
umso reichlicher die Güter des Geistes habe auf ihn ausschütten 
wollen. Ein Wort des „unscheinbaren" hl. Paulus (II. Cor. Cap. 10) 
hat sich der neue Bischof als Wahlspruch erkoren: Scio cui credidi: 
Ich weiß, wem icli mich anvertraut. So dürfen auch getrost die 
Missionare sprechen, die dem Erwählten ihre Stimme gegeben. Sie 
haben sich dem neuen Bischöfe anvertraut und sie werden nicht 
getäuscht werden: er wird ihnen Vater und Hirtc sein. 



»+X&Q&XX* 




Der „kostbare Turm" in Yenfu. 

der Mission von Jschui über 
so sieht man schon aus weiter 
Hauptstadt von Südschantung 
„ kostbaren Turm" pao t'a genannt. 
Ein Reisender aus christlichen Ländern, der ihn das erste Mal sieht, 
ist leicht versucht, denselben für einen Kirchturm zu halten. Wollte 
er aber einen Kirchenbesuch dorthin machen, so würde er »ich 
bald enttäuscht sehn. Er würde weder Kirche noch Pfarrhaus finden 
noch sonst ein ordentliches Gebäude in der Nähe. Einsam und 
verlassen liegt der Turin in Mitte der Felder die im Sommer mei- 
stens mit dem berühmten Yenfuer Tabak bebaut sind. Einstmals 
sollen dort allerdings auch Häuser gestanden haben ; jetzt aber hat 
sich das geschäftliche Leben schon seit Jahrhunderten mehr zu dem 
nordwestlichen Stadtteile verzogen. Auch der Turm selber macht 
in der Nähe betrachtet nicht den Eindruck, den er in der Ferne 
erweckt. Bemühen wir uns die ausgehöhlte Treppe zum ersten 
Stockwerk hinauf, so können wir um den massiven Kern des In- 
nern eine Runde machen, und Fenster und Nischen gewähren ein 



— 335 — 




Der „kostbare Turm" in Yenfu. 



— 336 — 

Ausblick in die weite Ferne. In dieser Weise ist der ganze Turin 
gebaut bis zur obersten Spitze, wo ein Rundgang nach Außen 
geschaffen ist, durch eine steinerne Ballustrade geschützt. Wer 
nicht schwindelfrei ist macht den Gang lieber nicht, denn die Ballu- 
strade gewährt Platz genug zum durchpurzeln und an einer Stelle 
ist sie vollends zerfallen. Ein Blitz soll dort hineingeschlagen haben, 
zur Strafe für die Untat eines Verrückten, der eines frühen Mor- 
gends den Turm bestiegen und sämtliche steinerne Buddhafiguren 
durch die Fenster in die Tiefe schleuderte. Nur noch ein einziges 
ist „mit dem Leben davon gekommen, u alle andern haben beim 
Fallen drunten ihren Kopf verloren, mehrere auch die Beine. Jedem 
Fenster gegenüber ist eine Nische in der Wand gemauert und in 
jeder Nische genoß ein Buddha behäbige Ruhe seit vielen hundert 
Jahren. Der arme Verrückte meinte, sie hätten sich da längst 
müde gesessen und ein Sprung nach Außen könnte nur eine ange- 
nehme Abwechslung für sie bilden. 

Von dem Rundgang können wir nicht mehr weiter hinauf. 
Wohl ist da noch eine halszerbrecherische Leiter angelegt, wer sich 
aber hinaufwagen wollte, müßte mehr auf sein Klettern vertrauen 
als auf die Leiter. In den Mauerritzen haben Gras und Kräuter 
ihre Wurzel geschlagen und selbst auf höchster Spitze wuchert 
nocli Strauchwerk in luftiger Höhe. Der ganze Bau besteht bis 
zur Ballustrade aus sieben Abteilungen, welche sich nach oben hin 
verjüngend, durch Treppen mit einander verbunden sind. Diese 
Treppen sind aber nicht wendelartig angelegt, sondern führen 
durch den Kern des innern Mauerwerkes in gerader Richtung 
empor. 

Fragen wir nach dem Zwecke des Bauwerkes, so weiß uns 
Niemand so recht darauf zu antworten. Der eine sagt, der Turm soll 
eine Zierde der Stadt sein; ein anderer meint, er solle die Stadt 
beschützen, denn von seiner Höhe könne man die Feinde in weiter 
Ferne erspähen und totschießen. Ein dritter ist der Ansicht, der 
Turm sei zu Ehren „der zehntausend Buddha erbaut und als Beweis 
zeigt er uns die zerbrochenen Götzenfiguren, die einstens darin 
ihre Wohnung hatten. Jetzt bildet das Bauwerk eine Zuflucht- 
stätte für Bettler die im heißen Sommer dort Kühlung suchen 
und darin schlafen. Tm Winter gewährt er Elstern und Krähen 
ein Obdach. 

Eine Steinplatte im Innern angebracht besagt uns, daß der 
Turm zur Zeit der Miny Dignastie unter dem Kaiser lliny-liuny erbaut 
sei. Seit der Zeit hat er des öfteren Reparaturen erfahren, die letzte 



— 337 — 

. unter dem Kaiser Khanhi. Auch jetzt wäre er wohl wieder repara- 
turbedürftig, aber weder die kaiserliche Kasse noch die Privatscha- 
tulle einer frommen Seele wird die notwendigen Ausgaben dafür 
bestreiten wollen. 

Ahnliche Türme wie der pao t'a in Yenfu gibt es viele im 
Reiche der Mitte. Die meisten stammen aus der Zeit der Ming 
Dynastie, und man erbaute sie sowohl in den Hauptstädten als auch 
in den Kleinstädten. Unter der jetzigen Dynastie der Tsing kam 
der Pagodenstil 1 ) in Blüte, und in Städten treten an Stelle der Türme 
die Pagoden der Schutzgeister (tsch'öng-haang-miao). Die meisten 
der noch jetzt verbandenen Türme sind während des Jahres geschlos- 
sen; nur nach dem 15. im ersten Monat werden sie für einige 
Tage geöffnet. Viele Andächtige steigen dann hinauf und verbren- 
nen Silber- und Goldpapier für die Seelen der Verstorbenen, damit 
es ihnen im Jenseits in barer Münze ausbezahlt werde. 

In Kikehou ist ein Turm, an den sich die Heldengeschichto 
einer ehrsamen Jungfrau knüpft. Die Mutter dieser Jungfrau war 
erkrankt und hatte ein großes Verlangen, eine Suppe von Men- 
schenfleisch zu genießen; diese, meinte sie, würde ihre Krankheit 
heilen-. Alsobald die Tochter das Verlangen der Mutter kannte, 
schnitt sie sich ein Stück Fleisch vom Beine und kochte daraus 
eine Suppe für die kranke Mutter. Als diese von der Suppe ge- 
nossen, ward sie wieder gesund. Nach einigen Jahren stellte sich 
indes die Krankheit von neuem ein, und auch von neuem erwachte 
das unnatürliche Verlangen der Mutter. Auch diesmal entschloß 
sich die heldenmütige Tochter ein Stück von ihrem Fleisch zu 
opfern, aber die ersehnte Wirkung blieb aus. Die Mutter starb. 
Der Tochter ging der Tod ihrer Mutter derart zu Herzen, daß sie 
unter dem Vorwande ihrer Mutter Opfer zu bringen den Turm 
bestieg, und sich dann von der Höhe desselben herunterstürzte. 
Tot hob man sie auf aber in sitzender Stellung und mit lächelndem 
Gesichte. Das war Grund genug, sie „heilig" zu sprechen und ihre 
heroische Tat dem Kaiser zu unterbreiten, der sie alsogleich unter 
die Götter versetzte. Der glückliche Vater ließ ihr in der Nähe 
des Turmes eine Pagode erbauen und ihr Bild darin aufstellen. 
Dort verehrt man sie unter dem Namen der „liebenden Tochter" 
(chio-nü), und ein Bonze ist bestellt ihr von Zeit zu Zeit Weihrauch 
zu brennen und Gebete zu singen. 



*) Turm chines. = ta, Pagode — miao. 

R. Pieper, .Neue Bündel*. 92 




— 338 — 

Des Teufels letzter Versuch. 

jpäf abends war's als noch an die Missionspforte geklopft 
irde. Daß es keine Räuber waren die klopften, horte 
• m an der wimmernden Stimme, die um Einlaß bat. Als 
sich die Pforte öffnete, trat ein Mann herein, in elende 
Lumpen gehüllt, mühsam nach Atem ringend, am ganzen Leibe 
zitternd. Er war dermaßen erschöpft, daß er kaum ein verständliches 
Wort hervorbringen konnte. Was er wollte war übrigens leicht zu 
erraten; er bat um Aufnahme ins Greisenasyl, um Obdach, wenig- 
stens für diese Nacht. Das wurde ihm dann auch gewährt Und 
als er am andern Morgen sein Lebenselend erzählte, und die Tranen 
reichlich flössen über seine durchfurchten Wangen, und er so flehent- 
lich bat, ihn doch für die paar Lebenstage ins Greisenheim aufzu- 
nehmen, damit er seine Seele rette uad nach dem Tode glücklich 
werde, konnte man ihm auch diese Bitte nicht mehr abschlagen. 
Er wurde der „ Altväter u Zahl zugezählt und diese freuten sich, 
daß sie einen neuen Kameraden bekommen. 

Der Greis war aus Fen-chien und sein Name lautet Tschao4u-ing. 
Achtzig „ Frühlinge u hatte er hinter sich; für ihn aber waren es 
meistens nur „Winter" gewesen, denn von Lebensglück hatte er nie 
viel gekostet. Von Kindesbeinen an mußte er in harter Arbeit sein 
Brot verdienen; Eltern, Geschwister oder Verwandte hatte er nie 
gekannt, und kein Freund hatte sich ihm je zugesellt. Ins Greisen- 
asyl aufgenommen, war sein Betragen stets musterhaft, und mit 
vielem Eifer erlernte er die christlichen Glaubenswahrheiten. Kaum 
aber konnte er das Kreuz machen, da war es als ob der Teufel 
in ihn gefahren sei. Weder gute Worte noch Drohungen vermoch- 
ten ihn in die Kirche zu bringen. Und wenn er das eine oder 
andere Mal fast gezwungen hineingegangen war, hielt er es kaum 
einen Augenblick darin aus. Während die andern Greise vor dem 
Schlafengehen ihr Abendgebet verrichteten, hielt er sich die Ohren 
zu und gebärdete sich wie besessen. Nachdem er es einige Zeit so 
getrieben, äußerte er den Wunsch, wieder heimzugehn, er könne 
seine Seele doch nicht retten, seine Sünden seien zu viel und zu 
groß. Wir sprachen ihm Mut zu und versicherten ihn, der Teufel 
wollte ihn hintergehn und sei neidisch, daß er noch in seinen alten 
Tagen den schönen Himmel erobere. Er möge nur ruhig aushalten, 
und sich auf die Taufe vorbereiten dann werde es sicher besser. 
Das tat er denn auch; sobald sich aber die Wutanfälle einstellten, 
wollte er mit Gewalt hinauslaufen. In einiger Zeit vorstand er die 



— 339 — 

notwendigen Glaubenswahrheiten, und da der Arme so flehentlich 
bat, man möchte ihn doch aus den Klauen des Teufels befreien, 
zögerten wir nicht mehr länger, ihm die hl. Taufe zu spenden. Er 
empfing dieselbe mit rührender Andacht, und — friedliche Ruhe 
kehrte in seine Seele ein. Fortan sah man ihn nur mehr beten 
und in Gott vereint, und sein liebster Aufenthalt war die Kirche. 
Und als er sich nicht mehr von seinem Lager erheben konnte, bat 
er immer, man möge ihm vom lieben Gott erzählen ; wenn er aber 
allein war, murmelten seine Lippen stille Gebete. „ Erbarmen mein 
Gott! Liebe Gottesmutter schütze mich* wiederholte er fast be- 
ständig. Ungefähr vierzehn Tage nach seiner Taufe nahm ihn der 
liebe Gott zu Sich; der Teufel aber hat es nach der Taufe nicht 
mehr versucht, die arme Seele zu verderben. 



Auffallende Bekehrung zweier Heiden, 

funiculis Adce traham eos: „In den Stricken Adams will 
ich sie an ' mich ziehen/ Das ist ein altes Wort der hl. 
Schrift und es hat seine Wahrheit überall auf der ganzen 
Welt. Die Menschenkinder wollen nun einmal gezogen sein, 
und da höhere Beweggründe meistens nicht genug Anziehungskraft 
für sie haben, muß der liebe Gott allerhand Lockmittel gebrauchen, 
um das störrische Menschengeschlecht dennoch an Sich zu fesseln 
und für den Himmel zu gewinnen. Wie es wenige Christen gibt, 
die aus uneigennütziger Liebe dem lieben Gott dienen, und Ihm auch 
dann dienen würden, wenn kein Himmel sie lockte und keine Hölle 
sie abschreckte; ebenso gibt es auch wenig Heiden, die nur deshalb 
Christ werden wollen, um ihrem Schöpfer zu dienen und die Seele 
zu retten. Und die wenigen, die es gibt, sind eben von Gott er- 
wählte Seelen, das Groß aber „läßt sich ziehen in den Stricken 
Adains," die für den einen dieses, für den andern jenes bedeuten. 
Vor kurzem betrug ich einen im Dienste des Herrn ergrauten 
Missionar, wie viele solcher auserwählten Seelen ihm in seiner lang- 
jährigen Praxis eigentlich schon begegnet seien. „Nicht viele", ant- 
wortete er, „aber doch immerhin einige. u Und dann erzählte er mir 
folgende Beispiele aus seinem eigenen Leben. 

Im Bezirke Hien-hien lebte ein Heide Namens Sung-sü-ping. 
Derselbe war mit einem Mandarin im südlichen China gut befreundet, 
den er nicht selten aufsuchte und dann immer einige Zeit bei ihm 




— 340 — 

verblieb. Eines Tages nun, da er eben vom Besucho heimkehrte 
und über den Jany tue kiany setzte, erhob sich plötzlich, als das 
Schiff in Mitte des Stromes war, ein gewaltiger Tä-fung. Der Wind 
wirbelte das Schiff in die Höhe und legte es dann auf eine Seite. 
Alle Leute, die sich auf demselben befanden, wurden ins Wasser 
geschleudert. So auch unser Sungsüping. Wie er da mit den Wellen 
kämpfte, schrie er: „Du wahrer Geist von Himmel und Erde errette 
mich!" Dann sah er auf dem Wasser einen alten Mann mit weißen 
herabhängenden Haaren und langem Barte, der ihm ein Scheffelinali 
(ton) zuschob und dann plötzlich wieder verschwand. Daran klammerte 
sich der Schiffbrüchige fest und schwamm lange Zeit in dem Strome 
umher. Von seinen Gefährten bemerkte er keine Spur mehr, alle 
waren in dem Wasser ertrunken. Als ein Schiff in seiner Nähe vor- 
überfuhr, rief er um Hülfe und schrie: „Ein armer Schiffbrüchiger, 
rettet sein Leben \ u Man zog ihn dann aus dem Wasser und nahm 
ihn auf das Schiff. 

Als Sungsüping nach Hause kam, kannte er nur mehr ein 
Bestreben; er wollte den wahren Geist von Himmel und Erde 
aufsuchen, um sich ihm dankbar zu bezeigen. Wo er nun eine 
berühmte Pagode kannte, suchte er sie auf, aber nirgends fand er 
ein Götzenbild, das als der Geist von Himmel und Erde verehrt 
worden wäre. Selbst nach Schansi unternahm er eine Wallfahrt; 
dort ist der heilige Berg Utöny, und auf demselben definden sich 
sehr viele Pagoden mit unzähligen Götzen. Er hoffte unter diesen 
den gesuchten, den „wahren Geist von Himmel und Erde*, zu 
finden. Mutlos kam er indes von seiner Wallfahrt zurück; anch 
auf dem Utöng Berge hatte er den Gesuchten nicht gefunden. Es 
ist überhaupt eine auffallende Tatsache, daß die Chinesen im Augen- 
blicke der höchsten Not immer den Lao tien ie-ie anrufen, den 
„alten Himmelsgroßvater* der in ihrer Vorstellung mächtiger ist 
als alle anderen Geister, daß sie aber in keiner Pagode sein 
Bild verehren. 

Eines Tages nun, da er zur Stadt ging um seine Steuer zu 
zahlen, kam er auf dem Heimwege in der Nähe von Tscheng tja, 
einer Christengemeinde vorbei, wo man gerade die Fundamente zu 
einer neuen Kirche legte. Die Neugierde trieb ihn vom Wege, 
wie so manchen anderen, der dort vorbeiging; jedermann wollte 
gerne sehen, was da Neues gebaut werde. Nachdem er sich an 
der Pforte vorgestellt, ließ man ihn hinein. „Wißbegierig* nun, 
wie alle Chinesen sind, schaute er nicht nur durch offene Türen, 
sondern auch durch die Kitzen der geschlossenen. Da sah er denn 



— 341 — 

durch die Spalte einer zugelehnten Türe ein Bild an der Wand 
hängen, dessen Anblick ihn sofort wie gebannt zurückhielt. Das 
war ja der wahre Geist von Himmel und Erde, der lange gesuchte, 
die nämliche Figur, wie sie der „Alte" gehabt, der ihn einstens auf 
den Wellen des blauen Flusses in größter Not errettet hatte. Sofort 
warf sich Sung-sü-ping auf die Eniee, schlug in einem fort mit der 
Stirn auf den Boden und betete: „0 wahrer Geist, ich danke Dir! 
Du hast mein Leben gerettet; endlich habe ich Dich gefunden. " 
Die Christen, welche herbeigelaufen waren, meinten, der Mann sei 
ein Irrsinniger und wollten ihn hinaus schaffen. „Nein, ich bin kein 
Irrsinniger," sagte er, „ich weiß sehr wohl, was ich tue." Und 
dann erzählte er seine Erlebnisse. Zum Schlüsse versprach er, die 
nächsten Tage wiederzukommen, um dem wahren Geiste sein Opfer 
zu entrichten (schan kung) d. h. vor dem Bilde Fleisch, Wein, 
Früchte und dergl. aufzutischen. Ein Katechist nahm sich nun des 
Mannes an und belehrte ihn, wer der wahre Geist denn eigentlich sei, 
und welche Verpflichtung er ihm gegenüber habe. Was er in der 
Kirche erblickt, sei nur ein Bild desselben, ihn selber aber könne 
niemand mit leiblichen Augen sehen, da er ein Geist sei. Mit Opfer 
und Danksagung sei es nicht genug ; er selber müsse Christ werden 
und sein Leben lang den wahren Geist, der sich ihm nun offenbart 
habe, verehren. Noch wohl nie hatte der Katechist einem eifrigeren 
und bereitwilligeren Zuhörer gepredigt. Sung-sü-ping wurde Christ 
und zwar ein Christ mit ganzer Seele. Und nachdem er den wahren 
Geist kennen gelernt hatte, unterrichtete er seine Familie in den 
christlichen Lehren, damit auch sie den „Himmelsherrn" verehrten 
und liebten. Als dann die Seinen den wahren Glauben angenom- 
men hatten, predigte er Nachbarn und Bekannten, welche ebenfalls 
mit der Zeit Christen wurden. 

In Tji-tschau lebte ein Heide, Su-schen-tei, geheißen, der seines 
Zeichens ein Pfeifenfabrikant war. Das Geschäft blühte und ver- 
größerte sich alle Jahre, denn Su-schen-tei war nicht nur redlich 
und fleißig, sondern er hatte auch eine überaus geschickte Hand, 
welche die feinsten Arbeiten mit Leichtigkeit ausführte. Aber — 
und das ist eine wahre Seltenheit bei den Chinesen, — je mehr 
sich sein Reichtum mehrte, um so mächtiger erwachte in ihm das 
Verlangen, sich in die Einsamkeit zu begeben, um seine Sünden zu 
tilgen (tsch'u-ngie) und die Tugend zu üben. Schließlich wurde dieses 
Verlangen derart stark, daß er ihm nicht länger zu widerstehen ver- 
mochte. Er ließ alles im Stich und floh bei Nacht und Nebel nach Tä- 
juen-fu in ein großes Bonzenkloster. Von dort schrieb er seinem Vater 



— 342 — 



einen Brief und bat ihn, das Geschäft zu übernehmen oder zu vorkaufen, 
er verziehte auf alles, er wolle fortan nur der Selbstheiligung leben. 

Wie ernst es ihm war mit Meinem Streben nach Frömmigkeit, 
geht daraus hervor, daß er in kurzer Zeit Oberbonze wurde und 
als solcher die (iesamtaufsicht von vielen anderen Klöstern hatte. 
Auch mußte er bei sonstigen Anlassen, wenn z. B. die Bauern, 
welche die Ländereien der Kloster bebauten, ihre Abgaben nicht 
entrichten wollten, mit den Mandarinen, ja selbst mit dem Vizekönige 
verkehren und genoß ein nicht geringes Ansehen. Als indes der 
Vater mit der Zeit den Aufenthalt seines Sohnes in Erfahrung 
gebracht, ließ er ihn nach Hause zurückholen. Der Alte war den 
höheren Bestrebungen seines Sohnes durchaus abhold; ihm war 
es vielmehr darum zu tun, das Geld zu mehren und gut zu leben. 
Su-schen-tei mußte gehorchen, so schwer es ihm auch wurde. Zu 
Hause angekommen, zwang ihn der Vater, das Geschäft von neuem 
zu übernehmen und alle „Klostergedanken" fahren zu lassen. Als 
gehorsamer Sohn fügte sich Su-schen-tei, mit seinen Gedanken aber 
weilte er immer noch in der Pagode. Und wenn es ihm nur eben 
möglich war, suchte er die Pagode seines Dorfes auf, schlief dort 
während der Nacht und betete im Angesichte der Götzen, sobald 
er einige Minuten freie Zeit fand. Alles was er von Tä-juen-fu 
und dem „Kloster" mitgebracht hatte, seine Bonzenkleider, Bücher, 
Schriften und dergl. wurden ihm vom Vater verbrannt; auf diese 
Weise hoffte er seinen Sohn am besten kurieren zu können. 

Der Ruf von der Geschicklichkeit des heimgekehrten Bonzen 
verbreitete sich immer mehr. Aus weiter Ferne kam man und 
machte Bestellungen. Selbst Hiren, welche ihren Dienst versagten 
und die kein Tausendkünstler mehr zum Leben erwecken konnte, 
wurden von ihm meisterhaft repariert. Protestanten nun, die in 
dortiger Gegend eine Gemeinde hatten, ließen eines Tages auch 
ihre dienstunfähigen Uhren zu unserem Künstler bringen, und da 
der Missionar schon öfter von dem Manne gehört, benutzte er die 
Gelegenheit, ihn selber aufzusuchen. Er fand einen äußerst gedie- 
genen Charakter, ganz anders, wie ihn die Durchschnitts-Chinesen 
haben ; und weil er ein williges Gehör zeigte, ließ er sich auch mit 
ihm in ein Gespräch ein über religiöse Wahrheiten. Su-schen-tei wurde 
Protestant und verblieb es acht Jahre lang. Die Protestanten hatten 
dann besagte Gemeinde aufgegeben und den Su-schen-tei zu ihrer 
Hauptresidenz eingeladen, die aber mehrere hundert Li entfernt lag. 
Vorderhand war es ihm unmöglich, dorthin zu gehen, und deshalb 
h*tte e* nichts mehr von der protestantischen Lehre vernommen. 



- 343 — 

Unser Veteranen-Missionar, der mir die Geschichte erzählte, 
sah an einem heißen Mittag im Sommer einen Wanderer daher- 
schreiten und da er ihm recht ermattet schien, lud er ihn zu sich 
in seine Behausung und erquickte ihn mit etwas Tee. Der Wanderer 
war ein Studierter und ein rechter Bücherfreund; daher fiel sein 
erster Blick auf die Bücher, welche der Missionar in schöner Ord- 
nung auf seinem Tische stehen hatte. Die meisten dieser Bücher 
hatte er noch nie gesehen, noch viel weniger wußte er, was darin 
stand. Da es vorzüglich Werke über die Glaubenswarheiten waren, 
machte ihn der Missionar mit dem Hauptinhalte derselben bekannt. 
Der Fremdling rief dann begeistert aus: „Wenn mein Freund wüßte, 
daß der Missionar so herrliche Lehren predigt, wäre er schon längst 
zu ihm geeilt, denn mein Freund sucht zeitlebens nach der Wahr- 
heit, ohne sie recht zu finden. Wenn der Missionar damit einver- 
standen ist, werde ich morgen meinen Freund herholen, damit er 
selber sehe und höre.* Freudig gab der Missionar seine Einwil- 
ligung. Der Fremdling aber war kein anderer, als Su-schen-tei. 
Mit diesem nun hatte der Missionar leichtes Spiel, da Su-schen-tei in 
den Glaubenswahrheiten kein Neuling mehr war. Er hatte auch 
bald herausgefunden, welche Religion die wahre sei und bekannte 
sich fortan zur katholischen. Nun hatte er auch endlich erreicht, 
was er zeitlebens erstrebt — die Wahrheit und ein Mittel der 
Sündenvergebung (tsch'ti-ngie). Sofort war ein beseligender Friede 
in sein Herz eingekehrt und sein Hauptbestreben ging nunmehr 
dahin, auch andere für die christliche Religion zu begeistern. 
Unermüdlich arbeitete er als Katechist, und niemand konnte über- 
zeugender und eindringlicher zum Herzen reden wie er. Mancher 
Heide verdankt seinen Worten die Bekehrung. Jetzt ist Su-schen-tei 
ziemlich alt an Jahren, aber das hindert ihn noch immer nicht, 
tätig mitzuwirken an der Ausbreitung des wahren Glaubens und 
weil er nicht mehr so viel predigen kann, wie ehedem, liegt er 
um so fleißiger dem Gebete ob. 





- S44 — 

Nebenbei. 

.He — ja, he — ja!* 

|r schleppte sich daher wie das wandelnde Elend. Die Erde 
schien ihn fester an sich zu ziehen ; es kostete viele An- 
* . strengung, die Füße weiter zu bringen, und müde senkte 

i^ofVX** sich das Haupt nach vorne. Die Schuhe waren an die 
Füße festgebunden, lose und unordentlich hing die zerlumpte Ge- 
wandung um den abgemagerten Körper; dei Rücken trug mühsam 
einen fettigen Ranzen, und doch hatte der Arme mehr als genug 
an seiner eigenen Last zu tragen. Reize hatte das Leben wohl 
niemals für ihn gehabt, und schon längst waren die Bande gelockert, 
die ihn daran festhielten. 

Drei Monate waren es her, seitdem er nach T singtau gekom- 
men, um dort sein Glück zu versuchen. Dort sei es eine Kleinig- 
keit, reich zu werden, hatte man ihm gesagt ; man habe nur fleißig 
zu arbeiten und genügsam zu leben, dann könne man sich in kurzer 
Zeit ein kleines Vermögen ersparen. Das waren ja verführerische 
Aussichten, und Mafamg wollte versuchen, ob nicht vielleicht das 
mühevolle Erdendasein noch einen versöhnenden Abschluß finde. 

Er fand Aufnahme und Beschäftigung als Rottenarbeiter beim 
Eisenbahnbau. Gewiß, da gab es mehr Verdienst wie daheim, aber 
das Essen mußte auch doppelt so teuer bezahlt werden. Nichts- 
destoweniger legte er sich taglich einige Sparpfennige auf die Seite. 
„Aber wem das Glück nicht hold sein will, dem werden die Zähne 
stumpf, selbst wenn er nur kaltes Wasser trinkt.* 1 ) Der Typhus 
erfaßte plötzlich den Armen und warf ihn lange Zeit aufs Kran- 
kenlager; nur wenig hätte gefehlt, dann wäre er nicht mehr davon 
aufgestanden. Die ersparten Zehrpfennige waren in Kürze verbraucht. 
Der liebenden Sorgfalt eines Bekannten war es zu verdanken, daß 
er mit dem Leben davon kam. Doch das Leben war nur mehr 
ein Flimmern; die Kräfte waren gebrochen, an ein Arbeiten und 
Verdienen war nicht mehr zu denken. 

„Ich gehe heim, um wenigstens bei meinen Vorfahren beer- 
digt zu werden. u Das war sein jetzt gefaßter Entschluß, und schon 
am anderen Tage begann er ihn auszuführen. „Unmöglich wirst 
du noch lebend ankommen ", hatte man ihm gesagt, aber alles Zu- 
roden war umsonst. 

'; ('hiiicHJHchoH Spruch wort. 



— 345 - 

Eine Viertoistunde weit hatte er sich fortgeschleppt, und doch 
war er schon zwei Stunden unterwegs, und bei jedem Schritt seufzte 
er „Heja heja!" 

„Großer Bruder, das Gehen wird Dir wohl sauer, Du kommst 
ja gar nicht vom Flecke ; komm ich helfe Dir auf mein Pferd ; ich 
kann schon ein wenig zu Fuß gehen. 

Verwundert blickt Makung zu dem Sprecher empor. Man sah 
es ihm an, wie er nach einer Antwort suchte; doch zuvor glitt es 
über das schmerzdurchfurchte Antlitz wie dankbares Lächeln. 

„Wie, ich soll das Tier reiten, und Du willst nebenher gehen ; 
nein, das ist unmöglich. Ich bin ja nur ein armer Kuli, Du aber 
bist ein Europäer; solche Zumutung hat man mir noch nie gemacht 
in meinem Leben." Es klang fast wie Entrüstung aus der Stimme; 
offenbar glaubte der Arme, das Anerbieten sei im Scherze gemacht. 

„Nein, ich rede im Ernst, und Du tust mir einen Gefallen, 
wenn ich Dir einen Gefallen erweisen darf und etwas mithelfen 
kann, Dein Elend zu lindern. Komm, ich helfe Dir auf den Gaul 
und mache weiter keine Gegenrede." 

Aber Makung war nicht zu bewegen. Das Einzige, wozu er 
sich verstand, war, daß ihm sein Bündel abgenommen und auf das 
Tier gelegt wurde, welches dann reiterlos neben uns ging. 

Makung erzählte, was wir bereits gehört; er gebrauchte lange 
Zeit dazu, und oft mußte man stehen bleiben, um rasten zu können 
und ausgiebig Atem zu schöpfen. 

„Großer Bruder, Du hast Dein Lebtag wohl keine guten Tage 
an Dir vorüberziehen sehen und kaum eine Neige aus dem Freuden- 
becher genippt. Wie wäre es, wenn Du nach Deinem Tode glück- 
lich würdest für immer und ewig und vollkommen glücklich?" 

• Ich glücklich werden, da ich zum Leiden geboren bin: das 
ist ein Ding der Unmöglichkeit". 

Ungläubig schüttelte der Alte das Haupt, und vollends ungläu- 
big klang der Ton seiner Stimme. 

„Ja, glücklich möchte ich Dich sehen, und ich kann Dir dazu 
verhelfen, daß Du glücklich wirst." — 

Glücklich werden, das klang ja wie Musik aus einer anderen 
Welt. An ein Glück zu glauben und zu hoffen, das war ihm bisher 
vermessen erschienen. In beständigem Ringen und Kämpfen um 
die eigene Existenz, glaubte er sich allmählich kaum mehr exi- 
stenzberechtigt; selbst auf den Trunk Wasser vermeinte er das 
Anrecht verloren zu haben, und die Luft, die er atmete, gehöre 
anderen. 



— 346 — 

„Glücklich kannst Du werden, großer Bruder wenn Du nur 
willst; folge mir, ich zeige Dir den Weg zum Glücke." 

Mechanisch hörte Makung zu, wie ihm nun erklärt wurde, 
worin das wahre Glück bestehe, und wie dasselbe zu erreichen sei. 
Doch je mehr er hörte, umsomehr dämmerte es auf in seiner Seele. 
Das matte Auge fing zu glänzen an, behender hoben sich die Schritte 
vom Boden, Geist und Gedanken schwebten bereits in höheren 
Regionen. 

„Du siehst drüben in der Ferne nicht weit vom Wege eine 
Pagode. Dorthin eile ich voraus und warte auf Dich. Besinne 
Dich unterdes ernsthaft und aufrichtig. Willst Du wirklich getauft 
werden und Vergebung Deiner Sünden erlangen, dann kehrst Du 
dort ein in die Pagode. Besinnst Du Dich aber eines andern, dann 
gehe vorüber, und auch ich werde meines Weges weiter ziehen. 
Hier sind Deine Habseligkeiten, ich reite voraus." 

Es dauerte geraume Zeit, bis der Unglückliche sich herange- 
schleppt; um so besser, denn umsomehr Zeit blieb mir übrig, die 
Vatergüte Gottes zu bestürmen. 

Er naht sich; bald muß er abbiegen: „Mach glücklich, oHerr, 
den Ungläubigen!" Er scheint weiter gehen zu wollen: „Guter 
Hirte, erbarme Dich der armen Seele!" Er bleibt stehen; er schaut 
hinüber zur Pagode ; der Entschluß ist gefaßt, noch einige Schritte, 
und er tritt ein. 

„Taufe mich, großer Bruder, und mache mich glücklich; bitte, 
recht schnell, denn es geht mit mir zu Ende." 

Noch einmal werden ihm die notwendigsten Glaubenswahr- 
heiten vorgesprochen und ein Reuegebet, das er mit zerknirschtem 
Herzen nachspricht. Noch einmal wird er gefragt: „ Willst Du 
getauft werden?" Während er „Ja" antwortet, füllen sich seine 
Augen mit Tränen. 

Im Umkreise stehen die grinsenden Dämonenbilder. Auf den 
Knieen liegt ein armer Heide, der soeben geschworen, ihren Diensten 
zu entsagen. Es fließt das Taufwasser über seine Stirne und der 
verlassene Teufelsdiener wird aufgenommen zur Gemeinschaft der 
Kinder Gottes. 

Lange noch bleibt er auf den Knieen liegen, und als ihn diese 
nicht mehr zu tragen vermögen, kauert er sich zu Boden. Er seufzt, 
aber kein Iieja mehr, sondern kan-sie Tien4schu: „Gott sei Dank!" 

Eben haben sich neugierige Heiden am Eingange der Pagode 
versammelt. Einer wird beauftragt, Essen herbeizubringen, damit 
sich Makung auch körperlich etwas stärke. Als die Mahlzeit kommt, 



— 34? — 

kann er auch nicht einen Bissen nehmen, aber dennoch leuchten 
die Augen in stiller Freude, und die Lippen murmeln fortwährend 
Dankes worte. 

Die Sonne hat die Mittagshöhe überschritten; es wird die 
höchste Zeit, voran zu reiten, um das heutige Reisepensum zu 
vollenden. Aber zuvor wird noch ein Zettel geschrieben und dem 
Getauften zugestellt: „Heute, am 15. Mai 1904, wurde Makung, 
geboren in Lao-tja-t'uin auf den Namen Joseph getauft von Bruder 

J .... u Der Zettel sollte als Ausweis dienen, falls der 

Arme seine Heimat erreichte und je mit Christen in Berührung 
käme. Er hat die Heimat nicht erreicht. Der Zettel wurde später 
irgendwo aufgefunden, und als ich Bruder J. über den Hergang 
betrug, erzählte er mir die Geschichte und seine Augen leuchteten 
stillvergnügt. 

„Es geschah halt unterwegs und nur so nebenbei, und es ist 
nicht das erste Mal, daß ich so einen Elenden in den Himmel 
befördert und — glücklich gemacht habe." 



U CCCCC C I OUJ 




Bestrafte Sonntagsentheiligung. 

grüben in Europa sind der Festlichkeiten und Feierlichkeiten 
am Sonntage oft so viele, daß für unsern Herrgott kaum 
mehr eine halbe Stunde übrig bleibt und der Tag des 
Herrn vollends zu einem Tage des Pläsiers degradiert wird. 
Unsern chinesischen Christen hier im Reiche der Mitte möchte 
ich gerne etwas mehr Sonntagsvergnügen und Abwechselung ver- 
gönnen, denn es ist für sie keine Kleinigkeit, den Sonntag hin- 
zubringen, ohne daß sie sich langweilen. Spaziergänge in Feld und 
Wald kennt der Chinese nicht, aus dem einfachen Grunde, weil es 
keine Wälder gibt und das Spazierengehen in den Feldern nicht 
gebräuchlich ist. Sich die Zeit mit entsprechender Lektüre vertrei- 
ben, geht auch nicht an, denn Lesen können, ist nur ein Vorrecht 
der Studierten, die in China aber noch rarer sind als bei uns die 
Advokaten. Des Vergnügens halber besucht auch kein Chinese ein 
Wirtshaus, denn so ein chinesisches „Hotel" auf dem Lande bietet 
bitter wenig Bequemlichkeit und Annehmlichkeit, und man ist froh, 
wenn man es wieder verlassen kann. Die sogenannten Restaurants 
(Tien) sind gemeiniglich nichts weiter als Herbergen, die notdürftig 
gegen Wind und Wetter schützen, und in denen man Tee trinkt 



— 348 — 

und Mehlnudeln ißt. Und vor allem erst die sonstigen Abwech- 
selungen, welche dem Christen in Europa geboten werden durch 
mancherlei Spiele und Aufführungen, in Kränzchen und gesellschaft- 
lichen Zusammenkünften, fehlen dem chinesischen Christen vollends. 
Da ist es zu begreifen, daß er nicht selten die Versuchung hat, 
am Sonntage zu arbeiten aus — lauter Langweile. Auch kommt 
noch das Beispiel einer heidnischen Umgebung hinzu, die nichts von 
einer Sonntagsfeier kennt. 

Besonders traurig ist es in Gemeindon bestellt, in denen sich 
der Priester im Jahre nur ein- oder zweimal zur Zeit der Missionen 
aufhalten kann. Und solcher Gemeinden gibt es bei der geringen 
Anzahl von Missionaren sehr viele. Die armen Leute müssen dann 
ihre Sonntagsfeier selber veranstalten. Es geschieht das durch 
gemeinschaftliches Beten des Kreuzweges und des Rosenkranzes 
und durch Vorlesen aus einem Erbauungsbuche, das meistens Auf- 
gabe des Christen Vorstehers ist. Kinder müssen ihren Katechismus 
erlernen und die nötigen Gebete, die gemeinschaftlich rezitiert 
werden. 

Trotz aller Schwierigkeiten kann man im allgemeinen mit 
der Heilighaltung der Sonn- und Pesttage bei unserii chinesischen 
Christen wohl zufrieden sein. Wer es in dieser Beziehung nicht 
gewissenhaft nimmt, steht bei den pflichtgetreuen Christen wenig 
in Ansehen, und er wird bei nächster Gelegenheit dem Missionar 
als Sonntagsschänder angezeigt. 

Recht traurig erging es dieser Tage einem Christen hier aus 
dem Dorfe, der auf Bitten seines heidnischen Verwandten hin sich 
hatte verleiten lassen, am Sonntage einen Karren zu fahren. Dar- 
auf waren die Landeserträgnisse eines ganzen Jahres geladen : Ge- 
treide, Süßkartoffeln, Erdnüsse, und alles war fürsorglich in Stroh 
verpackt und war damit zugedeckt. Schon näherte man sich dem 
Dorfe; es war auch an der Zeit, denn das Dunkel der Nacht ließ 
kaum mehr den rechten Weg erkennen. Plötzlich wird es hell; 
lichterloh flammt das Stroh auf dem Wagen empor; die Ochsen 
davor gebärden sich wild und wollen davon eilen. Zum Glück 
kann man die Stränge noch zeitig genug durchschneidon, so daß 
die Tiere von dem brennenden Wagen befreit werden. Das Feuer 
zu löschen, ist unmöglich, denn in der Nähe findet sich kein Wasser, 
dem Winde aber ist guter Durchzug geboten, so daß die ganze 
Habseligkeit mitsamt dem Wagen in kurzer Zeit verkohlt ist. Der 
Wagen war noch gar geliehen, und nun hieß es, dem Eigentümer 
einen neuen verschaffen. Woher war das Feuer gekommen? Das 



— 349 — 

war tien-huo, sagten Christen und Heiden „vom Himmel gefallenes 
Feuer" zur Strafe für den Sonntagssünder. Dieser aber ist durch 
Schaden klug geworden und wohl bekehrt fürs ganze Leben. 

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Ein Licht in der Finsternis. 

IJen-lao-tjing hieß der Großvater eines chinesischen Missionars 
und sein Wohnort war Ko-tschuang. Er hatte in seinen 
Mffiljj jungen Jahren große Körperkraft besessen, und auch geistig 
ü'Äl&l war er den meisten seiner Genossen überlegen gewesen. 
Was er einmal gehört, vergaß er nie mehr, und wenn Theater- 
spieler ihre Stücke vordeklamiert hatten, so konnte er sie nachher 
wörtlich wieder zum besten geben. Mit jedem Gegner nahm er 
es auf; wer aber je die Schläge seiner Paust gefühlt, hatte nie- 
mals mehr Lust, ein zweites Mal damit in Berührung zu kommen. 
Seines Zeichens war er ein Kleinhändler, und als solcher besuchte 
er die Märkte der Umgegend. 

Eines Abends nun, da er eben vom Markte heimkehrte und 
im Dunkel dahintappte, hatte er alle Mühe, nicht vom rechten 
Wege abzuirren; denn kein Sternlein leuchtete am wolkenschweren 
Himmel. Plötzlich aber wird es licht um ihn, immer heller und 
heller strahlt es von allen Seiten; die Quelle des Lichtes aber 
kann er nirgends finden. Der Schrecken hält ihn gefangen, und 
kaum ist er im stände, einen Fuß voranzusetzen. So plötzlich 
das Licht gekommen, ebenso plötzlich verschwindet es auch 
wieder. Die letzten Strahlen ziehen in östlicher Richtung, wo sie 
sich auf einen Punkt zu vereinen scheinen und dann allmählich 
erlöschen. 

Nach Hause zurückgekehrt, beschäftigte Jenlaotjing nur mehr 
ein Gedanke: woher kam das Licht und was hatte es zu bedeuten? 
Für alles andere, was um ihn war, hatte er kein Interesse mehr. 
Selbst das Essen und Trinken war ihm Nebensache geworden, und 
alle übrigen Beschäftigungen tat er nur gewohnheitsmäßig. „Das 
Licht, das ich gesehen/ sagte ersieh, „war kein natürliches; denn 
eine solche Helle kann niemand hervorzaubern. Es muß also von 
einem Geiste herühren." — Diesen Geist, der ihm das Licht gesandt, 
zu finden, war fortan sein ernstes Bestreben. Er suchte die Häupter 
einer Sekte auf, der Mi-mi4jau, und ließ sich von ihnen über den 
Inhalt ihrer Lehre unterrichten. 



— 350 — 

„Wir verehren einen großen Geist," sagten sie, „und dieser 
Geist ist es sicher, der dich zu uns geführt." — 

„Aber kann ich auch wieder austreten, wenn es mir in eurer 
Lehre nicht gefällt, oder bin ich für immer an dieselbe gebunden?" — 

„Ehe du aufgenommen wirst, mußt du schwören, für immer 
und ewig unserer Lehre treu zu bleiben. Schwörst du aber und 
hältst später deinen Schwur nicht, so wirst du nach hundert Tagen 
in Eiter und Blut verwandelt." 

Als Jen-lao-tjing das hörte, war es mit seiner Lust, sich bei 
den Sektierern einschreiben zu lassen, vorbei. Er kehrte heim, 
grübelte weiter fort und grämte sich, daß der große Geist ihn nicht 
auf die rechte Bahn führe. Seine Frau hatte schon seit langem 
bemerkt, daß es mit ihrem Manne nicht stimme. Ihn zu fragen, 
was ihm fehle, hatte sie nicht so recht den Mut ; doch endlich nahm 
sie sich das Herz und erkundigte sich nach der Ursache seines 
Trübsinnes. 

„Du bist ein dummes Weib wie alle andern," antwortete Jen- 
lao-tjing unwirsch, „für meine Leiden hast du doch kein Verständnis. u 

„Wohl bin ich dumm," sagte die Frau, „aber ich bin doch 
deine alte Hälfte (lao-pöl), und zwischen Eheleuten sollen auch 
keine Geheimnisse bestehen. Eröffne mir, was dein Herz beschwert, 
vielleicht kann ich dir doch helfen." 

Und sie ließ ihm nicht eher Ruhe, bis er ihr alles offenbart 
hatte. 

„Hättest du doch nur eher geredet," antwortete sie; „ich 
kenne eine Religion, die den einzig wahren Geist verehrt, und die 
ganz sicher die wahre Religion ist. Mein Vater ist schon seit langem 
Anhänger dieser Lehre und fühlt sich glücklich darin. Die Bekenner 
dieser Lehre verehren den Himmelsherrn, und die Religion wird 
T'ien-tschu-tjau genannt, von der du vielleicht schon gehört hast." 

Spät am Abende war es, als beide Eheleute dieses Gespräch 
geführt, aber der Entschluß des Jen-lao-tjing war sofort gefaßt. Unver- 
züglich machte er sich im Dunkel der Nacht auf und suchte das eine 
halbe Stunde entfernt liegende Dorf seiner Verwandten auf. Als 
er an deren Tür klopfte und um Einlaß bat, hatten die Verwand- 
ten wenig Lust zu öffnen; denn sie vermuteten einen Saulus davor. 
Kannten sie doch den Jen-lao-tjing als einen rechten Draufgänger, 
und sie glaubten, er führe nichts Gutes im Schilde. Zu damaliger 
Zeit mußte sich die christliche Religion noch verbergen, da sie 
nicht staatlich anerkannt war; nnd wenn jemand beim Mandarin 
als Christ verklagt wurde, war es um sein Hab und Gut geschehen, 



— 351 — 

wenn er überhaupt mit dem Leben davonkam. Doch klopfte Jen- 
lao-tjing so heftig und bat so eindringlich um Einlaß, daß man ihm 
schließlich öffnete. 

Bald hatte man sich auch überzeugt, daß er wirklich in bester 
Absicht gekommen war. Mit größter Aufmerksamkeit lauschte er 
den Worten seines Verwandten, und je mehr ihm dieser von der 
Lehre des „ Himmelsherrn u (T'ien-tschu) erzählte, um so größer 
wurde sein Verlangen, in dieselbe aufgenommen zu werden. Als 
bereits der Morgen graute, hatte Jen-lao-tjing noch nicht genug 
gehört, und als sein Verwandter auf das Feld ging zu pflügen, 
ging er mit ihm hinter dem Pfluge her, um Gebete zu lernen. 

Aber da fing es zu hapern an. Schon das erste Gebetlein, 
das Kreuzzeighen, machte ihm große Schwierigkeiten. Wenn er 
dasselbe betete, so konnte er sich nicht bezeichnen, und wenn er 
sich bezeichnete, so konnte er nicht beten. Schon hatte er zwei 
Tage versucht und geübt, aber umsonst. Aber das war ja uner- 
klärlich: er, das große Genie mit dem riesigen Gedächtnisse, der 
den längsten Theatergesang wiederholen konnte, wenn er ihn ein- 
mal gehört hatte, übte schon zwei Tage an den paar Worten des 
Kreuzzeichens und konnte sie nicht behalten! Schon längst hätte 
er den Mut verloren, wenn ihm sein Lehrmeister nicht immer von 
neuem zugesprochen und den Verzweifelten ermuntert hätte. 

„Da sitzt der Teufel dahinter/ sagte er ihm; „der will nicht 
haben, daß du Christ wirst und den wahren Geist verehrst; halte 
nur aus, und du wirst den Sieg erringen. u — 

Müde und traurig legte sich Jen-lao-tjing am dritten Tage mit- 
tags ein wenig zur Ruhe nieder. Als er eben eingeschlummert war, 
sah er am Fußende des Bettes ein aufgeputztes Frauenzimmer sitzen, 
welches ihm freundlich zulächelte. Zornig stieß er mit dem Fuße 
gegen sie, und zwar so heftig, daß ein großer Steinbehälter, der 
am Bette stand, in Stücke auseinander flog. „Das war wohl der 
Teufel/ sagte er sich, und sogleich stand er auf, seinem Verwandten 
das Vorgefallene zu erzählen. „Ich habe den Behälter zerbrochen/ 
sagte er, „aber dafür hat der Teufel auch einen Tritt bekommen." 
Dann versuchte er es wieder mit dem Kreuzzeichen — und es 
gelang. Und jetzt hatte er wieder sein früheres Gedächtnis. Im 
Verlaufe von fünf Tagen konnte er sämtliche Gebete und alle vier 
Katechismen hersagen, eine Aufgabe, an welcher andere oft jahre- 
lang zu lernen haben. Jetzt wußte er auch, was das gesehene Licht 
zu bedeuten gehabt. Es war gegen Osten gezogen, und gerade 
im Osten lag das Dorf, wo seine Verwandten lebten, wo ihm selber 




— 352 — 

das wahre Lieht aufgegangen war. Seiner braven Frau aber, die 
schon längst im geheimen Gebete erlernt und sich auf die Taufe 
vorbereitet hatte, konnte er die Gnade seiner Bekehrung verdanken. 
Sie hatte ihm dieselbe erfleht. — 

Als die zwei Eheleute den Priester aufsuchten und um die 
Taufe baten, und als sie dann im Sakramente der Wiedergeburt 
zum neuen Leben erwachten, da war niemand glücklicher als sie, 
und sie sind es geblieben ihr Leben lang. 



Böse Heidin — gute Christin. 

fn der Kegel meint man, alle chinesischen Frauen ständen 
unter dem Pantoffel der Männer und seien mehr Sklavin- 
nen als Frauen. Daß dem aber nicht so ist, zeigt folgende 
t*£)]$l Bekehrungsgeschichte einer Familie, welche in bezug auf die 
angemaßten Rechte der Frau durchaus nicht vereinzelt dasteht. 
Bekanntlich ist die Weiberzunge eine mächtige Waffe, die nicht 
selten dem Mann um des lieben Friedens willen Stillschweigen 
auferlegt. Die chinesischen Frauen aber haben nicht nur spitzere 
Fuße, als ihre Schwestern in Europa, sondern auch wohl eine noch 
spitzere Zunge: auf das letzte Wort verzichten sie selten. 

Li-rao-iau war ein aufrichtig nach Wahrheit suchender Heide- 
Noch ziemlich jung trat er einer geheimen Gesellschaft bei, weil er 
darin das Sehnen seines Herzens zu befriedigen hoffte. Bald aber 
sah er sich getäuscht; er hatte nämlich herausgefunden, daß die 
eigentlichen Ziele der Sekte ganz andere waren, als dem Herzen 
Befriedigung zu verschaffen, vielmehr darauf hinausgingen, den 
Kaiserthron zu untergraben und Empörung ins Land zu bringen. 
Zudem wurde er selber als Anhänger dieser Sekte entdeckt und 
verklagt, und es kostete ihm eine große Summe Geld, sich frei zu 
kaufen und den verhängten Strafen zu entgehen. Als später Li- 
mo-iau von der christlichen Religion hörte, suchte er sich einige 
Keligionsbücher zu verschaffen; und da ihm der Inhalt gefiel, ging 
er zum Missionar, um sich weiter in den Wahrheiten des christ- 
lichen (jlaubens unterrichten zu lassen. Sobald seine Frau bemerkte, 
daß ihr Mann Christ werden wollte, setzte sie alle Hebel in Bewe- 
gung, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. „Damals*, 
sagte sie, „hast du wohl noch nicht genug Geld bezahlt, als du der 
falschen Lehre anhingest und nur mit knapper Not dem Tode 



— 353 — 

entkamst. Da bist du noch nicht klug geworden, sonst würdest du 
jetzt nicht dem Europäer nachlaufen, denn der wird doch ganz sicher 
nichts gutes im Schilde führen." Li-mo-iau ließ sich aber nicht 
überreden. Er hatte eingesehen, daß er diesmal nicht hinter das 
Licht geführt wurde, sondern daß er vielmehr den Weg zum wahren 
Licht gefunden. Er bemühte sich denn auch, seine Frau zu überzeu- 
gen, daß die christliche Religion nichts gemein habe mit den falschen 
Sekten, daß sie nur des Menschen Wohlfahrt erstrebe. Aber alle 
Redekunst war umsonst, die Frau blieb dem Christentum feindlich 
gesinnt. Statt sich selber zu bekehren, suchte sie beständig ihren 
Mann auf bessere Wege zu bringen, d. h. ihn vom Christentum abzu- 
halten, und legte ihm Hindernisse in den Weg, wo sie nur konnte. 

Eines Tages war der Priestor ins Dorf gekommen. Als Li- 
mo-iau das hörte, machte er sich sogleich auf den Weg, um dem 
geistlichen Vater seinen Besuch abzustatten, wie es so der Gebrauch 
ist bei den chinesischen Christen. „Du bleibst zu Hause", befahl 
die Frau im kategorischen Imperativ. „Nein, ich gehe zum Priester", 
antwortete Li-mo-iau, „denn es wäre sehr unhöflich von mir, wollte 
ich nicht hingehen und mich nach seinem Befinden erkundigen". 
Und damit eilte er zur Türe hinaus, aber die Frau folgte ihm auf 
dem Fuße unter beständigem Schimpfen. 

Li-mo-iau bog alsbald von der Straße ab und ging ins Feld, 
um die Frau zur Heimkehr zu bewegen; aber unverdrossen folgte 
sie. Werde dich schon kriegen, dachte der Mann und ging auf 
ein frisch gepflügtes Ackerland, das er im Zickzack durchquerte. 
Aber das waren doch etwas arge Anforderungen für die kleinen 
Füßchen der Frau. Schließlich mußte sie bekennen: „Ich kann 
nicht mehr", und damit setzte sie sich auf einen Eckstein zum 
Ausruhen. Li-mo-iau aber eilte schnurstracks zum Priester, indem 
er seine schimpfende und schmollende Ehehälfte zurückließ. 

Ein anderes Mal war der Missionar wieder ins Dorf gekommen, 
und ein Christ, der am Hause des Li-mo-iau eben vorbeiging, rief 
diesem zu: „Schen-fu le-lio: der geistliche Vater ist da." „Ich werde 
gleich hingehen", antwortete Li-mo-iau. Diesmal war ihm die 
schlaue Xantippe denn aber doch zu witzig. „Geh", sagte sie zu 
ihrem Manne, „geh eben in die innere Kammer und hole mir mein 
Nähkörbchen ; es steht oben auf dem Schranke, ich kann nicht gut 
hinlangen." Nichts Böses ahnend, ging der treue Mann hin, das 
Körbchen zu holen. Kaum war er in die Kammer getreten, da 
hatte die Frau auch schon die Türe zugeschlagen und abgeschlossen. 
„So, nun geh nur immer zu und beschaue dir den Europäer", höhnte 

Ji- Pieper, „Neue Bün4e| u , 93 



— 354 — 

sie dann durch die Türe. Dabei blieb es; der Christ wurde nicht eher 
seiner Haft entlassen, als bis der Missionar wieder abgereits war. 

Li-mo-iau hatte eine Tochter, die von Jugend auf studiert 
hatte. Neben den Wissenschaften des „heiligen Mannes" (Konfutse) 
hatte ihr die Mutter auch eine gute Portion Haß eingeflößt gegen 
die christliche Religion. Als nun eines Tages die Eatechistin ins 
Dorf gekommen war, um die christlichen Frauen zu unterrichten, 
wollte sich das junge Dämchen ein Vergnügen machen und die 
Jungfrau, wie sie sagte, einmal tüchtig in die Enge treiben. Sie hatte 
ja Hchon zehn Jahre lang studiert, so eine christliche Jungfrau aber, 
meinte sie, die könne unmöglich etwas wissen und verstehen. Auch die 
Mutter freute sich schon im geheimen über den Sieg, den ihr Töchter- 
lein davontragen werde. Aber — der Mensch denkt, und Gott lenkt. 
Das gelehrte Fräulein war kaum bei der Jungfrau warm geworden, 
da merkte es schon, daß es mit der eigenen Weisheit doch gar nicht 
so weit her sei, das bescheidene und freundliche Wesen der Jungfrau 
aber und ihre klugen Fragen und Antworten setzten sie in Erstaunen. 

Nein, so etwas hatte sie nicht erwartet. Sie schied mit dem 
Vorsatze und dem Versprechen, am nächsten Tage wiederzukommen. 
Am folgenden Tage aber wollte die Mutter ihre Tochter nicht gehen 
lassen; diese hatte ihr so viel Gutes von der Jungfrau erzählt und 
war für diese dermaßen begeistert, daß die besorgte Mutter fürchtete, 
die Tochter könne am Ende gar noch selber Christin werden. Und 
so kam es denn auch. Trotz aller Widerrede der Mutter ging das 
Mädchen so oft zur Jungfrau, wie nur eben möglich, und je öfter 
sie hinging, um so höher stieg ihre Achtung vor ihr und ihre Liebe 
zur christlichen Religion. Nach Verlauf von einem Jahre war auch 
sie eine eifrige Christin. 

Nun war die Mutter noch zu bekehren. Aber das war ein 
hartes Stück Arbeit. Doch das Gebet vermag alles. Und so ist 
es wohl auch dem vereinten Gebete von Vater und Tochter zuzu- 
schreiben, daß sich die alte Feindin des Christentums allmählich 
bewegen ließ, den christlichen Glauben anzunehmen. Aber einmal 
Christin geworden, war sie es mit ganzer Seele und konnte gar 
nicht begreifen, wie sie nur früher eine solche Abneigung gegen 
das Christentum hatte hegen können. Bei ihrer Taufe machte sie 
das Gelöbnis, zeitlebens den Missionar, so oft er auch immer ins 
Dorf komme, für einen Tag zu bewirten. Damit wollte sie in etwa 
wieder gut machen, was sie früher gefehlt hatte, besonders durch 
Haß und Abneigung gegen den Missionar und gegen das Christentum, 



— 355 — 

Muster eines guten Hausvaters. 

■,^%h' kleine Ngo wurde mit ihrer älteren Schwester als hilfloses 
Kind in unser Waisenhaus aufgenommen. Die Armen 
R hatten ihre Eltern verloren, die Verwandten aber wollten 
ÜifcV^Ö H ' c ' 1 nicht um die Waisen kümmern. Zum Verkaufen 
waren die Dinger noch zu klein, und zum Verschenken fand man 
keine Abnehmer. Da erbarmte sich der Missionar der Kinder und 
verschaffte ihnen bei christlichen Familien ein Unterkommen, bis 
sie nach einigen Jahren in das Waisenhaus aufgenommen werden 
konnten. Die ältere Schwester ist bereits seit 3 — 4 Jahren wohl- 
bestellte Hausmuttor, da sie ein guter Christ aus Puoly als Frau 
heimgeführt hat. Der kleine Franz, den ihnen der liebe Gott 
geschenkt hat, ist der Eltern Freude und wächst heran wie junger 
Klee nach Frühlingsregen. Ngo, die jüngere Schwester, wurde 
voriges Jahr zu Ehe gegeben in eine christliche Familie, 4 — 5 Stun- 
den von hier entfernt. Der ursprünglich für die Hochzeit festgestellte 
Termin war freilich noch nicht angebrochen, aber da kamen die 
Boxer ins Land, und ihnen kann es das Mädchen verdanken, daß 
es so schnell einen Mann bekommen. Als man nämlich glaubte, 
die Waisenhäuser würden sich nicht mehr halten können, wurden 
die bereits zur Ehe versprochenen Mädchen den betreffenden Familien 
zugeschickt, während man die kleineren bei guten Christen unter- 
brachte. Deshalb wurde denn auch Ngo ihrem Manne ohne Sang 
und Klang angetraut und lebt seitdem mit ihm in friedlicher Ehe. 
Bekanntlich ist bei den Chinesen das zur Mutter gehen für die 
jungen Frauen, besonders während der ersten Ehejahre, von großer 
Bedeutung (Vergl. U. S. 50). Unsere Waisenmädchen aber, die 
keine Mutter mehr haben, und denen der Missionar Vater- und Mutter- 
stelle vertreten muß, fühlen sich immer glücklich, wenn sie bei 
Gelegenheit ihre „Heimat", d. i. das „Haus der Barmherzigkeit" 
(Gin-t'se4'ang), einmal wieder besuchen können. Der Missionar 
hat dann auch Gelegenheit, ihnen von neuem zuzureden und heil- 
same Ermahnungen mitzugeben auf den Weg. Auch erkundigt 
er sich bei dieser Gelegenheit über die Familienverhältnisse, ob die 
Verwandten alle christlich sind, ob sie ihre Christenpflichten getreu 
erfüllen und dergleichen. 

Ngo ist voll des Lobes über ihre Schwiegereltern. Der Haus- 
vater, mit Namen Kui-tsch'o-tschnng, ist mir übrigens von jeher 
als guter Christ bekannt. Auf etwas eigentümliche Art allerdings 
wurde er zur Wahrheit geführt. Er hatte als Heide schon manches 

23* 



vi»n der christlichen Religion gebort, aber nie etwas Gute«. Des- 
halb hatte er den festen EnNchluli gefallt, «lieber .teuflischen Lehre* 
den <iaraus /u maehen. I in das aber zu können, in u Ute er sie 
etwa- naher kennen lernen. Kr verschaffte sich einige christliche 
Kücher; er wollte der Such* 1 auf den (irund gehen, um dann mit 
um *o größerem Erfolge da* .Blödsinnige und Ungereimte" der 
europäischen Religion an den Pranger zu stellen. Nebenbei bestellte 
er auch einige Spione, die in der Stille da- Treiben der .auslän- 
dischen Teufel" (Missionare) beobachten muliten. Je eingehender 
er sich nun in den Inhalt der christlichen Bücher vertiefte, um so 
mehr >ch wanden seine Bedenken. Kr suchte nach Oründen gegen 
die chri>tliche Lehre, und dabei leuchtete das Glaubenslicht immer 
hell« 1 !* in seine Seele und verbreitete dort allmählich Licht und 
Wärme. Auch die ausgesandten Spione hatten gar nichts Verdäch- 
tige?» bei den Europäern entdeckt : die gegen sie ausgestreuten 
(ierüehte muliten doch wohl haltlos sein. Allmählich reifte in Kui- 
t-ehVtschung der Entschluß, er wolle selber hingehen und den 
Missionar aufsuchen, um «ich von ihm belehren zu lassen. Gedacht, 
getan. Es kostete dem Missionar wenig Mühe, den Mann für die 
„Religion des Himmelsherrn - (fien-t^hn-tjao) zu gewinnen, da sein 
Streben ein redliches war. Aus dem Saulus war ein Paulus ge- 
worden, und auch sein Eifer glich dem eines Apostels. Seine zahl- 
reiche Familie inulite einfach samt und sunders christlich werden. 
.Ich bin der Hausvater und euer Oberhaupt; ich habe mich Ton 
der Wahrheit der christlichen Lehre überzeugt; ihr müßt mir glau- 
ben, da ich mehr Verstand habe al< ihr." Bei den meisten hatte 
er leichtes Spiel, einige hingegen zeigten sich halsstarrig. Mit Ge- 
walt gegen >ie vorgehen wollte er natürlich auch nicht, aber er 
versäumte keine Gelegenheit, um mit Erfolg auf sie einzuwirken. 
Als er eines Abends mit einigen heidnischen Verwandten zusammen- 
sali und man über dieses und jene> plauderte und das Pfeifchen 
dabei rauchte, war unserm Kui-tsehVtschung eben das Feuer aus- 
gegangen. Diensteifrig reichte ihm >ein heidnischer Vetter Feuer 
hin. damit er sich wieder das Pfeifchen anzünde. «Fort damit", 
sagte Kui-tsch'o-tschung. «ich gebrauche kein .heidnisches Feuer.* 
Diese Worte machten den Vetter ein wenig verdutzt; aber sie 
zeigten ihm auch, wie ernst es sein Onkel mit der christlichen 
Lehre nehme. 

Wenn der Priester bei der Familie weilt und Mission hält, oder 
sonst Sonn- oder Festtag bei ihr feiert, müssen alle Erwachsenen 
die hl. Sakramente empfangen. Sollte es dem einen oder andern 



— 357 — 

einfallen, sich davon zu dispensieren, dann wird der Hausvater mit 
allem Nachdruck und Ernst gegen ihn einschreiten. So auch eines 
Tages, als der älteste Sohn wegen einer kleinen Unpäßlichkeit nicht 
zur Beichte gegangen war. Als sich am Abend die Familie zum ge- 
meinschaftlichen Gebete in der Kapelle versammelte, trat Kui-tsch'o- 
tschung vor die Knieenden hin und erklärte: „Wer heute nicht 
gebeichtet hat, muß draußen knien. In der Kirche sollen nur reine 
Seelen beten, die sich mit dem lieben Gott ausgesöhnt haben. u 

Für den Missionar ist es immer ein Vergnügen, bei den guten 
Leuten zu weilen. Er hat seine helle Freude daran, wenn beim 
gemeinschaftlichen Gebete die Kinderstinunen so klar erklingen wie 
Edelmetall. Einer von den Kleinen hat zur größten Freude des Groß- 
vaters den Entschluß gefaßt, Priester zu werden, und weilt seit eini- 
gen Jahren im Knabenseminar zu Yenfu ; sein Name ist Thomas Kur. 

Kui-tsch'o-tschung erfüllt übrigens nicht nur seine Christen- 
pflichten, sondern ist auch in der Umgegend von den Heiden ge- 
achtet. Obwohl seine Behausung einsam auf dem Felde liegt und 
es ein Leichtes wäre, ihn zu berauben oder zu drangsalieren, läßt 
man ihn doch in Ruhe. Ja selbst die Boxer haben ihn mit ihrem 
Besuche verschont, obschon sie in den benachbarten Christengemein- 
den fast alles zerstörten. „Das verdanke ich der lieben Gottes- 
mutter", sagt Kui-tsch'o-tschung; „denn ihrem Schutze habe ich Hab 
und Gut, mich und die Meinigen anbefohlen/ 



Ein bejahrtes Ehepaar. 

IJeder Chinese betrachtet es als seine Hauptlebensaufgabe, zu 




-. heiraten, um bei seinem Abschiede aus dieser Welt einige 
t j\ Nachkommen zu hinterlassen, die für ihn die Totenopfer 
KÜk entrichten können, wenn er ins Jenseits hinübergegangen ist. 
Die „arme Seele müßte ja sonst verschmachten und elendiglich zu 
Grunde gehen", wenn kein dankbarer Sohn sich ihrer annähme und 
ihr nicht alljährlich das Notwendige auf dem Grabhügel verabreichte. 
Freilich ist sie mit papierenen Kleidern zufrieden, wenn dieselben 
auf der Grabstätte verbrannt werden, und der Geruch der Speisen, 
die dort aufgestellt werden, sättigt die geistige Nase für lange Zeit. 
Unter der Schar unserer Waisenkinder befindet sich ein kleiner 
Knirps, Sio-u, geheißen. Sein Vater wird Wang-pang-tji genannt und 
stammt aus dem Dorfe der Königsfamilie (Wang=König; Tja=Familie). 



— 358 — 



Er war zeitlebens ein armer Schlucker gewesen und lebte von dem 
Fleiße seiner Hände, die ihm aber nicht mehr einbrachten, als er 
iiir seine eigene Person gebrauchte. Dem Gedanken, seinem Lebens- 
ziele zu genügen, d. h. sich eine Gefährtin zu nehmen, mußte er 
immer wieder entsagen, mochte derselbe auch noch so oft und bis- 

weileu mit ganz ele- 
mentarer Gewalt in 
seiner Seele aufstei- 
gen. Das tat dem Al- 
ten sehr wehe, denn 
er sah sich mit jedem 
Tage älter werden, 
und da er zeitlebens 
auf seine Gewissens- 
stimrae gehört, stets 
getan was er als billig 
und recht erkannte, 
schmerzte es ihn un- 
gemein, diesmal tau- 
be Ohren haben zu 
müssen. 

Schon oft hatte er 
die Pusa, die Göttin 
der Frauen, ange- 
fleht, ihm für den 
Rest seiner Tage 
doch auch eine Ge- 
fährtin zuführen zu 
wollen. Er sei ja ihr 
treuer Verehrer ge- 
wesen seit vielen Jah- 
ren, und falls sie ihm 
auch einen Sprossen 
schenken wolle, solle 
derselbe dem besonderen Dienste der Göttin geweiht sein. Pusa schien 
endlich das Flehen des Armen erhört zu haben, denn bald erschien der 
Heiratsvermittler und trug ihm eine vollends annehmbare Partie an. 
Es handelte sich um ein bejahrtes Fräulein, das auch im Strudel 
der weltlichen Sorgen alt geworden — sie hatte bisheran immer bei 
reichen Leuten als Magd gedient — nun aber mit jedem Tage mehr 
zur Einsicht kam, daß sie auf der Welt noch eine andere Aufgabe 




Sio-U: der kleine Fünfte. 



— 359 — 

zu erfüllen habe, nämlich einen Mann zu heiraten. Sie hätte das 
ja schon längst getan, aber man ließ sie unbeachtet, und sich den 
Leuten selber anbieten, war gegen die gute Sitte. Nunmehr aber 
konnte sie dem inneren Drange nicht länger widerstehen; fest ent- 
schlossen suchte sie den Ehevermittler auf, damit er sie an einen 
Mann brächte, und sie konnte ihre Bitte mit um so mehr Zuversicht 
vortragen, da sie nicht mit leeren Händen kam. üem Anwalte wurden 
zunächst „die Häide geschmiert"; für ihren künftigen Gatten aber 
stellte sie ein nettes Sümmchen in Aussicht, daß ein „standesgemäßes" 
Fortkommen zusicherte. 

Wer war glücklicher als Wang-pang-tji, als ihm ein derartiger 
Antrag gemacht wurde. Gleich hätte er zur Pagode eilen mögen, 
um der gütigen Göttin Pusa den verdienten Dank abzustatten ; doch 
die Pagode war etwas zu weit entfernt. Bedenkzeit brauchte er 
nicht: im Gegenteile wünschte er die Sache so bald wie möglich 
erledigt zu sehen. Man weiß ja nicht, was alles passieren kann, 
wenn einer in so vorgerücktem Alter steht, und wie schrecklich wäre 
es doch, dem ersehnten Lebensziele so nahe gerückt, dasselbe wieder 
aus den Augen und dem erhofften Besitze zu verlieren. Kurz und 
gut: Wang-pa;ig-tji gab sofort sein Jawort, und am dritten Tage fand 
sich das glückliche Paar zusammen. Freilich war es nur eine gemietete 
Hütte, worin man wohnte und die Flitterwochen verbrachte: wozu 
hätte man auch noch ein eigenes Haus gebraucht in so vorgerücktem 
Alter! Doch die Hauptsache, der Segen der Ehe blieb nicht aus: 
die glücklichen Gatten wurden durch die Ankunft eines kleinen 
Weltbürgers erfreut, der das edle Geschlecht der Könige (Wang) 
weiter verbreiten sollte. Und als der Reigen einmal eröffnet war, 
schlössen sich an den Kleinen noch zwei Brüderlein; alle drei waren 
prächtige Buben, denen man durchaus nicht ansah, daß sie so 
bejahrte Eltern hatten. 

Das Nesthäkchen nun ist unser Sio-u, und vielleicht hätte auch 
er noch kleinere Brüderchen bekommen, wenn die Mutter nicht 
„zu früh" gestorben wäre. Wang-pan-tji betrauerte freilich den Tod 
seiner „alten Hälfte" (Lao-j/öl) wie es sich gebührte, im übrigen 
aber hatte er sich bald in sein Schicksal ergeben. Die drei kleinen 
Brotesser machten ihm mit jedem Tage mehr Sorgen, da die Mit- 
gift seiner Frau längst verzehrt war. Zum Betteln war er zu alt, 
die Buben aber zu jung. Ohne Zweifel wäre die ganze Königs- 
familie elendiglich umgekommen, hätte sie die Vorsehung nicht nach 
Puoly geführt. Von allem entblößt, kaum mit den notdürftigsten 
Lumpen bedeckt, langten sie dort an. Der Alte war so baufällig, 



— 300 — 

daß ihn die Beine kaum mehr zu tragen vermochten, und seine 
Ohren waren derart taub, daß er das Geschrei der Kleinen nicht 
einmal hörte. Die armen Würmchen sahen zum Erbarmen aus; 
Hunger und Elend waren nicht spurlos an ihnen vorübergegangen. 
Der Kleinste und sein bejahrter Papa weilen noch in Puoly: ersterer 
bei den Waisenkindern, letzterer im Greisenasyl. Die Spuren des 
Elendes sind ausgewachsen, wie die pausbackigen Wangen des Sio-u 
bezeugen, und auch der Alte kann noch wohl einige Jahre leben. 
Er verrichtet kleinere Handarbeiten und ist vergnügt und glücklich ; 
jetzt nicht mehr so sehr, weil er seine „ Lebensaufgabe u erfüllt, als 
weil er den Himmelsweg gefunden und der Hoffnung lebt, nach dem 
Tode ewig glücklich zu werden. Er ist nun zur Einsicht gelangt, 
daß es des Menschen Hauptzweck auf dieser Welt nicht ist, zu 
heiraten und Nachkommen zu hinterlassen, sondern Gott zu kennen 
und ihm zu dienen, und so die eigene Seele zu retten. 



Ein gutes Wort. 

VjljJ^> in gutes Wort findet guten Ort, sagt man, und das gilt 
^■öPi ^ er S anzen Welt, auch in China. Ein gutes Wort 

SJsaiii ^ w ' e e ' n Samenkorn, das nicht selten auch auf steinig- 
!#5S?!f^**! tem Bo^en Wurzeln faßt. Freilich vergehen oft Jahre, 
ehe sich Früchte zeigen und sich offenbart, daß das gute Wort 
nicht umsonst gesprochen. — 

Vor mehr als zwölf Jahren, da ich mich in der Christenge- 
meinde Tjin-tja-tschuang aufhielt, kam eines Tages eine Neuchristin 
zu mir. Die Frau war erst vor kurzem getauft, aber sie war eine 
überzeugunsvolle, gute Christin geworden. An der Hand führte 
sie einen neunjährigen Knaben und sie hatte ihre liebe Last, den 
kleinen Knirps mit in das Zimmer zu bringen. Immer versuchte 
er wieder davon zu laufen, und es bedurfte vieler guten Worte, ehe 
sich der Kleine beruhigte. Seine Augen waren unverwandt auf 
mich gerichtet, und die Angst, welche aus denselben sprach, zeigte 
mir zur Genüge, daß er vor dem Europäer einen heillosen Respekt 
hatte. Den können ihm nur andere beigebracht haben, dachte ich, 
tat aber, als ob ich den Jungen gar nicht sehe und sprach nur mit 
der Christin. „Dieses ist mein kleiner Enkel", sagte sie; „bei ihm 
zu Hause ist noch alles heidnisch, und selbst meine Tochter will 
nichts vom Christentum wissen. Der Kleine ist bei mir auf Besuch, 



— 361 — 

und da er hörte, ich gehe zum Priester, wollte er mit. Aber je 
näher wir hierher kamen, um so größer wurde seine Angst; am 
liebsten wäre er wieder davongeeilt." — »Wie heißt du denn?" 
redete ich das Bürschlein an. — „Sio tsch'uen", antwortete er. Und 
da habe ich denn recht viel mit ihm geplaudert, und je mehr ich 
mich mit ihm einließ, um so zutraulicher wurde er. Als ich schließ- 
lich seine kleinen Händchen mit einigen Früchten lullte, und die 
Christin fortgehen wollte, meinte er, sie möge doch noch etwas 
beim Priester bleiben, da sei es gar so schön. — 

Zwölf Jahre sind seitdem verflossen. Als ich später in einen 
anderen Bezirk kam, habe ich mich nie mehr des kleinen Burschen 
erinnert. Vor einigen Tagen aber, als ich eben in Tsining weilte, 
kam ein junger Mann zu mir und begrüßte mich mit der Frage, 
ob ich ihn noch wohl kenne. Die Augen, dachte ich mir, hast du 
schon gesehen, aber ich wußte nicht mehr wann und wo. „Ich bin 
der Sio-tsch'uen", sagte er. „Ich hörte so eben, der geistliche Vater 
Lu (mein chinesischer Name) sei gekommen, und da bin ich gleich 
hierher geeilt, den geistlichen Vater zu sehen und ihm zu danken ; 
ist es doch sein Verdienst, das ich Christ geworden bin." Dann 
erzählte er mir, wie die Eindrücke, die er bei seinem Besuche mit 
seiner Großmutter bei mir bekommen, niemals aus seinem Gedächt- 
nisse entschwunden seien. Seine Eltern hätten es durchaus nicht 
erlauben wollen, daß er Christ werde. Er habe viele Jahre die 
heidnische Schule besuchen und natürlich die heidnischen Gebräuche 
alle mitmachen müssen. Eines Tages aber, als er mit seinen Mit- 
schülern bei Tische gegessen, und jeder seine Mahlzeit genommen 
hätte, sei ein Mitschüler, da er noch den Bissen im Munde gehabt, 
zusammengebrochen und eines plötzlichen Todes gestorben. Das 
habe ihn sehr ergriffen und sogleich habe er sich wieder der Worte 
erinnert, die ich damals bei seinem Besuche zu ihm gesprochen, 
daß man nur als Christ seine Seele retten, und in den Himmel 
kommen könne. Sofort habe er dann den Entschluß gefaßt, Christ 
zu werden, koste es, was es wolle. — Er ist seinem Entschlüsse 
treu geblieben, und Christ geworden, und wie ich später von seinem 
Missionare hörte, ein sehr eifriger. — Ein gutes Wort, findet einen 
guten Ort, zumal in einer Einderseele. 



Cs^fljp/Ö 



362 — 



Puoly von einst. 




jjas ich in Folgendem erzähle ist mir von unseren Christen- 
veteranen mitgeteilt, die natürlich das meiste nur vom 
Hörensagen ihrer Altvordern wissen. Danach soll das 
Christentum der Gemeinde Puoly aus der Zeit des Kai- 
sers Khan-hi (1662 — 1723) herstammen. Ein Kaufmann von hier, 
namens Ly } war Geschäfte halber nach Peking gereist. Dort fand 
er europäische Glaubensboten, die am kaiserlichen Hofe großes An- 
sehen genossen, und deren Anhänger nach vielen Tausenden zählten. 
Er ließ sich dann auch in den christlichen Glaubenswahrheiten 
unterrichten, begehrte die Taufe und kehrte als Jünger Jesu in 
seine noch heidnische Familie zurück. Natürlich suchte er auch 
diese für die Wahrheit zu gewinnen, was ihn mit Hülfe von mit- 
gebrachten Büchern auch bald gelang. Bei den Nachbarn aber fand 
die neue Lehre wenig Sympathie und Anklang. Zumal nahmen 
die Sing-l'schang-di l ) dem Christentume gegenüber eine abwehrende 
Stellung ein. Als einstmals ein Heide vom Tschang - Clane eine 
Christin zur Frau nahm, waren auch deren Bitten und Tränen nicht 
im stände, ihn auf den rechten Weg zu bringen. Die Kinder aber 
wurden getauft und christlich erzogen. Als es mit der Mutter zum 
Sterben ging, hatte sie nur die eine Bitte: „Begrabt mich abseits 
von meinem Manne, denn da er als Heide gestorben ist, mag ich 
nach dem Tode nicht neben ihm ruhen. Ihr aber haltet wacker 
zum lieben Gott; befolgt gewissenhaft eure Christenpflichten, dann 
wird des Allerhöchsten Segen bei euch sein." Die Kinder taten 
getreulich, wie ihnen die Mutter anbefohlen, und noch heute sieht 
man die Gräber der beiden Eiteren weit auseinander liegen. Sonst 
ist es Sitte, daß Vater und Mutter unter einem Grabhügel zu- 
sammen ruhn. Das Christentum aber verblieb seit dieser Zeit auch 
bei der Familie Tschang. 

Der erste Missionar, welcher noch in der Erinnerung fortlebt, 
soll Mei x ) geheißen haben. An seinen Namen knüpft sich eine 
wunderbare Geschichte, von deren Glaubwürdigkeit die Christen 
fest überzeugt sind. Im Bezirke T'ai-ngan, in der Christengemeinde 
Wang-tschuan, sollte eine neue Kirche gebaut werden. Das Dorf 
liegt inmitten der Berge ; es fehlt somit nicht an den nötigen Steinen 



1 ) Puoly besteht hauptsächlich aus zwei verschiedenen Namensvettern. 
Die eine Hälfte des Dorfes nennt sich Ly, die andere Tschang. 

2 ) Die Chinesen kennen nur den chinesischen Namen von europäischen 
Missionaren. 



— 363 — 

zum Bauen, aber die größte Schwierigkeit besteht im Herbeischaffen 
derselben. Zudem waren die Christen in damaliger Zeit sehr arm. 
Gerne wollten sie mit ihren Kräften helfen, aber es fehlte oft an 
dem nötigen Essen, um dieselben zu erneuern. Als nun eines Tages 
P. Mei behufs einer Missionsreise von Puoly nach Wang-tschuan 
zurückkehrte, kam ihm unterwegs ein Maultier entgegen, ohne 
Zaum und Sattelzeug. Geduldig ließ es das Tier zu, als P. Mei 
ihm sein Zingulum um den Hals legte. Auch seinen Reisesack 
mußte es tragen, und oben auf denselben setzte sich der Missionar. 
Als er bei seinen Christen anlangte, betrachtete jedermann verwundert 
den prächtigen Maulesel, und es blieb ein Rätsel, woher der arme 
Pater nur so viel Geld bekommen, sich in den Besitz eines solchen 
„Staatstieres 4 zu setzen. Aber die Verwunderung der Leute stieg 
noch höher, als P. Mei erklärte, der Esel brauche weder Futter 
nochWasser; auch dürfe man ihn den ganzen Tag zum Steintragen 
benutzen ohne zu ruhen. Niemand aber solle sich getrauen das 
Halfter zu wechseln. Als nach einigen Wochen der Gürtel, womit 
das Tier geführt wurde, ungefähr verschlissen war, dachte man, ein 
lederner Halfter ist doch viel fester, und ohne sich mehr an das 
Verbot des Paters zu erinnern, wurde das Zingulum gelöst. Im 
nämlichen Augenblicke sprang der Maulesel davon und er blieb 
verschwunden. Zum Glück waren bereits so viele Steine zusam- 
mengebracht, daß man mit dem Baue der Kirche beginnen konnte. 
Zur Zeit des Kaisers Kien-lung nahm ein reicher Heide, Na- 
mens Mung, das Christentum an. Derselbe wohnte eine halbe Stunde 
von Puoly entfernt im Dorfe Mung-tschuan und war früher Anhänger 
einer Sekte gewesen. Die wunderbaren Lehren der christlichen 
Religion gefielen ihm ungemein, aber den Sinn derselben scheint 
er wenig verstanden zu haben. Als großer, angesehener Mann wollte 
er auch für die Verbreitung des Christentums wirken und fing zu- 
nächst bei seinen Pächtern damit an. Aber auch diese müssen wohl 
recht keine Lust gehabt haben, die Religion ihres Herrn anzunehmen. 
Um sie zu überzeugen, nahm er zum „ Wunderwirken u seine Zuflucht. 
„Damit ihr seht, daß die Christen nicht umsonst beten, und welche 
Kraft das Gebet hat, bitte ich einen Toten herbeizuschaffen; wir 
wollen ihn dann innerhalb eines Tages zum Leben zurückbeten. u 
Da gerade kein Toter aufzubringen war, nahm ein Pächter kurz 
entschlossen einen Strick zur Hand und knüpfte damit seine Frau 
auf. Wahrscheinlich wollte er sie gerne los sein, und die Gelegen- 
heit schien ihm günstig entweder ein Wunder zu sehn oder gut 
Rebbes zu machen. Die Tote wurde dann in eine Matte gewickelt, 



— 364 — 

auf eine Bahre gelegt, und nun begann das Beten. Man verharrte 
darin bis zum Abende des dritten Tages. Die Tote aber, anstatt 
lebendig zu werden, fing an Leichengeruch zu verbreiten. Der 
große Mann stand blamiert da, sein Pächter brachte den Fall so- 
fort beim Mandarin zur Anzeige. Jetzt begann das Prozessieren; 
dem Mung kostete das die Hälfte seines Vermögens, und mit Ver- 
lust seines Geldes verlor er auch seinen Glauben. Der Pächter 
wurde bei der Geschichte ein reicher Mann, und die Tote konnte 
dann mit vielem heidnischen Pomp begraben werden. Seit der Zeit 
ist das Christentum in Mung-tschuan erloschen; die Nachkommen 
de3 ehemaligen reichen Christen aber sind heutzutage arme Bettler. 

Gegen Ende der Regierung des Kaisers Kien-lung, als die 
katholische Religion arg bedrückt wurde, kamen aus entfernt lie- 
genden christlichen Gemeinden einige Familien nach Puoly gezogen, 
welche sich dort ansiedelten. Es sind die vom Clane Lei, Yü und 
Wang, Aus dier Zeit wird ein Pater Lu genannt, welcher mehrere 
Male vom Mandarine aus dem Lande verwiesen, dennoch immer 
wieder heimlich zurückkehrte. Der Gottesdienst wurde während 
der Nacht bei verschlossenen Türen gehalten. 

Obschon die katholische Religion von der Regierung verfolgt 
wurde, hatten die Christen von Puoly eigentlich doch wenig darunter 
zu leiden, weil sie von der heidnischen Nachbarschaft sehr gut gelitten 
waren. Das mag denn auch der Grund des Übersiedelns einiger 
Christenfamilien gewesen sein aus anderen Gegenden. Die Lage 
wurde eine andere, als in Puoly selber ein Heide namens Tschan» 
lung-pio als Feind gegen das Christentum auftrat. Dieser Unhold 
schien es sich zur Lebensaufgabe gestellt zu haben, das Christen- 
tum auszurotten. Zunächst verklagte er die Gemeindevorsteher als 
Anhänger einer falschen Sekte. Die Sache kam sogar bis zum 
Vizekönig nach Tsi-nan-fu, und eine Anzahl Christen wurden ein- 
gezogen und bestraft. Der erste Vorsteher aber, namens Tschang» 
hung-nien, verblieb im Gefängnisse und ist auch darin gestorben. 
Seine Leiche wurde nach Puoly herübertransportiert, aber an ein 
feierliches Begräbnis war nicht zu denken. Dieselbe wurde dann 
nacli chinesischer Sitte aufgebahrt; ebenso die seines Sohnes und 
Enkels, und man wartete mit dem Begraben auf bessere Zeiten. 
Nur höchst selten kam ein Missionar um den Christen Gelegen- 
heit zu geben, ihren religiösen Pflichten zu genügen. Einmal war 
in sieben Jahren kein Priester mehr da gewesen; ein anderes Mal 
hatte es vier Jahre gedauert. Man spricht noch viel von P. Tschog, 
der dann später in Korea den Martyrertod erlitten haben soll. Die 



— 365 — 

unruhigen Zeiten bewogen einen Christen, namens Ly nach Sio-lu-li 
auszuwandern wo er den Grund zu einer später recht blühenden 
Christengemeinde legte. Aus derselben entstammt ein Priester, der 
vor einigen Jahren in Puoly gestorben ist und auf dem hiesigen 
Friedhofe ruht. Die Gemeinde selber aber ist zur Zeit der Boxer 
fast ganz ruiniert worden. 

Später versuchte es der Christenfeind Tschan-lung-pio auch 
noch, in der Bezirkshauptstadt Jen/n, sowie in der Kreisstadt Yang-ku 
die Christen zu verklagen. Es ist aber wunderbar wie Gott die 
drohende Gefahr immer wieder ablenkte; entweder dadurch, daß 
die Christen einen guten Bekannten in den Tribunalen hatten oder 
dadurch, daß die Beamten ihnen persönlich gewogen waren. Einstmals 
wurden sogar drei Mandarine zur Untersuchung nach Puoly geschickt. 
Aber anstatt die Christen gefesselt fortzuführen, wie es deren Feind 
Tschan-lung-pio beabsichtigt hatte, wurde diesem dermaßen der 
Marsch geblasen, daß er später nicht mehr wagte, mit Klagen gegen 
die Christen hervorzutreten. 

Während der Regierung der Kaiser Tao-Jcuan, Hien-fung und 
Tung-tschi war es mit der Ausübung der christlichen Religion ziem- 
lich wohl bestellt, und die Christen konnten ungestört ihren Pflich- 
ten nachkommen. Alle ein oder zwei Jahre kam dann auch meistens 
ein Pater, die Mission abzuhalten, was gewöhnlich ein bis zwei Mo- 
nate dauerte. Es ist rührend, wie sich die Christen jetzt noch fast 
all der Namen von Priestern erinnern, welche sie je besucht haben. 
Einen Bischof aber hat Puoly während der vielen Jahre seines 
Christseins niemals gesehen. Als erster Bischof hielt Msgr. von 
Anzer seinen Einzug in die Gemeinde, und als es ans Firmen ging, 
stellten sich ihm alte Häupter von 70 — 80 Jahren. Damaliger 
Christenvorsteher war T&chan-schi-lung, dessen Frau als 90jährige 
Greisin jetzt noch lebt. Er war Urenkel des im Gefängnis verstor- 
benen Tschang-hung-nien, und ihm war es auch beschieden, seinen 
Urgroßvater, Großvater und Vater an einem Tage zu beerdigen. 
Daß muß eine imposante Feierlichkeit gewesen sein, denn die Leute 
wissen jetzt noch viel davon zu erzählen. 




— 366 — 

Puoly von jetzt. 

gllil^K'ln, lela," schreien die Buben und laufen zum Dorfe hinaus, 
■p ÄjMigj ^ Er ist gekommen, er ist gekommen ; schon sieht man den 
^MlEfk Wagen, darin muß er sitzen." Auf diese Botschaft hin 
ßtStÜriS macht sich alles auf die Beine und eilt an den Eingang 
des Dorfes. Unterdessen ist der Wagen herangefahren. Als der- 
selbe hält, wirft sich Alt und Jung auf die Kniee und bittet« Tfiu 
schenju tjanfu: „Priester segne uns." 

Ein magerer Herr in chinesischer Kleidung entsteigt dem 
Wagen; er segnet die Leute und geht dann zu Fuße mit ins Dorf. 
Dort wird er in die „Kirche" geführt. Ein stallartiger Raum ist 
es, worin gewöhnlich ein Esel sein Quartier hat. Daselbst wird 
dann das Begrüßungsgebet von allen Christen mit lauter Stimme 
gesprochen, und der Ankömmling führt sich mit wenigen Worten 
selber ein. Noch ist es nicht sehr viel, was er sagen kann, aber 
die Christen merken, daß es von Herzen kommt und auf aller 
Antlitz glänzt die Freude. „Ich bin der Ngan Schenfu", sagt er, 
„und ihr seid hinfür meine Schäflein. Ich werde mich bemühen, 
euch ein guter Hirt zu sein und hoffe daß ihr als folgsame Schäf- 
lein euch leiten und führen laßt." 

Auch wir kennen bereits den Ngan Schenfu, den „Friedens- 
priester." Er ist niemand anders als der hochselige Bischof v.. 
Anzer, der am 18. Januar 1882 als einfacher Missionar in Puoly 
seinen Einzug hielt. Seitdem sind 25 Jahre verflossen, und was 
in diesem Vierteljahrhundert alles in der Mission von Süd-Schantung 
geschaffen worden, davon wird anderswo ausführlicher berichtet wer- 
den. Wir wollen hier nur bei der Wiege der Mission stehen bleiben 
und Ausschau halten, auf die nächste Umgebung. 

Also der Esel wurde vorläufig auf die Straße gesetzt aber 
leider in etwas allzu großer Nähe des Missionars. So konnte es 
dieser silberklar vernehmen, wenn der Langohr sein Klagelied 
anstimmte über die Verbannung, und manche Stunde der Nacht 
mag ihm darob das Tier geraubt haben. Doch darf ein guter 
Missionar zum Nervössein keine Zeit haben, und wenn es nicht 
anders sein kann, muß er, wie es sein Meister getan, auch schlafen 
können, wenn der Wind heult und das Bett schaukelt. Zunächst 
gilt es, die Schäflein kennen lernen auf Aussehen und Namen, und 
auf ihr Können muß er sie prüfen in betreff der religiösen Wahr- 
heiten. Da war es aber bei manchen recht traurig bestellt. Graubärte 
hatten noch nie in ihrem Leben die hl. Communion empfangen 



— 367 — 

und zahnlose Weiblein desgleichen nicht. Mit Hülfe eines Katechisten 
ging es dann ans Belehren und Unterrichten und zum 2. Februar 
konnte bereits die Mission beginnen. Zu Schluß derselben zählte der 
Missionar die Häupter seiner Lieben; es waren 158 Christen, die Zahl 
der Heiden aber, die er bekehren sollte, betrug — zehn Millionen. 

So wurde denn das kleine Dörfchen Puoly, in der äußersten, 
nordwestlichen Ecke des Missionsbezirkes gelegen, zunächst Zentral- 
station des ganzen Vikariates und blieb es für gut ein Dutzend 
Jahre. Hierher kamen zunächst die neuen Missionare und erlernten 
die Sprache, hier versammelten sich alljährlich die auswärts missio- 
nierenden Patres zu gemeinschaftlichen Beratungen und den geistli- 
chen Übungen. Hier wurden die gemachten Erfahrungen ausgetauscht: 
jedermann war ja so zu sagen ein Neuling, und auch das Missionieren 
will erlernt werden. Es galt deshalb vor allem ein Heim zu schaffen, 
da die Christen ihre Räumlichkeiten selber nicht entbehren konnten. 
Ein geeigneter Platz war bald gefunden, und dann begann sofort 
das Bauen. Das geht aber, Gott sei dank, in China sehr schnell 
von statten; hat man's eilig, wachsen die Häuser in wenigen Tagen 
nur so aus dem Boden. Man gebraucht ja nur Lehm, Holz und 
Stroh, und die Herstellungskosten belaufen sich auch nicht hoch. 
Vor allein wurde dem göttlichen Heilande ein Haus gebaut, das 
als Kirche dienen sollte. Äußerlich nicht viel besser als der Esel- 
stall, aber doch geräumig; und durch buntes Tuch wurden die Lehm- 
wände etwas abgedeckt dort, wo der Altar stand. An die Kiiche 
schlössen sich die Wohnungen der Missionare, „armselige Lehmhütten, 
durch deren Dächer die Sommerregen wie Gießbäche hindurch- 
brachen. u Schon am Herz- Jesu Feste wurde das kleine Kapellchen 
eingesegnet und dem göttlichen Herzen Jesu geweiht. 

Und jetzt, nachdem man ein Obdach hatte, begann das Mis- 
sionieren, zunächst in nächster Umgebung, dann weiter im Bezirke. 
Auch wurden gleich im ersten Jahre die Anfänge von zwei Waisen- 
häusern gelegt, eins für Knaben, das andere für die Mädchen. Im 
ersten fanden elf Kinder die Aufnahme, im anderen vier. Nun, nach 
Verlauf von 25 Jahren zählt die Nummer aller Waisenkinder, welche 
hier aufgenommen, ernährt, und erzogen wurden, die stattliche Zahl 
von 919. Die meisten allerdings sind bereits in jungen Jahren in 
ein besseres Jenseits hinübergegangen. Eine ganze Reihe aber sind 
Familienväter oder -Mütter geworden, deren Sprossen schon ein an- 
sehnliches Völkchen bilden. Und darin sitzt echtes Christentum, 
wie man's auch nicht anders erwarten darf, Christentum von der 
Pike auf, zäh und ausdauernd und überzeugungsvoll, weil es in der 



— :wis - - 

Kindheit tiefe Wurzeln geschlagen. Ja sogar l'rictftert um*- Kandi- 
daten sind aus dem K nahen- Waisenhause hervorgegangen, von denen 
bereit* zwei als wackere Seelsorger im Dienste der Mission tätig 
sind. Das Mädchen-Waisenhaus aher hat als Mute mehrere Jung- 
frauen gezeitigt, die im Dienste (rotte* für die Scelenrettung ihre 
Arheit und Kräfte einsetzen. Die Lehmhütten von ehemals, welche 
die Anfange der Waisenanstalten bildeten, sind allerdings verschwun- 
den und nahen soliden Backsteinhauten Platz gemacht. 

Die Christianisierung in nächster Nahe wurde gleich anfangs 
eifrig hetriehen; aher da gilt auch das Sprichwort: «,Je naher bei 
Korn, um so lauer die Christen. 1 * Zwar legt sich ein Kranz von 
mehreren Gemeinden um die Zentrale l'uolv, aber die Zahl der 
Christen ist noch ziemlich heschränkt. Die Nummer im Taufbuche 
der Annexkirchen von l'uuly hat noch nicht das erste Tausend 
erreicht. Zu hemerken ist allerdings, dali nach Norden hin direkt 
die Franziskanermissiou ;mgrcuzt, zum hiesigen Vikariate gehöriges 
Gebiet also nur d.*ci Seiten umfallt. Zudem ist der Hezirk Yangku 
von jeher als „freigoistig- sehr verrufen. Die Bevölkerung hat nur 
für (leid und Gewinn Intere>se und bekümmert sich nicht ums Jen- 
seits. Daher giht es denn auch keine Sektenanhänger unter den 
hiesigen Heiden, und die Zahl der Pagoden ist sehr gering. Viele 
derselben liegen in Trümmern, ohne daß es jemand einfiele, die- 
Relhen wieder aufzuhauen. Man glauht nicht mehr an , Geister und 
Teufel" und huldigt dem Grundsätze, daß nach dem Tode alles 
aus ist. Begreiflicherweise ist solcher Boden für das Christentum 
äußerst ungünstig und unfruchtbar. Trotzdem ist im Bezirke Yangku 
ein eigener Missionar tätig und die Zahl der Bekenner des wahren 
Glaubens belauft sich mit Einschluß der Katechumenen auf nahezu 
11000, die sich auf 82 Gemeinden verteilen. 

Neben den Waisenhäusern wurde auch mit der Zeit ein 
Greisenasyl errichtet. Die Zahl der Altväter und -Mütter, dio dort 
Aufnahme gefunden, getauft wurden und einen ruhigen Lebens- 
abend vorlebt, beläuft sich auf ;U4. Die. meisten haben bereite 
«gehimmelt", was um so eher zu hoffen ist, da sie fast ausnahms- 
los mit den Sterbesakramenten versehen, in Gegenwart des Prie- 
sters ihre Seele aushauchten, l'nd das geht bei diesen alten Häuptern 
— um einen trivialen aber doch hier passenden Ausdruck zu gebrau- 
chen - so gemütlich, wie mun's sich nicht gemütlicher denken kann. 
Von Furcht oder Bangen zeigt sich keine Spur; sie sind des Him- 
mels und der ewigen Seligkeit so gewiß, als ob deren Erreichung 
eine selbstverständliche Sache sei. 



— 369 — 

Im dritten Missionsjahre wurden dann auch die Anfänge eines 
kleinen Priesterseminars gelegt, welches sich mit der Zeit derart 
entwickelte, daß es nach 13 Jahren, bei der Übersiedlung nach 
Tsining, nebst einer Reihe Gymnasial-Studenten bereits 7 Theologeu 
zählte, die nach einigen Jahren ausgoweiht wurden. Puoly selbst 
war Zeuge von zwei Priesterweihen. Die ersten Presbyter waren 
Studenten aus dem Franziskanergebiete, welche bereits dort eine 
Reihe von Jahren ihre Studien gemacht hatten. 




Knaben aus der Dorfschule von Puoly. 

Ein nie gesehenes Schauspiel war es dann für Puoly, als der 
„Ngan schenfu" am 31. Juli 1886 als Bischof hier seinen Einzug 
hielt. Die meisten Christen, zumal dio Frauen, hatten noch nio in 
ihrem Leben einen Bischof gesehen, und der jetzige war gar ein 
„alter Bekannter"; da war natürlich die Freude um so größer. 
Und mit den Christen von Puoly freuten sich die neugewonnenen 
Christen der Umgegend und des ganzen Missionsbczirkos, zum 
größten Teile Schäflein des seeloneifrigen Paters Freinadcraetz. 

Die Kathedrale war freilich nur „eine kleine Kapelle mit einem 
struppigen Strohdache und kahlen Ziegelsteinmauern, in deren 
Ritzen Skorpionen und Tausendfüßler nisteten u . Die Steine waren 
nur lose, ohne Mörtelvorbindung aufeinander gelegt. Man wollte 



K. Pieper, „Neue Bündel**. 



«4 



— 370 — 

sie gebrauchen für eine größere Kirche in europäischem Stile, 
welche dann auch bereits nach drei Jahren am Feste Maria Him- 
melfahrt eingesegnet werden konnte. Seit der Zeit hat dieselbe 
aber oftmalige Umwandlungen, Verstärkungen und Verbesserungen 
erfahren müssen. Da der Geldbeutel ein beständiges Sparen zur 
Pflicht machte, mußte denn auch beim Kirchenbauen gespart wer- 
den. Ein solches Sparen aber, wo es sich um Festigkeit handelt, 
wird oft recht verhängnisvoll. Noch jetzt sind im Innern der 
Mauern zur Erinnerung an jene „armseligen Zeiten" manche Lelmi- 
ziegcl verborgen, und sogar der Turm steht auf lehmernen Füßen. 
Durch An- und Überbauten sind diese Mängel indes in den letzten 
Jahren gehoben, so daß das Kirchlein jetzt von innen und außen 
einen überaus freundlichen Eindruck macht und bei vorsichtiger 
Behandlung wohl noch alt genug werden kann. 

Das „Palais" des Bischofs aus damaliger Zeit ist längst ver- 
schwunden. An Stelle desselben erhebt sich jetzt das Schwesternhaus 
und ein Teil des Mädchen Waisenhauses. Allerdings sieht dieses 
weit mehr palastartig aus als die ehemalige Wohnung des Bischofs; 
dann es ist ein zweistockiger Bau aus Ziegeln, während das damalige 
Bischofsgebäude aus Lehm zur ebenen Erde aufgeführt war. Manche 
schlaflose Nacht hat der Oberhirt an dieser Stelle vorlebt in Sorge 
und Arbeit zum Heile seiner Mission. Jetzt haben die „Dienerinnen 
des hl. Geistes" hier ein Heim gefunden, und das bedeutet wie- 
derum einen bedeutenden Schritt nach vorwärts in der Entwickl- 
ungsgeschichte Puolys und der Mission. Freilich können die guten 
Schwestern noch nicht auf Lorbeern ausruhen; denn sie sind erst 
ein Jahr hier; aber ihr Einfluß ist schon an vielen Ecken und Enden 
bemerkbar, sogar am Zopfende der kleinen Waisenmädchen, welche 
jetzt weit reinlicher und gesitteter erscheinen und einhergehen wie 
ehemals. Und auch der Einfluß auf die chinesischen Jungfrauen, 
wiewohl er bisheran ja nur hauptsächlich ein Einfluß des guten 
Beispiels ist, sticht sofort in die Augen. Was die Schwestern aber 
schon in der Krankenpflege geleistet, dafür zeugt ihr Ruf nach 
außen. Täglich sprechen zwei, drei Dutzend Kranke vor, und man 
chem armen Heidenkinde konnten sie bei dieser Gelegenheit die 
hl. Taufe spenden. 

Eine besondere Feierlichkeit erlebte Puoly als der Bischof durch 
Verleihung des roten Knopfes zur chinesischen Exzellenz gemacht 
wurde. Damit war der Oberhirto Großmandarin geworden; die 
Christen aber fühlten sich dadurch wohl noch mehr geehrt, alt 
der Bischof selber. Und auch die Heiden nahmen teil an der 



— 371 — 

allgemeinen Freude. Das Besuchen und Beglückwünschen wollte 
schier kein Ende nehmen; am Hauptfeste waren über 2000 Personen 
versammelt. 

Auch einen Vertreter der deutschen Regierung hat Puoly in 
seinen Lehmmauern gesehen in der Person des Freiherrn von 
Seckendorf, welcher auf der Reise nach Jentschoufu in Puoly vor- 
sprach. Aber mit der Eröffnung Jentschoufus war Puolys Geschick 
denn auch besiegelt. Länger als ein Dutzend Jahren war es, obwohl 
räumlich abseits gelegen, das Zentrum der Mission gewesen. Weit 
aus dem Osten kamen die Missionare ein- oder zweimal jährlich heran- 
gepilgert, ohne die Länge des Weges oder die Gefahren des uber- 
setzens über den gelben Fluß zu scheuen. Und der Herr hat Seine 
Diener stets treu beschützt. Nie ist jemand unterwegs ein nam- 
haftes Unglück zugestoßen; die Missionare aber verließen Puoly 
immer neugestärkt und mit frischem Mut, um auf ihren schweren 
Posten heimzukehren. Nachdem nun aber Jentschoufu, die Haupt- 
stadt der Mission, welche auch örtlich so ziemlich in Mitte derselben 
liegt, seine Tore dem Christentume geöffnet hatte, galt es für die 
Zentral- Verwaltung dorthin überzusiedeln, und damit verlor Puoly 
als geistiger Mittelpunkt seine Bedeutung. Bevor ein endgültiger 
Aufenthalt in Jentschoufu ermöglicht war, mußte zuvor Tsining in 
Aussicht genommen werden, und dorthin verlegte denn der Bischof 
im Jahre 1895 seine Residenz. Vorher aber war noch im alten 
Puoly die erste Diözesansynode und ein Provinzial-Kapitel, bei 
welcher Gelegenheit so ziemlich alle Missionare versammelt waren. 
Das war auch das letzte Mal, daß Puoly als geistiges Zentrum in 
die Erscheinung trat, und seitdem kommt wegen seiner unbequemen 
Lage nur mehr höchst selten ein Missionar hier zum Besuche vor- 
bei. Mit Ausnahme des Seminars hat es aber alle seine Anstalten 
behalten, und ist Sitz des Dekanates zum heiligen Erzengel Gabriel. 
Der Dekan, welchem zwei Rektorate unterstehen, hat für die Seel- 
sorge der Annexkirchen, der Gemeinde Puoly und der Residenz- 
bewohner noch einen chinesischen Priester als Koatjutor zur Seite. 
Die ziemlich ausgedehnte Ökonomie leitet ein europäischer Laien- 
bruder. 

Die Gemeinde Puoly ist in langsamer aber stetiger Zunahme 
begriffen. Das Taufbuch zeigt bereits die Nr. 750. Die größte 
Anzahl der Heiden läßt sich noch in der Todesstunde taufen, ein 
Zeichen, daß sie von der Wahrheit der christlichen Religion über- 
zeugt sind, aber vielfach bei Lebzeiten sich nicht in das Joch der 
christlichen Zucht zwängen wollen. In den letzten 2 — 3 Jahren 

24 # 



— 372 — 

wurden auch in Puolv für da** hiesige Dekanat die einmonatlichen 
Vorbereitungri-KurM» gehalten, zum Km pfände der heiligen Taufe 
und ersten heiligen Kommuiiiuii. Im Verlaufe von drei Jahren 
wurden über tausend Christen hier das ernte Mal an den Tisch 
de« Herrn geführt, und in eineinhalb Jahren erhielten über 600 
Katechumenen die heilige Taufe. 

Auch war es möglich in den letzten Jahren durch Verlegung 
eines Gemeindewcges für die Residenz einen großen, schönen Garten 
zu schaffen, in dem auch europaisches < )hst und Gemüse mit Erfolg 
angebaut wird. Durch ein Paternosterwerk wird derselbe aus einem 
nebenanliegenden großen Teiche bewässert, was bei der hier oft 
inonatelangen Trockenheit von besonderer Wichtigkeit ist. Mit 
Hülfe des Mandarinen und der umliegenden Dörfer konnte ein in 
der Nähe liegendes altes Flußbett ausgegraben werden, so daß 
Puolv seitdem auch nicht mehr unter der Wasser plage zu leiden 
hat, welche es in früheren Jahren oft zu eine** Insel machte. Die 
Residenz ist ein Viereck, mit einer sechseinhalb Meter hohen Mauer 
umgeben, an welcher sich größtenteils die inneren Gebäulichkeiten 
lehnen. Die Dächer derselben sind flach und fest verkalkt, so daß 
auf denselben ein ganzes Regiment Soldaten von oben herab auf 
die Feinde bombardieren könnte. Zudem befinden sich noch zwei 
Türme im Innern, einer in dem Knabenwaisenhause, der andere 
im Mädchenwaisenhause, welche zur Zeit der Gefahr den letzten 
Schutz gewähren würden. Die ganze nördliche Seite aber wird durch 
einen tiefen Graben, der mit Wasser angefüllt ist, gesell ützt. Ehe- 
mals lag das Residenzterrain sehr niedrig, so zwar, daß dasselbe bei 
Hochwasser völlig überschwemmt wurde. Um diesem Übelstande 
abzuhelfen, mußte der Boden um einige Fuß erhöht werden. Die 
dazu nötige Erde wurde aus dem Graben geholt, welcher nun als 
Fischteich und Residenzschutz doppelten Wert hat. Durch die er- 
höhte Lage aber hat sich der Gesundheitszustand der Residenz- 
bewohner bedeutend verbessert. Überdies ist jeder freie Platz mit 
Bäumen bepflanzt, welche als Schattenspender und Luftverbesserer 
in den heißen Sommermonaten willkommnc Dienste leisten. Inmitten 
des Ganzen liegt die Kirche, welche sowohl von den Bewohnern der 
Residenz, als auch von den Christen gleichzeitig benutzt wird, 
und dort wohnt unser Haupt, Schützer und Hort. Nur schade, 
daß sich die Kirche an Sonn- und Festtagen viel zu klein erweist. 

Direkt an den Garten schließt sich der Friedhof, auf dem bereits 
zwei europäische Missionare (P. Riehm und P. Lieven) und ein chine- 
sischer Priester zur ewigen Ruhe bestattet sind. Wenn zu Neujahr 



— 379 — 

die Heiden ihre Gräber besuchen und dort Papier verbrennen und 
Petarden abschießen, wird in einem niedlichen Kapellchen, das in der 
Mitte des Friedhofs steht, das heilige Meliopfer für die dort Ruhen- 
den dargebracht. An den Gräbern stehn Trauerweiden und Cy pressen; 
eben säuselt der Wind durch die dunklen Zweige, und wir wünschen 
Kequiescant in pace den Toten. Und auch jenem gilt unser Wunsch, 
der weit von hier im Schatten von St. Peter in Rom seine Ruhe- 
stätte gefunden, dem die Kinder Puolys am Feste Petri Stuhlfeier 
1882 entgegeneilten und riefen: lä la, hl la! 




Typen aus dem Waisenhaus in Puoly. 

Paulus U. 
I 

k.mlus II enstammt aus Tschang-tschuang in 7Yaw-Ai>w, einem 
-ö I Gebiete, wo seiner Zeit die Boxer besonders gewütet haben. 
_ k \ Schon damals, als Paulus noch ganz klein war und man ihn 
^ÄMifff liu-tschu nannte, übten die Anhänger der GroÜmessersekte 
fleißig bei Tage besonders aber während der Nacht. Die nächsten 
Verwandten des Kleinen waren auch zum Boxcrtum übergetreten, 
ohne aber eigentlich zu wissen, worum es sich handle. Der Vater 
starb, als der Junge erst einige Jahre alt war; or blieb also in 
Gewahrsam der Mutter; aber diese hatte ihre liebe Not, den nötigen 
Lebensunterhalt für sich und den Kleinen zu erbetteln. Es nahm 
ihn deshalb ein Onkel zu sich; aber auch dieser empfand das immer 
mehr als eine Last, und suchte sich seiner zu entledigen. Er hatte 
von der christlichen Religion gehört und es war ihm auch bekannt, 
daß der Missionar eitern- und hülflose Kinder ins Waisenhaus 
aufnehme, besonders wenn solche auf der Straße gefunden wurden. 
Eines Tages machte er sich in Bogleitung des Lin-t&chu auf, den 
Missionar zu suchen. Dieser ermahnte den Onkel er solle Christ 
werden ; den Knaben wolle er mit der Zeit, wenn eben möglich, 
ins Waisenhaus aufnehmen. Der Mann fand die Lohren der 
christlichen Religion vernünftig und hatte Wohlgefallen daran. 
Als er nach Hause zurückkehrte, erbat er sich einen Katechis- 
mus und andere Lehrbücher und versprach dem Missionar, 
bald wiederzukommen. Er und sein Nefle studierten dann fleißig 
Oebete und Katechismus, wobei aber der Kleine schnellere Fortschritte 
machte als sein Onkel. Letzterer übte sich gelegentlich auch noch 
im Boxen der Sektierer; aber es war, als ob ihn sein früheres Glück 



— S74 — 

verlassen habe. Ehedem galt er als clor beute Fechtbruder, der 
stärkst«» Schwerthieb prallte an seinem Korper üb, als sei er von 
Eisen. Jetzt wagt« 1 er es nicht mehr, die Streichübungen mitzu- 
machen, und als er einmal einem (Seuossen bei besagten Übungen 
einen Schwerthieb versetzte, drang er ins Fleisch hinein. Von dieser 
Zeit an war ihm der Zutritt iu die Zusammenkünfte der Sektierer 
untersagt; er selbst aber merkte immer mehr, daß Christentum und 
heidnisches Sektenwesen nicht zusammenpaßten ; deshalb wandte 
er sich von nun an mit ganzer Seele den Wahrheiten der christlichen 
Religion zu. Als er das nächste Mal wieder den Missionar besuchte, 
wunderte sich dieser, wie der Mann in so kurzer Zeit so große 
Fortschritte gemacht. Noch mehr aber setzte ihn der kleine Liu- 
tschu in Erstaunen, der unterdessen den ganzen Katechismus aus- 
wendig gelernt hatte, eine Leistung, die mancher andere in einem 
Jahre nicht fertig bringt. Auf wiederholtes Bitten entschloß sich 
dann endlich der Missionar, den Knaben als Waisenkind aufzu- 
nehmen und ihm ein Obdach zu verschaffen. Er fand dasselbe im 
Waisenhaus zu Puoly, wo er einige Jahre verweilte. Er ist unter- 
dessen getauft und verehrt den heiligen Paulus als Namenspatron. 
Auch hat er bereits die erste heilige Kommunion empfangen, im letz- 
ten Frühjahr aber wurde er gefirmt. 

Von jeher war der Knabe ein Muster von Fleiß, Gehorsam 
und Frömmigkeit; was aber Talent angeht, war er der Beste 
von allen. Oft und oft hatte er mich gebeten, ihn als Seminarist 
zuzulassen, denn er mochte so gerne Priester werden. Lange hatte 
ich ihn vergeblich bitten lassen auch mancherlei auf die Probe 
gestellt. Da mir der Junge aber wohl wirklich Beruf zu haben 
schien, habe ich endlich seinen Bitten nachgegeben und ihn in das 
Seminar von Jmfu geschickt. 

Der Onkel des Paulus ist gleichfalls ein braver Christ geworden, 
und als vor Jahren die Boxer gegen das Christentum wüteten, hätte 
nur wenig gefehlt, so wäre er von denselben niedergemacht worden. 
Weil er früher Mitglied der Sektierer gewesen, hatte man es besonders 
auf seinen Kopf abgesehen. Jetzt, da wieder friedliche Zeiten her- 
angebrochen, ist er eifrigst bestrebt, in seiner Heimat und besonders 
im Kreise seiner Freunde für das Christentum zu wirken, und seine 
Bemühungen sind nicht ohne Ei folg. 



— 375 — 
Ma-tsch'öng. 

Ma-tschöng ist das Geschenk eines alten Chinesengenerals 
Namens Liung, der uns vor Jahren hier mit seinem Besuche beehrte. 
Bei dieser Gelegenheit besichtigte der alte Herr recht eingehend 
das „Raus der Barmherzigkeit" (gin-tse-tang) , und die ganze Ein- 
richtung gefiel ihm sehr wohl. Noch mehr Gefallen aber fand er 
an den Kindern, die so lebensfroh dreinschauten, und denen man 
nicht mehr anmerken konnte, daß schon manches dem Tode ins 
Auge geschaut hatte. Herr Liung wollte aber sein Wohlwollen 
noch besonders dadurch bekunden, daß durch seine Vermittlung 
der Anstalt ein Geldgeschenk vermacht wurde. Zum Danke dafür 
mußte ich ihm aber einen kleinen Blinden aufnehmen, den er. in 
Ts'aufu von der Straße aufgehoben hatte. Gerne sagte ich zu, und 
als der General heimgekehrt war, brachte man den Kleinen auf 
dem Schiebkarren heran. Als Begleitung waren sogar einige Soldaten 
mitgegeben, welche dem Kinde noch einiges Geld zurückließen, 
damit es sich zeitweise etwas dafür kaufen könne. 

Ma-tsch'öng war anfangs ein rechter Schlingel, und wenn er 
noch lange auf der Straße geblieben, wäre er wohl schon längst 
gestorben oder aber geistig verdorben. Nunmehr ist er still und 
artig; auch wird er nicht mehr Ma-tsch'öng („Das gemachte Pferd") 
genannt, sondern er ist auf den Namen Stanislaus getauft worden. 

Kinder, die des Augenlichtes beraubt sind, in das Waisen- 
haus aufnehmen, bedeutet allerdings eine große Last für dieses, 
und es ist leichter, ein halbes Dutzend sehende Kinder in Ordnung 
zu halten als ein blindes. Auch ist die Erziehung bei blinden 
Kindern eine viel schwierigere. Diese sind in der Regel (wenigstens 
haben wir bei chinesischen die Erfahrung gemacht) sehr zu aller- 
hand Unarten geneigt; zudem ist es schwer, eine entsprechende 
Beschäftigung für sie zu finden. Ohne Aufsicht und Beschäftigung 
aber sinnen sie auf Unfug, um sich die Zeit zu vertreiben. Unsere 
blinden Knaben haben das Ketten von Rosenkränzen erlernt, und 
mit ihren feinfühligen Fingern bringen sie es zu einer großen 
Fertigkeit darin. Die blinden Mädchen aber verstehen es meister- 
haft, Baumwollengarn zu spinnen, worin sie nicht selten ihre sehen- 
den Genossinnen an Geschicklichkeit weit übertreffen. 

Joseph Wang-schung-chuen 

heißt der Alte, der den kleinen Blinden an der Hand führt. 
Der Alte ist zwar nicht blind aber doch ein armer Mann. Jetzt freilich 
ist für ihn gesorgt, denn er hat im Greisenasyl ein Unterkommen 



- :»?« - 



gefunden. Der Krnahrer »»einen Alters, »ein einziger Sohn wurde 
vmi einem f.in;iti-ch<Mi Meiden au- Hall gegen (lax Christentum 
er-rho— en. Mit Mörder hat allerdings seine verdiente Strafe gefun- 
den; Wih follti* aber der bejahrte Vater anfangen, da er «eine« Ernäh- 
ren beraubt 
war? Schon fleh 
mehr als sehn 
Jahren iat er 
Christ, und üb 
solcher ver- 
steht er auch, 
sein Geschick 
mit Geduld und 
Ergebung zu 
tragen. Über- 
haupt gehört 
er alrt Christ xu 
den heilten, und 
selbst als Hei- 
den hatte mal» 
ihn stets geach- 
tet. Obwohl er 
mehrere Stun- 
den von Puolj 
entfernt wohn- 
te, pilgerte er 
doch an den 
Samstagen ge- 
wöhnlich zur 
Kirche; kein 
hoher Festtag 
aber ging vor- 
über, ohne daß 
er gekommen 

Der kleine Ma-tsch'öng an der Hand eines Greises. unfl d |f heih ' 

^an Sakramen- 
te empfangen hätte. MattenHechtcr von (Jeschäft, brachte er in der 
Keg^l einige Matten mir. welche er verkaufte, um einen Zehrpfennig 
zu verdienen für die Zeit -seines Aufenthaltes in der Haupt Station. Da 
er nach dem Tode -eine* Sohnes lange obdaeli- und brotlos um- 
herirrte, habe ich mich -einer erbarmt und ihn als den ersten für 




— 377 — 

die von der Familie IL angelegte Greisenstiftung aufgenommen. 
Die Familie II. kann sich überzeugt halten, daß wohl keiner auf 
der Welt mehr für sie betet als der alte Joseph. Erstens hat er 
Zeit zum Beten, und zweitens, was die Hauptsache ist, er betet 




Waisenknaben aus Puoly. 



auch gerne. „Wenn der liebe Gott nicht müde wird, mich anzuhören," 
meinte er, „sollte ich da müde werden, zu ihm zu beten ? Dieser 
Zeit habe ich genug Unnützes geredet (la-chien-kua); jetzt ist es 
höchste Zeit, mit dem lieben Gott zu reden, da ich bald vor ihm 
erscheinen muß." 



- 37* — 
Bao-Ie 

:-t <]»-r Nun- «1»- Kl»-m»-n :»•« ht- \i#n d»-r Figur de* heilig» 
S -hut/»-rig»-l- : v»-rd»-ut-* lit h»-iljt di»-»*- Wi.rt -«» viel als »ich bringe 
Nachrphf. in-liört»- «1-r ki> :n- Mann n«M h zu d»-n Lebenden. «*> 
könnte »t mariih»rl»i iu- •••in»-m kurzen. ah*-r meisten» re*"ht trau- 
rigen L»-b*-ri erzählen. I>»-r Knab«- i-r .iU-r -M-hon vor einem Jahr* 
ge*t*#rb«n und — ich zweifle im-Lr daran in ein l^^re*. ewig** !>*- 
b»*ri ••in gegangen, denn in d ;••-•• m L*-b» -n hat »r nur wenige Jabf* 
•rr»-wiit. un<i da- wap-n mit Au-nahm» de- letzten reche Imme-. 
Kaum hatte er da- Li. -hl <l*-r W.-It erbli'kt. da -tarb «eine Mutier. 
I>i»-«»- .iU-r wir*- dem Kind*- «ehr notwendig gewesen, dena der 
V it*r k«»nnt»* e- nicht leid*-n un«i hart*- d**n •ähnlichsten Wunteh. 
daij #- bald -terben riiiVhte. Zwar fünhtete er «ich. 4elb*t Haad 
an da- I^-U-n -»-in»- Kinde- zu l*-g#-n. ab*-r je mehr der Kampf bm 
da- täglich»- i5n*r d*-n Yater I* -drängt»-, um *«■ öfter «prach er 
da.- Verlangen au*. die kl«- in»- Kröte, wi»- er da- Kind verächtlich 
nannte, möge -ich in die Knie \»rkri»-« h»-n. oft genug bekam der 
iriu»- Kl*-m*- d-n guizen T u: kaum etwa- Nahrung, und nicht die 
g*-ririg-te I'H-jfi- wurde ihm zu t*-il: aber trotzdem blieb er am 
Leben. 

I)i der V it»-r -i«-h bei firp-iu reji-h-n Manne al- Knecht ver- 
dingen wollte, -und ihm -»-i n Kind noch mehr im Wege, und die 
Yt-r »an fiten. denen »t daA.i*-lb*- anb^r. wollten '•» nicht zo »ich 
nehmen. I Jäher fable der Yut»-r den -nt-etzlicrien KnL-chlulS T da» 
Kind zu töten. Kr trug den armen Knaben hinau-. weit weg auf 
••in ein-ame« Feld. Hi»-r. w.. er -i«h allein und ungesehen glaubte, 
fiijt*- »r da- K»n*i m d».-n I>"inen un«i - hlu^ mit dem^elbea auf 
eine uii Wege -t»'hen<i- Wt-i#|e. I>a.- J,imm*rge-rhrf-i «eines Unglück- 
if.hen Kimie- rührte n«>h <-miuA <ii- Ihm <]•-• grau-ameD Vaters; 
er l»-gte *li- irme \V»--*-n neben «Jen Ha um un«l eilte davon. Der 
Kieme j iiumerte n>>-h Ln^e. iUt immer «oh wacher wurde seine 
Stimme, hi- -i»- endlich gmz rer-c umtut*-. 

Iler unnitürliche Yater jber find keine Kühe. Dan Jamioer- 
ge-/-hrej —ine- Kinde- tünt»- f'^rt in leinen «"ihren, und je weiter er 
-ich von ihm entfernte, de-to lauter vernahm er e s . 

Oft blieb er -tehen. und e- war ihm. al- zöge ihn eine unsicht- 
bare Mi«;ht zurück zur Fre vel-ütte: dinn aber Erhalt er «ich ?>elb*t, 
mrinte iich einen Feigling und lief immer weiter. Endlich aber 
konnte er e^ nicht mehr über -ich bringen, weiter zu laufen; er 
kehrte U'ii und *-M £ > r '»j r '••*cr «ehr a J - 7u**- f r- 



— 879 - 

Ungefähr eine Stunde nach der schrecklichen Tat kam der 
herzlose Vater wieder bei seinem halbtoten Kinde an. Als er das- 
selbe in so elendem Zustande ganz still und ruhig daliegen sah, 
wurde er von bitterer Reue erfaßt, und reichliche Tränen entströmten 
seinen Augen. Schnell barg er das arme Wesen in seinen Busen 
und eilte damit nach Hause. 

Als er nun den Knaben bei Licht betrachtete, sah er zu seinem 
Entsetzen, daß ein Fuß desselben zerbrochen war, und sich auch 
sonst mancherlei Blutspuren und Schrammen an seinem Körper 
befanden. In der Nähe wohnte eine christliche Jungfrau, die es 
verstand, verrenkte oder verstauchte Glieder wieder in Ordnung zu 
bringen. Zu dieser brachte der Vater das mißhandelte Kind. In 
wenigen Minuten hatte die Jungfrau das gebrochene Bein mit einem 
kunstgerechten Verbände versehen und erkundigte sich dann nach 
den Ursachen des Unglückes. Erst wußte der Vater vor Scham 
und Verlegenheit nicht, was er sagen sollte, dann schob er die 
Schuld auf die Großmutter und erklärte, diese habe das Kind so 
hergerichtet, weil ihr die Ernährung desselben unmöglich gewesen. 
Seine Frau, die Mutter des Kindes sei gestorben, er aber wolle 
bei einem Heiden in Dienst treten, und könne daher den Knaben 
unmöglich mitnehmen. 

Da erklärte sich die brave Jungfrau sofort bereit, den Knaben 
zu pflegen, und falls er nicht infolge der ausgestandenen Mißhand- 
lungen schon bald sterben würde, ihm später ein gutes Unterkommen 
zu verschaffen. 

Der liebe Gott belohnte die Bemühungen der edlen Christin; 
der Knabe erholte sich ziemlich gut, und das zerbrochene Bein war 
völlig wiederhergestellt, als seine Pflegerin ihn zu uns ins Waisen- 
haus brachte. Der Kleine hatte sich schnell in die neue Lebensweise 
eingewöhnt; er war brav, folgsam und zufrieden, aber eigentümlicher- 
weise machte er immer einen gesetzten, ernsten Eindruck, und nie- 
mals sah man ihn lachen. Die geistigen Fähigkeiten schienen sich 
ungewöhnlich früh in dem Knaben zu entwickeln. Beten war seine 
Lieblingsbeschäftigung, und oft sah man ihn allein vor einem Bilde 
knieen. Dieses Bild stellte den heiligen Joseph vor, wie er den 
Jesusknaben an der Hand führt. 

Als der Knabe eines Tages krank in seinem Bette lag, ver- 
klärte sich plötzlich sein Gesicht, und er lachte laut; es war das 
erste Mal, daß wir ihn fröhlich gesehen. 

„Vater, sieh doch," sprach er dann; „wie der kleine Jesus so 
freundlich tut und mir winkt, zu Ihm zu kommen. u 



— 380 — 

Wir glaubten anfangs, der Kleine phantasiere, doch war er ganz 
bei Sinnen und hatte auch kein Fieber. Ein anderes Mal sah ein 
chinesischer Lehrer, der die Kinder beaufsichtigte, wie der kleine 
Bao-le wiederum lachte und ungewöhnlich lebhaft tat. Unbemerkt 
schlich ersterer sich heran und konnte dann beobachten, wie der 
Kleine immerfort zu dem Bilde emporschaute und sich benahm, als 
ob er mit dem Jesukinde spiele. Auf die Frage, was er denn dort 
treibe, entgegnete Bao-le, daß er sich mit dem lieben, kleinen Jesus 
amüsiere. Bruder Ulrich war gleichfalls Zeuge dieses Vorganges. 

Der gute Junge wurde niemals mehr ganz gesund. Als er 
eines Tages wie gewöhnlich in seinem Bette lag und zu dem Bilde 
des Jesukindes hinaufsah, griff er fast plötzlich in die letzten Züge ; 
mit lächelnder Miene hauchte er seine reine Seele aus. Ich zweifle 
nicht daran, daß der göttliche Kinderfreund ihn sofort in den schönen 
Himmel aufgenommen hat. So unglücklich im Leben, so glücklich 
war er im Tode. 



Raphael Wang. 

Raphael Wang soll aus der Mongolei stammen, worauf auch 
wohl sein Milchname Ta-t&e (Tatar) zu deuten scheint. In seinem 
Selbstbewußtsein hat er sich zuerst als kleiner Bettelbub gefunden, 
wie er im Verein mit andern Bettlern, groß und klein, von Dorf 
zu Dorf, von Haus zu Haus durch die Lande zog, beschimpft von 
den Leuten, gebissen von den Hunden, hungernd und frierend, als 
Waise, von wenigen beachtet, von niemand geliebt. Das kann 
der Kleine jetzt noch so rührend erzählen, daß es einem ordentlich 
wehe tut, und man unwillkürlich mitempfindet. Einstmals hatte ihn 
ein Hund derart zugerichtet, daß er sich kaum mehr vom Boden 
zu erheben vermochte. Nachher fingen die Wunden zu eitern an, 
und da war es mit dem Betteln vorbei. Sicherlich wäre der arme 
Schelm drauf gegangen, und zwar bald, denn schon manche Tage 
hatte er nichts mehr zu essen bekommen, wenn nicht sein guter Engel 
wie zufällig einen Katechisten in die Pagode geführt hätte, in der 
das Kind in einer Ecke lag. Kaum mehr fähig zu sprechen, konnte 
der Katechist weiter nichts herausbringen, als daß es sich um ein 
eitern- obdach- und hülfloses Kind handle. Schnell gab er dem 
Missionar Nachricht, welcher allsogleich das arme Geschöpf holen 
ließ. Zu Ehren seines guten Engels, der ihm das zeitliche und 
ewige Leben gerettet, wurde er Raphael getauft. Es dauerte dann 
eine geraume Zeit, bis sich der Knabe unter dei sorgsamen Pflege 



— 381 — 



eines Christen wieder erholt hatte. Dana wurde er in das Waisen- 
haus nach Puoly geschickt, wo er sich nunmehr als flinker kerngesunder 
Junge überglücklich fühlt. Er zählt bereits 13 Jahre und wurde 
vor kurzem zur ersten heiligen Kommunion zugelassen. 



Bernhard Yan-saen. 

Der Kleine da guckt ganz verzückt zum Himmel auf, aber 
daß es mit seiner Andacht nicht weit her ist, bezeugen seine 
schalkhaften Augen. Übri- 
gens ist er auch nicht so 
schalkhaft, wie ihn die Mo- 
mentaufnahme erfaßt hat. Es 
schien ihm nur zu spaßig, 
daß er in die Höhe schauen 
sollte, da er doch lieber dem 
Photographen in den Kasten 
geschaut hätte. Der Photo- 
graph aber wollte es so ha- 
ben, damit das Gesicht des 
Bürschleins im Schatten des 
großen Hutes nicht allzu dun- 
kel ausfalle. 

Der Knirps heißt Yan-saen, 
d. h. der dritte, namens Yan. 
Er heißt der dritte, weil er 
über sich noch zwei Brüder 
hat und eine Schwester, „die 
aber nicht mitzählt". Die hat 
der Vater schon beizeiten ver- 
kauft, weil er sonst zu Hause 
nichts mehr hatte, woraus 
Geld zu schlagen war. Seine Heimat ist Tjü-je, der nämliche Bezirk, 
in dem die PP. Nies und Henle ermordet wurden. Obschon Yan-saen 
noch jung an Jahren ist, so hat er doch schon mancherlei mit 
durchgemacht : wenig Freudenreiches, des Schmerzlichen aber um so 
mehr. Er wurde als einjähriges Büblein vom Missionar aufgenom- 
men, und bei der Taufe erhielt er den Namen Bernhard. Ein 
mitleidiger Christ hatte ihn auf der Straße gefunden, mitten im 
kalten Winter, fast ohne alle Kleidung, ausgehungert und bald zu 
Tode erfroren. Was sollte der Missionar machen — er mußte den 




— 382 — 

Kleinen aufnehmen und schickte ihn dann für zwei Jahre in eine 
christliche Familie zum Ernähren. Seine Eltern waren nämlich tot; 
die zwei Brüder aber hatten sich auf den Weg gemacht zum Rau- 
ben und Stehlen und hatten das Brüderlein im Stich gelassen. Einige 
Zeit hatte ihn dann eine alte Bettlerin aus Barmherzigkeit auf ihren 
Gängen mitgenommen ; aber schließlich wurde auch sie des Kleinen 
müde und machte fortan ihre Gänge allein. 

Die Eltern waren eines unnatürlichen Todes gestorben. Den 
Vater hatte man mit einer Lanze mehrfach durchbohrt und 
dann in einen Brunnen geworfen. Er konnte seine Gläubiger nicht 
befriedigen, diese aber wollten keinen Aufschub mehr haben, und 
da sie ihm eines Tages auf einsamen Wegen begegneten, geschah 
das Schreckliche. Als die Dorfbewohner den Leichnam aus dem 
Brunnen gezogen, kam auch die unglückliche Frau herbeigelaufen. 
Sie wußte sofort, wer ihren Mann umgebracht und wollte zum Man- 
darin eilen, die Täter zu verklagen. Doch hielt man sie zurück; 
man wollte sich gütlich mit ihr abfinden und alle Forderungen 
gewähren. Es wurde sogar von den Gegnern eine Mahlzeit hergerich- 
tet, um den Zorn der Frau zu besänftigen. In den Wein aber, wel- 
cher mit aufgetischt war, hatten die Unholde Gift gemischt; die 
Frau trank davon, und nach einigen Tagen war auch sie eine Leiche. 

Als der kleine Bernhard sechs Jahre alt war, wurde er nach 
Puoly ins Waisenhaus geschickt. Für seine zehn Jahre ist er etwas 
klein geblieben, im übrigen aber hat er sich gut entwickelt und 
ist auch im großen und ganzen kein übler Junge. Er gehört mit 
zu den Sängern, und da er ein gutes Talent hat, studiert er auch 
die chinesischen Gelehrtenbücher. D.iß er als Bettelbüblein mal hat 
schreien müssen, um ein Stücklein Brot zu bekommen, scheint für 
die Entwicklung seiner Stimme von Vorteil gewesen zu sein. Jetzt 
erklingt seine Stimme oft und oft zum Lobe Gottes, und wenn er 
mit hilft das „Großer Gott wir loben Dich* zu singen, wünscht 
man nur, die guten Wohltäter in Europa möchten es hören, dann 
würden sie sich noch mehr der Gaben freuen, die ihre Liebe für 
unsere armen Waisen gespendet hat. 



Paulus Wang. 

Paulus Wang heißt mit seinem kleinen Namen „Hei-tu", was so 
viel als „schwarzer Kahlkopf u bedeutet. Jetzt allerdings hat er keinen 
kahlen Kopf mehr, trägt vielmehr einen ansehnlichen Zopf, aber ehe- 
mals war ihm das kleine Haupt geschoren, da er als Novize im Bonzen- 



— 383 — 

kloster weilte. Seine Mutter brachte ihn von Armut getrieben dorthin. 
Der Vater war nämlich schon längst gestorben, ohne auch nur ein 
Stückchen Land zum Bebauen oder etwas Geld zu hinterlassen. Er 
war bisheran Ernährer der Familie gewesen, und jetzt nach seinem 
Tode blieb nichts anders übrig, als sich auf den Bettel zu begeben. 
Zwei Schwesterchen des Paulus erlagen bald den Strapazen und 
noch mehr dem Hunger, der nie so recht gestillt wurde. Als 
nun auch noch die Mutter zu kränkeln anfing, fand sie keinen 
andern Ausweg, ihren Liebling zu retten, als selbigen einem Bon- 
zenkloster zu übergeben. Er sollte dort vorläufig Novizenschüler 
werden, und wenn er dann später Bonze geworden, sei für seinen 
Lebensunterhalt gesorgt. Paulus war damals erst acht Jahre alt, und 
das Leben in Gemeinschaft der Götzendiener behagte ihm keines- 
wegs. Während sie nämlich schliefen und faulenzten oder Tabak 
rauchten, wurde der Kleine aufs Feld geschickt, um Gras und Stop- 
peln zu sammeln als Feuerung für die Küche. Die Bonzen selber 
hatten keine weitere Beschäftigung, als Essen zu kochen; und am 1. 
und 15. jeden Monats schlugen sie auf eine Glocke und verbrannten 
etwas Räucherwerk zu Ehren des mächtigen Götzen, der auf einem 
Altäre in der Pagode thronte. Beten hat sie Paulus, wie er sagt, 
niemals gesehen. Zur Pagode gehörten verschiedene Besitzungen 
und Ländereien, die an umliegende Bewohner verpachtet waren ; 
von den Erträgnissen derselben lebten die Bonzen. 

Paulus hatte einen Bruder, der um fünfzehn Jahre älter war als 
er. Zur damaligen Zeit hatte die christliche Religion im Gebiete Ts'ao- 
hien soeben Eingang gefunden, und auch dem Bruder des Paulus 
war das Gerede davon zu Ohren gekommen. Er suchte deshalb 
einen Katcchistcn auf, ließ sich von ihm belehren und machte später 
auch dem Missionar seine Besuche. Die Wahrheiten des Glaubens 
gefielen dem jungen Manne, und er erklärte sich bereit zur Annahme 
derselben. Fleißig oblag er dem Studium der Gebete und Kate- 
chismen, und nach Verlauf eines Jahres hatte er sich soweit vor- 
bereitet, daß er getauft werden konnte. Nun beseelte ihn nur das 
eine Verlangen, seinen Bruder zu retten, d. h. ihn aus der Pagode 
und dem Götzendienst zu befreien. Da die Mutter unterdessen 
gestorben war, stand von ihrer Seite kein Hindernis im Wege. Er 
machte sich also zur Pagode auf, seinen Bruder zu besuchen, und 
da beide allein waren, wurde der Fluchtversuch besprochen und 
überlegt. Dem Hei-tu klang das wie eine Botschaft aus dem Himmel 
entgegen. Schon lange hatte er gewünscht entfliehen zu können, 
denn das Leben bei den Bonzen und der Götzendienst sagten ihm 



— W4 — 

durchaus nidu zu. Zur Flucht wurde also der nächste Tag in 
Auvicht genommen. |)it ältere Bruder nahm Abschied bis „zum 
Wiedersehen auf morgen". Als am andern Tage dir Bonzen eben 
beim Morgentee verhimmelt waren, entfernte sich der kleine Novize 
unter dem Vorwande, er inü».*e eben hinaus. Indessen mochten 
dir Bonzen wtihl .-eine Absicht zu entfliehen erraten haben, denn 
kaum war der Kleine hinausgegangen, folgte ihm ein älterer Bonze 
zu -eben, wo er bleibe, l'nd da gewahrt«* er dann, wie der un- 
treue Novize mi M-hnell er nur konnte «juerfehlein davon lief. Der 




Die Kleinsten im Waisenhaus zu Puoly. 

Bonze setzte ihm naeli: doch merkte er bald, dal) es vergebliche Mühe 
-«■!. de» ha^eiiM-hiii'llfülii^en Hüben einholen zu wollen. Unter Schim- 
pfen und Flin'heii kehrte er zum E^en zurück, da* jetzt niemandem 
mein- schmecken wollte, di-iin der junge Kh»ter-Kandidat war der 
Liebling aller gewesen und hatte dem Klo>ter schon mancherlei 
Dienste geleistet. Ihrer Verabredung zufolge trafen sich die zwei 
Brüder im nächsten Dorfe. «las ungefähr eine Stunde weit von der 
l'agoile entfernt liegt. Beide gingen dann, den Missionar aufzu- 
suchen. Doch hier konnte: und durfte sich der entlaufene Bonzen- 
novize nicht lange aufhalten: denn es war vorauszusehen, daß man ihm 
nachsetzen und ihn zur Rückkehr veranlassen würde. Der Missionar 
lieli aUo den Jungen zu einer entfernt liegenden Station gehen. 



— 385 — 

Dort wechselte er seine Bonzenkleider und besuchte fortan die 
christliche Schule. Da der Knabe sehr gut gesittet schien, und 
auch nicht übel talentiert war, willfahrte der Missionar endlich dem 
stetigen Drängen des älteren Bruders und nahm den gewesenen 
Bonzen-Novizen unter die Schar der Waisenkinder auf. Er war 
ja Waise im eigentlichen Sinne des Wortes, und nur die Not 
hatte ihn in die Pagode gebracht. Als er dann hier in Puoly 
ankam, hatte er schon wieder ein Zöpfchen, und jetzt merkt man 
rein nichts mehr davon, daß der Knirps ehedem Bonzenschüler 
gewesen. Er selbst hat es übrigens auch nicht gerne, wenn man 
davon spricht. Wenn ihn seine Kameraden mal necken wollen, nen- 
nen sie ihn Hei-tu den „schwarzen Kahlkopf". In der Taufe bekam 
er Sankt Paulus als Patron, zu dem er auch eine besonders innige 
Verehrung trägt. 



Rosa Wang. 

(Bild siehe S. 151.) 

Waren das traurige Tage der Not, als zur Boxerzeit Hirten 
und Schafe gemordet, verfolgt oder vertrieben, die Kapellen vielfach 
in Trümmer gelegt, und die Waisenhäuser, wo nur immer möglich, 
dem Pöbel zur Plünderung preisgegeben wurden. Die armen Wai- 
sen irrten obdachlos und schutzlos hierhin und dorthin. Mancher 
erbarmten sich mitleidige Verwandte, und sie nahmen die Kinder 
zu sich; die meisten aber hatten weder Verwandte noch Freunde 
und wurden eine Beute der Gottlosen. Als die Not bei uns in Puoly 
den Gipfelpunkt erreicht hatte, beschlossen wir, die Kinder beizeiten 
zu Verwandten oder sonst guten Leuten zu schicken, damit sie vor 
dem Verderben bewahrt blieben. Es kam denn auch der Vater 
eines Mädchens, Rosa Wang mit Namen, der seine Tochter mit 
nach Hause nehmen wollte. Wir waren dessen zufrieden, doch das 
Kind wollte nichfc Alles Zureden von unserer und des Vaters Seite 
war umsonst. Ihr Vater, sagte das Mädchen, sei ein Heide; nach 
Hause zurückgekehrt, müßte sie sicher wieder tun wie die Heiden. 
Das dürfe sie aber nicht, weil sie dadurch den lieben Gott beleidige. 
Wenn sie jetzt auch tot gemacht würde, so sei das nicht schlimm, 
dann käme sie in den Himmel. — Wir konnten und wollten 
natürlich das Kind nicht zwingen doch nach Hause zu gehen. Der 
Vater war erbost über den Freimut seiner Tochter, als weder Ver- 
sprechen noch Drohungen halfen, mußte er unverrichteter Sache 
heimkehren. 

iL Pieper, .Neue Bändel*. 9$ 



— 386 — 

Der Sturm hat ausgetobt, und der liebe Gott hat das Waisen- 
haus in Puoly gnädiglich beschützt. Die kleine Rosa aber braucht 
es nicht zu bereuen, daß sie den Versuchungen ihres Vaters so 
standhaft widerstanden hat. Uie Kleine, obwohl erst 13 Jahre alt, 
hat überhaupt in vieler Beziehung die Energie und das Benehmen 
einer Erwachsenen. Es scheint, als habe sie der liebe Gott zu etwas 
Besonderem berufen. Ihr Wunsch ist, Jungfrau zu bleiben, um, 
wie sie sagt, der lieben Gottesmutter in besonderer Weise nachzufol- 
gen und sich ihr zu weihen. 

Was die ersten Lebensjahre des Kindes angeht, so ist nicht 
viel darüber bekannt, da der Missionar, welcher sie aufgenommen, 
nicht mehr unter den Lebenden weilt. Es ist dieses P. Henle, 
seinerzeit von den Chinesen grausam ermordet. Bei seiner Aufnahme 
zählte das Kind sechs Jahre. Ihre Mutter hatte sie früh verloren. 
Deshalb mußte die Großmutter sich der Kleinen annehmen und für 
sie sorgen. Der Vater diente draußen als Taglöhner, erübrigte aber 
kaum so viel, als er für den eigenen Unterhalt nötig hatte. Als 
die Großmutter dann mit jedem Tage älter und gebrechlicher wurde, 
hätte sie sich am liebsten des Kindes entledigt. Wegwerfen konnte 
sie es jedoch nicht mehr, dafür war es zu groß, und das Wegschicken 
war umsonst, da die Kleine am Abend immer wieder bei der 
Großmutter anklopfte, wenn sie am Morgen entlassen war. Ein 
Christ, der das arme Geschöpf öfter umherirren sah, erkundigte sich 
nach ihrer Herkunft. Als er ihre traurigen Verhältnisse erfuhr, 
ermahnte er die Großmutter, sie solle Christin werden. Sic müsse 
ja bald sterben; als Christin würde sie aber nach dem Tode dort 
oben gut ankommen. Er wolle dann auch bei dem Missionar Für- 
bitte einlegen für ihre kleine Enkelin, damit sie ins Waisenhaus 
aufgenommen würde. — Die alte Frau ist Christin geworden und 
bald nach der Taufe gestorben. Als sie tot war, blieb dem Missio- 
nar nichts anderes übrig, als sich der Kleinen zu erbarmen. Ihr 
Vater war schon seit längerer Zeit verschwunden, auch war kein 
Verwandter zu finden, der für die arme Waise Sorge getragen 
hätte. Später ist der Vater wieder heimgekehrt. Als er hörte, seine 
Tochter sei im Waisenhause, war er damit sehr zufrieden. Christ 
aber will er, wie gesagt, nicht werden; indessen dürften ihm die 
vielen Gebete des Kindes mit der Zeit die Gnade der Bekehrung 
wohl erflehen. 



— 387 — 
01-chian. 

Ol-chian ist der Name jenes hübschen Mädchens, 1 ) dem man 
kaum mehr ansieht, daß es schon dem Tode ins Auge geschaut 
hat. Allerdings sind seit der Zeit schon einige Jahre verflossen. 
Damals, als das Kind seine Mutter verlor, zählte es erst drei Wo- 
chen, jetzt aber hat es ein Alter von 12 Jahren. Sein Yater war 
ein Räuber und nur höchst selten zu Hause. Nur wenn er einen 
guten Fang gemacht, brachte er etwas davon seiner Frau und den 
Kindern, das meiste aber behielt er für sich, und verpraßte es in Gesell- 
schaft seiner Spießgesellen. Allmählich aber kam der Mandarin den 
Unholden auf die Spur; aber sie einzufangen war keine Kleinigkeit. 
Es dauerte eine geraume Zeit, ehe man ihrer habhaft wurde, und zwei 
Soldaten verloren im Kampfe mit den Räubern das Leben. Diesen 
selbst wurde nun auch der Prozeß gemacht und zwar ein recht 
kurzer. Das Henkerschwert beförderte sie samt und sonders ins 
Jenseits hinüber, und sie starben mit dem Versprechen, bald wie- 
der zu kommen, „um ihr Handwerk von neuem zu beginnen und 
sich zu rächen". Nach dem Tode ihrer Mutter war die kleine Ol-chian 
bei ihren Verwandten untergebracht. Da der Vater zeitweilig 
etwas von seinem Geraubten herüberbrachte, ließ sich die Verwandte 
die Mühen, welche ihr das Mädchen verursachte, nicht verdrießen; 
als der Räuber aber geköpft war, wurde das Kind einfach auf die 
Straße getrieben. Zum Betteln war es noch viel zu klein, aber 
selbst seine Tränen konnten die grausame Nährmutter nicht bewegen, 
sich des armen Geschöpfes zu erbarmen. Als sie das beständige 
Weinen der Waise überdrüssig geworden, führte sie dieselbe zum 
Dorfe hinaus, indem sie dem Kinde vorlog, den Vater aufsuchen 
zu wollen. Als sie sich jedoch weit genug im Felde glaubte, 
und von allem Seiten kein menschliches Wesen zu entdecken war, 
nahm die Grausame einen Faden und umwand damit die beiden 
Füße des Kindes; doch damit noch nicht zufrieden, band sie 
auch noch die Händlein desselben fest zusammen und ließ das un- 
glückliche Geschöpf so gefesselt im Felde liegen. Sie selber machte 
sich eilends davon, und bald hörte sie denn auch das Wimmern des 
Kindes nicht mehr. 

Hätte die Vorsehung nicht über dasselbe gewacht, und einen 
rettenden Engel geschickt, dann würde bald seine letzte Stunde 
geschlagen haben. Der rettende Engel war zunächst ein Reitersmann. 
Sein sonst so getreues Pferd wurde mit einem Male störrisch, 



'} Bild siehe umstehend. 

2ö # 



und er mullte absteigen, um es um Zügel zu führen. Das Tier 
war bald wieder besänftigt, und der Rcitersmann sah Mich noch einem 
Knihügel um, um bequemer wieder auf sein h och be pack ren Tier 
steigen xu können. Ahseit*, nicht sehr weit vom Wege, war ein 
kleiner Wall aufgeworfen, dorthin führte er Hein Roll. Eben wollte 
er aufsteigen, als das Pferd von neuem zu schnaufen begann und 
die Ohren spitzte. Kr merkte auf und horte dann in der Nähe 
das Wimmern eines Kindes. Ks war die < Median, und der Reiten- 
mann war ein Katechist, der eben unterwegs war, den Miftfiionar 
aufzusuchen. Kr selber stieg jetzt nicht mehr auf» Tier, sondern 
packte das zum Tode ermattete Kind darauf, nach dem er 68 von 
den Fesseln freigemacht. 

Der Missionar suchte für das Mädchen eine christliche Nähr- 
mutter, unter deren sorgsamer Pflege es sich bald wieder erholte. Im 
Alter von fünf .Jahren wurde es dann in unser Waisenhaus geschickt, 
und dort ist die Kleine glücklich und zufrieden. Aber auch der 
Missionar ist mit ihr zufrieden, denn sie ist (»in braves und folgsames 
Mädchen. Hoffentlich hat sie keine der l-ntugenden ihres Va- 
ters geerbt, sondern schlägt auf ihre Mutter, die eine ordentliche 
Person gewesen sein soll. Dieselbe sei gerne aus dem Leben ge- 
schieden, weil ihr Mann ein Häuber geworden. 



* •««* € «»— 



Tagebuch und Gedankenschnitzel 
auf apostolischen Reisen. 

10. Januar 1905. Viele Zweige. Vieh» Bäume machen einen 
Wald. Wälder haben die Chinesen nicht, und darum gilt bei ihnen 
das Sprichwort: r Viele Zweige machen einen Baum*'. Geht man 
den Weg von Tnnytuvlftnifn nach TxhutnjH, so sieht man das Sprich- 
wort bewahrheitet. Fast alle Bäume den Weg entlang haben flieh 
aus der Vereinigung vieler Zweige gebildet. Besonders ist dietses 
bei den Weidenhäumen der Fall. Stehen einige junge Sprossen 
beisammen, so werden dieselben umeinander geschlungen, und in 
wenigen Jahren sind sie miteinander verwachsen. Da« Ver- 
fahren geschieht hauptsächlich wohl nach dem Prinzip: Einig- 
keit macht stark. Die einzelne Rute ist der Gefahr ausgesetzt, 
von den Fuhrleuten, die des Weges ziehen, abgerissen zu werden. 
Um das zu verhindern, soll sich die Rute schnell zu einem Baume 
entwickeln, der dem Zerstörungstriebe leichter Widerstand leistet. 



- äsd — 

11. Januar. Bisklotz: Selbstling. Der Eisklotz hält »ein 
Wasser fest zusammen, und ein Klumpen Metall laßt sich nicht in 
eine Form hingen. Beide Dinge dienen nur sich selhor und glei- 
chen den Leuten, deren Sinnen und Trachten nur auf die eigene 
Person konzentriert ist, deren Fühlen und Denken in dem lieben 
Ich aufgeht, deren Reichtum und Können, deren Wissenschaften 
und Fähigkeiten nur dazu dienen, um der eigenen Person einen 
Nimbus um das ehrwürdige Haupt zu legen. Soll der Eisklotz sein 
Wasser spenden, damit er sich erhebe zu den Regionen der Wolken 
und von diesen fortgetragen werde, um als befruchtender Regen 
niederzufallen auf die dürstendo Saat: müssen ihn zuvor die Strah- 
len der Sonne treffen, er muß seine Härte und Kälte verlieren. 
Soll das vereiste Herz des Selbstlings auch für andere schlagen : 
muß zuvor die Gnadensonne der gottlichen Liebe hineinscheinen. 
Und noch weit größere Hitze ist erforderlich den starren Eisenblock 
geschmeidig und flüssig zu machen und ihn in eine Form zu zwin- 
gen; ja selbst der kleinste Nagel muß erst gehämmert werden, um ihn 
tauglich zu machen für den Gebrauch im Leben. Soll der Selbstling 
zu einem nützlichen Gliede der Menschenfamilie umgeschmiedet 
werden, bedarf es vieler Ha mm erschlage; wer sie ihm gibt, tut ein 
gutes Werk und verrichtet Handlangerdienste für den lieben Herrgott. 

12. Januar. Amerikanische Missionare. Katholische Glau- 
bensboten brachten das Christentum nach Amerika, und heutzutage 
sendet Amerika protestantische Missionare nach dem Reiche der 
Mitte, um die heidnischen Chinesen zu bekehren, während die Katho- 
liken Amerikas auf dem Gebiete der Glaubensverbreitung vielfach 
nur den müßigen Zuschauer machen. 

13. Januar. Kleinigkeiten. Es ist wirklich wunderbar, durch 
welche Kleinigkeiten sich der arme Mensch gar allzuleicht seine 
Laune vergällen läßt. Entfällt seinem Schnauzer ein Haar, dann 
schmerzt ihn das vielleicht tief in der Seele, zumal wenn es ein recht 
langes war, und die Zahl der Mundbeschatter eine beschränkte 
ist. Er kennt sie ja fast alle mit Namen, und fehlt ihm eines der 
Lieben, ist es für heute aus mit seiner guten Laune. Die verehrten 
Damen tragen ihren Firlefanz nicht unter der Nase, sondern an den 
Kleidern, und auch sie können ganz untröstlich tun, wenn da etwas 
fehlt oder nicht in Ordnung ist. Dann gibt es einen ganzen Tag 
Regenwetter, auch donnerts noch wohl dazu, und der Blitz schlägt 
ein auf den ahnungslosen Sofaköter oder die bedauernswerte Küchen- 
magd, weil sie den Kaffee eine Minute zu spät serviert. 



— 3Ö0 — 
IR. Januar. Tji süo: Schnee erflehen. Not lehrt Beten. 

Du* NpnVhwort ist wahr, da oh der menschlichen Natur entspricht, 
*<> *ay<m\ «Uli auch clor Heide, der den wahren Gott nicht kennt, zur 
ZiMl dor N^t ku don falHchen Götzen seine Zuflucht nimmt 7)7 fr 
p*rrt fVf> f^?i % sagt ein chinesisches Sprüchwort: „Zur Zeit der Xot 
MmliltMtttuohM du Buddhas Füße". Aber auch bezeichnend für die 
^hwwu*oho Handlungsweise ist der zweite Teil des Sprichwortes chien 
>s^f ** xvAttt» ehUmy: „Zur Zeit des Wohlergehens wird kein Weih- 
wwh xwhritiitit. 11 

tWan orinnorte ich gestern einen befreundeten Mandarin, der 
\nnh oiwor * Wallfahrt," die er zur Erflehung des Schnees unternom- 
wvw % ttirttokgnkehrt, bei mir vorsprach. Er meinte, das habe doch 
\s\\A\\ ftatiK seine Richtigkeit, denn es werde in der Regel zum Danke 
'Vhoalor gespielt, wenn der erflehte Regen oder Schnee gefallen sei. 
\\A\ frug ihn dann, ob das Theater gespielt werde zur Belustigung 
dor UftUnu oder der Leute. Da wurde der Mandarin um die Ant- 
wort etwas verlegen und er meinte, Götzen und Menschen hätten 
alUunml ihre Freude am Theaterspiel. 

16. Januar. Ein harter Tod. Wie wird es der armen Seele 
dnroinstons schwer fallen, sich aus der massiven Behausung des 
Kttrpors emporzuschwingen in den lichten Aether der Gottesnähe. 
Wer schon im Leben durch beständige Abtötung und Arbeiten im 
Dienste Gottes die Körperfeste mehr zu einer Ruine verwandelt hat, 
dessen Seele wird dann leicht Abschied nehmen, und die Trennung 
geht ohne vielen Kampf, in frohem zuversichtlichen und hoffnungs- 
vollen Entgegenharren. 

Schnee. In dieser Nacht ist starker Schnee gefallen. In- 
folgedessen wird das Fahren beschwerlich, und die gezackten Räder 
kreischen durch die bedeckten Wege. Sitzt man im Wagen, so hat 
man das Gefühl, als ob das Räderwerk eines Maschinenbetriebes 
an das Ohr dränge. 

Mitten im Felde liegt ein Begräbnisplatz. Das weille Schnee- 
tuch, über die Grabhügel ausgebreitet, mahnt an die Toten, die dort 
ruhen. Düster und einsam hält eine Reihe Cypressen Grabeswacht. 
Im Winter ist der Baum vollständig in Schwarz gokleidet und hebt 
sich deshalb von der weißen Schneehülle um so entschiedener ab. 
Wenn dann ein Windeshauch durch die Zweige wimmert, klingt 
es wie ferne Geisterstimmen. 

25. Januar. Armut und Neujahr. Die Krankheit ist das 
Fehlen der Gesundheit, wie die Armut das Fehlen des irdischen 



— 391 — 

Besitztums bedeutet. Somit ist auch die Armut eine Art Krankheit 
und wird nicht minder schmerzlich empfunden als das Nichtvorhan- 
densein des leiblichen Wohlbefindens. Heute ist das Nationalfest 
der Chinesen, der 1. im 1. Monate, ein Freuden- und Friedenstag 
im ganzen Reiche. Und dennoch sah, ich wie zwei Arme draußen 
einsam auf dem Felde Brennmaterial sammelten, wozu sie nur die 
äußerste Not hat treiben können, denn zu Neujahr will selbst 
der Bettler feiern. 

27. Januar. Neujahrsvisiten. Niemals im Jahre sind die 
Wege derart belebt, wie um Neujahr. Verwandte und Freunde 
suchen sich gegenseitig auf, beglückwünschen sich und tauschen 
Geschenke aus. Wer daheim einen Karren hat, spannt solchen an, 
wer selber über keinen verfügt, nimmt sich einen zur Leihe. Einen 
recht behäbigen Eindruck machen diese plumpen Bauerngefährte, 
von einigen Matten überdacht, unter welchen sich die Besucher ver- 
krochen halten. Das Gespann bilden in der Regel einige Ochsen, 
die es ebensowenig eilig haben wie die Wageninsassen. Der Chinese 
schwärmt mehr für die Sicherheit, denn für die Eile und huldigt 
dem Grundsatze „Eile mit Weile". Will man etwas als besonders 
zuverlässig bezeichnen, so sagt man: „lao t'et'e zuo niu tsch'ü uin- 
tantichin": Die Matrone auf dem Ochsenwagen ist vor jedem Unfall 
sicher. Selbstverständlich hat man sich für solche Besuche aufs 
beste aufgeputzt. Junge Frauen und Mädchen tragen die ganze 
Farbenskala an ihren Kleidern, und in den Haaren blüht ein künst- 
licher Frühling. 

Eben sah ich einen Mistsammlcr ein paar Blumen, die sicher 
irgend einer Schönen entfallen waren, auflesen und an seinem Mist- 
korbe befestigen. Darüber wird sich sicher mancher geärgert ha- 
ben; die Blumen aber schmücken gerade so gerne einen stinkigen 
Korb als das hohle Haupt einer aufgeblasenen Evastochter mit 
Ziegenfüßen. 

14. Februar. Kindermund. Es war eine alte Überlieferung 
in unserem elterlichen Heim, daß der Jüngste am 1. in jedem 
Monate die 15 Nummern der Rosenkranzbruderschaft in die ver- 
schiedenen Familien tragen mußte, welche Mitglieder derselben waren. 
Ich als der jüngste einer langen Reihe von Brüdern hatte dieses 
Aemtchen viele Jahre inne, und es war eine meiner liebsten Be- 
schäftigungen von Haus zu Haus die Runde zu machen und den 
Leuten die Nummer zu überreichen. Die meiste Angst hatte ich 
vor einer Schar Gänse auf einem Bauernhofe, aber ein Fräulein 



— 392 — 

daselbst füllte die Taschen voll mit Aepfeln und Nüssen, und dafür 
ging ich den Gänsen gerne aus dem Wege. In einem anderen 
Hause beklagte sich regelmäßig die Bäuerin, wenn ich ihr Nummer 
eins brachte, denn dann mußte sie mehr beten als die anderen. Sol- 
ches Räsonieren kam mir widerlich vor, und es schien mir der Mühe 
nicht wert, einiger Vaterunser halber viele Worte zu machen. 
„So laßt euch doch aus der Bruderschaft streichen, wenn euch das 
Beten zu viel ist*, sagte ich einstmals der Bäuerin, und seitdem 
beklagte sie sich nie mehr. 

„80 laßt doch das Christwerden bleiben, wenn euch das Beten 
zu viel ist", sagte dieser Tage ein zwölfjähriger Bube zu seinem 
Onkel, der gerne getauft werden wollte, aber am Beten keine Freude 
hatte. Wie ihm dann der kleine Neffe erklärte, was es eigentlich 
mit dorn Beten auf sich habe, sah man fortan den Onkel immer 
unter den ersten in der Kirche, und er konnte bald getauft werden. 
So kann auch ein Kindermund schon mit ein paar Worten predigen, 
und gerade auf alte Herzen wirken solche Predigten nicht selten 
am nachhaltigsten. 

4. März. Wasser und Eis. Welche Gegensätze bilden 
Eis und Wasser zu einander, und doch ist es das nämliche Material. 
Das Wasser kann den Tod bringen, sowohl im heißen Zustande, 
als auch zu Eis gefroren. Wie viele Geheimnisse umschließt nicht 
dieses Element und leistet dem Menschen so vielerlei Frohndienste 
wie sonst wohl kein Ding in der Natur. Ja selbst im geistigen 
Leben bildet das Wasser die Brücke zum Eintritt in die Kirche 
und erschließt den Gnadenstrom der aus den andern Sakramenten 
quillt. Es will mir scheinen, daß der Mensch die Geheimnisse des 
Wassers auch vielfach in seinem Leben zum Ausdruck bringt. 
Bald ist er lau, bald frostig, bald geistig erstarrt, bis er endlich 
im Sonnenstrahle der göttlichen Liebe wieder auftaut, erwärmt 
wird, ja vielleicht aufkocht und die Expansionskraft des Wassers 
in werktätiger Liebe durch Werke des Seeleneifers zum Ausdruck 
bringt. 

5. März. Papiersammler. In China gibt es keine Lum- 
pensammler, denn die Lumpen gebraucht jedermann selber um 
daraus Schuhsohlen zu machen. Die einzelnen Stückchen werden 
in Mehlbrei getaucht, glatt gestrichen und dann zu einem Viereck 
neben- und aufeinander gelegt. Mehrere solche Stücke mit Bind- 
faden durchstochen bilden dann eine Sohle; solche Sohlen sind so 



— 393 — 

lange haltbar als der Schuh im Trockenen ist. Überrascht den 
Wanderer aber unterwegs ein Regen, dann läßt er meistens seine 
Schuhe im Schlamme stecken und geht barfuß nach Hause. 

Aber Papiersammler gibt es in China, besonders in größeren 
Städten. Es sind das gewöhnlich gemietete Leute, die sich täglich 
200 Eäsch verdienen wollen. Pietätvolle Anhänger des Konfuzius 
dingen dieselben, damit sie alle Straßen und Wege ablaufen, um 
etwa einen Papierstreifen zu finden, auf dem sich Schriftzeichen 
befinden. Denn eine Verunehrung: desselben, würde eine Verun- 
ehrung des „heiligen Mannes" bedeuten. Ist ein Häufchen Papier 
zusammengebracht, wird es zu Asche verbrannt, und diese muß dann 
der Wind in hohe Regionen tragen, oder das Wasser eines Flusses 
hinab in das weite Meer. 

17. März. Herbstgedanken. Je mehr sich der Schnee des 
Alters auf das Haupt legt, um so kälter und einsamer wird es um 
uns. Die Gefährten der Jugend sind größtenteils von der Bild- 
fläche verschwunden, andere hat Zeit und Ferne uns entfremdet. 
Das eigene Feuer des begeisterungfähigen Lebensfrühlings hat 
bedeutend abgenommen. Wir sind dadurch uns selbst und anderen 
kälter geworden. Die Stille der Nacht umfängt uns mit Todesge- 
danken, und herbstliche Stimmung durchzieht oft unser Gemüt. Die 
ausgelassenen Jungendfreuden sind uns zuwider, aber auch in der 
Einsamkeit fühlen wir uns nicht recht behaglich. 

12. April. Abrüstungsreform. Die Völker zum Frieden 
ermahnen, daß sie abrüsten, Waffen und Kanonen ins Museum stellen, 
oder Pflugscharen daraus machen, — ist vergebliche Liebesmüh. 
Zum Frieden hatten schon damals die Engel auf Bethlehems 
Fluren die Menschheit ermahnt; aber jene, die darauf hörten, waren 
fromme Hirten, von Natur aus friedliche Leute.' Der Menschenstrom 
aber floß weiter fort, schäumend, brausend und verheerend wenn 
sich ihm Hindernisse in den Weg legten. Es wollten die Menschen 
nichts wissen von Kindesnatur ; sie dünkten sich groß und mächtig 
und fuhren fort, zu hadern und sich gegenseitig zu bekriegen. 
Aber damals war es noch die Muskel im Arme, welche den Sieger 
machte: die persönliche Tapferkeit, Mut, Kraft und Ausdauer. 
Wie ist es doch seitdem so ganz anders geworden. Seitdem sich 
der Mensch die Kräfte der Natur dienstbar gemacht, die ihn tragen, 
für ihn arbeiten, mit denen er sich hinwegzaubert über die Schran- 
ken der Zeit und Entfernung, hat er auch ebendiese Kräfte 
in den Dienst der Menschenschlächterei gestellt. Diese wird im 

H. Pieper, „Neue Bänder, 26 



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grollen betrieben, wenn »ich Ki*ii-In* feindlich gegenüberstehen, wenn 
dir K;mom*n brüllen, dir Maschinengewehre knattern. Dann wird der 
arme Soldat eben />< r Masrhhir zu Tode gebracht ; und jener, denken 
Kanonen und tiewehre am besten funktioniert haben, ist gemeiniglich 
Sieger geworden, da. das waren andere Zeiten, alt* sich Mann gegen 
Manu gcgenüheistand, und die persönliche Tapferkeit und die per- 

HÖnlirlie Kraft ausschlaggehend war im Kampfe 

Man lasse den Völkern den Kampf; denn so lange die Erb- 
sünde im Meimchenlierzen wuchert, geht es nicht ohne ihn; aber 
man verhanne vom Kriegsschauplätze das Pulver und die Flinte 
und die Kanonen und gehe dem Krieger eine Keule in die Hand 
oder einen Sperr: >o eine Kampfesweise erzeugte Manneamut und 
echte Kämpfer und eisparte der Menschheit Tausende von Millionen, 
welche die Kanonenkönige in die Tauchen stecken. — Dan wäre «icher 
eine vernünftige Ahrü>tung*ref<»rm, der Menschheit zur Stutze und 
auch wohl <fnf<h führlm r. Mit einigen hundert der tausend Millionen 
könnte man die soziale Krage im eigenen Lande zu lösen suchen, mit 
den andern hundert Millionen aher helfe man, den Völkern im 
I leidenlande den wahren Frieden zu bringen, indem man die Missio- 
nen unterstütze. 

15. April. Christentum. Das Heidentum ist der Kiene, der 
in der Waflenrüstung des Teufels dem kleinen David, dein Christen- 
turne, gegenühersteht. l'nd dennoch: weder prahlerischer Hochmut 
und I'an/er, noch Schwert und Schild werden im stände sein, den 
<ioliath zum Siege zu führen. David kommt im Namen des Herrn, 
und darum wird auch er dereinstens den Kiesen zu Boden strecken 
und ihm da> stolz« 1 Haupt mit seinen eigenen Waffen abschlagen. — 
Darum verzage nicht du kleine Schar, der Herr, der Allmäch- 
tige, ist dein Helfer, und vor Ihm müssen zu Staub zerfallen 
alle Feinde. 

16. April. Chinesische Städte. Chinesische Städte sind 
vielfach der MyadierMadt im alten (Griechenland gleich. Diogenes 
gab ihr den Kat, die Tore gut zu schließen, damit die Stadt nicht 
fortlaufe. 

25. April. Schwalbennest. Heute mittag kehrte ich auf 
der Heise nach Dätja in ein \Yirt>haus ein. Im Gastzimmer war 
eben an einem Querholz ein Schwalbennest gebaut, und die Alten 
waren im eifrigen Fluge beschäftigt, den Jungen Nahrung herbeizu- 
holen. Besonders flciUig darin war eine der Schwalben, wahrscheinlich 



- 305 — 

wohl der Vater. Die andere setzte sich öfter an den Rand des 
Nestes und machte sich mit den Kleinen darin zu schaffen. Es 
schien mir als wache sie darüber, das keines der Kinder zurück- 
gedrängt würde, sondern daß jedes seine Portion mitbekomme. Auch 
sorgte sie für Reinlichkeit und zeigte überhaupt eine Liebe zu 
den Jungen, die den denkenden Menschen rühren muß. Die Kleinen 
aber fühlten sich da wohl und sicher im warmen Nestlein und taten 
nichts anderes als den Schnabel aufsperren und schlafen. Bisweilen 
schliefen sie so fest, daß die Futter bringende Schwalbe sie erst 
im Flüstertone aufwecken mußte. Dann fing die ganze Schar an 
zu piepen, und jedes Schwälbchen streckte den Hals hervor und öffnete 
den Schnabel. Das schöne Bild brachte mir die Fürsorge Gottes 
gegen uns arme Menschenkinder in lebhafte Erinnerung. Wir brau- 
chen eigentlich auch nur den Mund zu öffnen im andächtigen Be- 
gehren, in frommen Bitten, und allsogleich ist der Allgütige bereit, 
unsere Wünsche zu erfüllen. Ist das Schwalbenjunge oder das 
Spätzlein erst einige Tage aus dem Ei gekrochen, sind noch die 
Augen geschlossen: aber den Schnabel aufsperren kann es schon am 
ersten Tage. Und es sperrt ihn auf, unbekümmert darum, was ihm 
die Alten hineinlegen werden. Wir, Gottes Spatzen, sollten uns auch 
der liebenden Fürsorge des Allgütigen ebenso vertrauensselig über- 
lassen und nur eifrig den Mund aufsperren, d. h. fleißig beten, 
im übrigen aber ganz und gar mit dem zufrieden sein, was der 
Vater im Himmel uns zu schenken für gut befindet. Keine Schwalbe 
bringt etwas Unverdauliches oder gar Gift in den Schnabel ihrer 
Jungen : sollte der gute Vater im Himmel nicht auch in unseren 
Mund das legen, was am besten hineinpaßt — uns nicht das schen- 
ken, was uns am zuträglichsten ist? 

6. Juni. Ein treuherziger Selbstmörder. P. B. erzählte 

heute eine kuriose Geschichte, die ihm erst kürzlich passiert war. 
Er wurde zu einem Kranken gerufen. Es war ein Schwindsüchtiger, 
schon ziemlich bei Jahren, und auch seine Krankheit ließ keine 
Hoffnung auf Besserung mehr aufkommen. Her Kranke wurde mit 
den Sterbesakramenten versehen, die er auch mit großer Ehrfurcht 
empfing. Der ist gut aufgehoben und gesichert, dachte der Missionar 
beim Fortgehen, denn er wird es nicht mehr lange machen. Am 
anderen Tage ließ der Kranke seine Frau zu sich kommen. „Ka- 
tharina", hub er an, „ich habe vor, dich jetzt zu verlassen und wollte 
deshalb Abschied nehmen. Ich habe nun meinen Seelenzustand 
völlig in Ordnung gebracht, habe die Sterbesakramente empfangen, 

26* 



— 396 — 

und da, meine ich, hat es wenig Zweck, noch länger mit dem 
Sterben zuzuwarten. Ich bin dir doch nur zur Last und mein 
Leben hat wenig Zweck mehr. Also sei mir behülflich, ihm ein 
Ende zu machen. Reiche mir einen Strick her und hilf mir auf 
die Beine, daß ich mich dort an dem Balken aufhänge/ 

Die gute Katharina war natürlich sehr bestürzt ob solchen 
Ansinnens, und sie ermahnte ihren Mann, sie doch nicht verlassen 
zu wollen. Vielleicht werde er doch wieder gut, und sie diene ihm 
ja gerne. Doch der Kranke hatte seinen Entschluß fest gefaßt. 
Am anderen Morgen fand Katharina ihren Mann am Balken hängen, 
er war kalt und steif, auf seinen Zügen aber lag es wie Friede und 
Hoffnung. Da ist wohl kein Zweifel, daß er dort oben gut ange- 
kommen und auch einen gnädigen Richter gefunden hat. 

7. Juni. Das Tier lauert auf Beute oder stellt ihr nach. 

Das eine Tier versteckt sich in seinem Schlupfwinkel, es lauert 
und wartet auf die Beute, bis solche in seine Nähe kommt, dann 
erhascht es sie mit einem Sprunge, wie manche Spinnen und die 
Katzen es tun, oder es schnellt die Zunge heraus, wie ich soeben 
eine Eidechse über meinem Fenster solches tun sah. Das Tier 
verhält sich stundenlang in lethargischer Untätigkeit und Ruhe, 
aber der Anblick der Beute bringt so etwas wie Elektrizität hinein. 
Unwillkürlich bewegt sich der Schwanz oder die Hasch Werkzeuge, 
wie es bei Spinnen der Fall ist. 

Andere Tiere gehen auf die Beute los ; sie bewegen sich von Ort 
zu Ort, bis sie etwas gefunden. Nach St. Petrus soll der Teufel 
es auch so machen ; aber es gibt sicher auch Teufel genug, die in 
Schlupfwinkeln warten. Ihnen fällt der Unvorsichtige anheim, der 
freventlich die Gefahr der Sünde aufsucht und die Gelegenheit nicht 
meidet; sein Fall ist besiegelt. 

8. Juni. Reue erwecken bei alten Heiden. Schon öfter 

ist es mir vorgekommen, daß alte Heiden vor der Taufe nur schwer 
zur Erweckung der Reue zu bewegen waren. „Was bereuen", fragen 
sie erstaunt, „da wir doch unser Lebtag nicht gesündigt haben. Im- 
mer sind wir brav und tugendhaft gewesen, auch einem Kinde haben 
wir nie etwas zuleide getan. u Das Befragen nach Sünden ist 
meistens auch resultatlos. Sie verneinen alle nur möglichen Sünden 
und behaupten hartnäckig ihre Makellosigkeit. Dann bleibt nichts 
anderes übrig, als ihnen vorzuhalten, daß ihre größte Sünde darin 
bestehe, daß sie Gott nicht früher verehrt und gedient haben, 
daß sie so spät Christ geworden seien. Diese Schuld leuchtet ihnen 



— 397 — 

sofort ein, und sie bezeigen große Reue darüber. Der Missionar 
muß ihnen dann Akte der Reue vorsprechen, und er macht dann 
auch sonstige Sünden und Mängel namhaft und läßt sie mit in die 
Reue einschließen. Das Gewissen solcher Heidenveterane ist, wie 
es scheint, zu wenig ausgebildet oder ist völlig verrostet; vielleicht 
auch, daß ihnen die Erinnerung an die Vergangenheit durchaus abhan- 
den gekommen ist. Da muß Gott, der Allgütige, Gnade vor Recht 
ergehen lassen, wie es ja überhaupt bei jedem Sterblichen mehr oder 
minder der Fall ist, so lange er noch hienieden weilt. Misericordiae 
Domini, quia non sumus consumjrti. Gottes Erbarmung ist es, daß 
wir nicht ganz vernichtet sind! 

10. Juni. „Gefälligst wenden;" „Bitte wenden", „gefälligst 
wenden. u Solche Höflichkeit kommt mir geradezu lächerlich vor. 
Man betrachtet mich da als ein großes Kind, das den Verstand noch 
nicht, zu gebrauchen weiß. Interessiert mich die Sache aber so wenig, 
daß ich mit einer Seite Lektüre genug habe, so wird es mir nicht 
beifallen, die nächste zu lesen, wenn auch ein dutzendmal „gefäl- 
ligst wenden ", da unten am Räude steht. Nächstens wird man 
vielleicht noch beifügen: „Gefälligst aufhören" weil nichts mehr zu 
lesen dasteht, „Gefälligst Brille aufsetzen", weil man voraussetzen 
darf, daß der hochgelehrte Leser auch eine Brille trägt. So etwas 
ist krankhafte Überkultur und Damenhöflichkeit. 

15. Juni. Phantasie, Gedächtnis. Die Seele ist gleichsam 
eingeschlossen im Kerker des Körpers. Will sie mit der Außen- 
welt verkehren, so muß sie sich der Sinne bedienen. Durch die- 
selben nimmt sie die verschiedensten Eindrücke von außen auf. 
Diese Eindrücke gleichen buntfarbigen Mosaikstückchen, die das 
Gedächtnis in einem Haufen zusammenhält. Sache der Phantasie 
ist es nun, daraus Bilder zu machen. Dieselben werden um so 
schöner ausfallen, je wirksamer die Phantasie zu arbeiten versteht. 

17. Juni. Die Barmherzigkeit Gottes ist grenzenlos. 

Nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal sollen wir dem 
Nächsten verzeihen, wie der Heiland zu Petrus gesprochen. Gott 
aber ist unendlich in allen Seinen Eigenschaften, also auch in 
Seiner Güte und Seinem Erbarmen. Er wird deshalb dem reue- 
vollen Sünder nicht nur siebenmal verzeihen, sondern siebenzig- 
mal siebenmal, und wenn das noch nicht genügt auch noch weit 
öfter, wenn anders der Sünder aufrichtigen Herzens voll wahrer 
Reue zurückeilt in die Vaterarme Gottes. 



— :um _ 
18. Juni. Der Glaube im gereiften Alter. Wenn in den 

jungen •Iiilirt'ii der Glaube in« kl:ir«- Bewußtsein übertritt, d. h. wenn 
mau anfängt im sinnigen Nachdenken sich in die Glauben* Wahr- 
heiten xu vertiefen, dann ist es, als oh sich dem jugendlichen Ge- 
miite eine neue, wundervolle Welt iTiiffiifti'. So z.B. wirkt die 
Gegenwart Jesu im heiligsten Sakramente der Eucharistie ganz 
besonders mächtig auf da**elhe. Ich könnt«' es nie so recht be- 
greifen, wenn gcistlii he Herren in der Predigt oder im kateche tischen 
rnterrichte auf den im Tabernakel gegenwärtigen Heilande nicht 
öfter Itexug nahmen; vielfach vom Heilande sprachen, der einst, 
geleht in Judäa und jetzt im Himmel sitzt zur Hechten des Vaterst 
vom Heilande in nächster Nähe aber schwiegen. Ich hätte mich 
dann oft gerne an Stelle des Geistlichen setzen mögen um hinzu- 
zufügen: „lud dieser nämliche Heiland ist jetzt unter uns, ist ganz 
nahe hei uns Kr weilt hier im Tabernakel.* 

Vom m"i d weltlichen Studierstalc aus in Steil konnte ich in der 
Ferne eine Ivirchturmspitze erblicken. Ich weili nicht mehr, wie 
das Dorf hieli, e« mulite aber ziemlich entfernt liegen, denn man 
-ah nur zeitweilig und nur ein wenig davon. (Ks war nicht Barloo.) 
rnzählige Male Uf diese Kirchtiirmspitze für mich ein Gottesfinger 
geworden, der nach oben zeigte. So oft ich sie sah, gedachte ich 
des Heilandes, der dort im Sakramente gegenwärtig war, vielleicht 
ganz allein und unbesucht, und ich schickte dann im Geiste meinen 
Schutzengel hin, statt meiner eine kleine Anbetung zu machen. Über- 
haupt gedenke ich bei meinen Gebeten gerne bekannter Kirchen 
und versetze mich im Geiste in dieselben und besuche den dort 
weilenden eucharistischen Heiland. Es ist freilich ja ein und der- 
selbe Heiland, aber jede Gegenwart im Sakramente »Seiner Liebe 
ist gleichsam ein neuer spezieller lieweis Seiner Liebe, für welche 
Ihm auch eigens gedankt werden sollte. 

18. Juli. Toilette und Liebkosungen der Tiere. Die 

Maultiere vertreiben sich die Langeweile, indem sie sich gegenseitig 
Toilette machen. Die Ochsen tun das mit der Zunge, Pferde und 
Esel bedienen sich der Zahm». Das Gefühl des Wohlbehagens, 
welches das eine Tier dem anderen damit verursacht, ist die Trieb- 
feder solcher Zärtlichkeiten, denn sobald das eine weniger eifrig ist 
im Heilien oder Lecken, laut auch das andere nach. 

Gutes tun, Wohltaten erweisen, einander freundlich sein, beruht 
bei den Menschenkindern meistens auf Gegenseitigkeit. So etwas 
ist ge wohnlich die Triebfeder, wenn jemand Geschenke gibt oder 



- 399 — 

Komplimente macht. Aber das sind denn doch keine Geschenke 
mehr, sondern nur Ausgaben, gegen welche wir uns wieder einzahlen 
lassen wollen. Und doch sollte sich unter Christen auch die selbst- 
lose Liebe finden; die Liebe der Gegenseitigkeit ist der Natur an- 
geboren, wie sie auch das Tier hat und der Heide. 

26. Juli. Wespen. Es gebraucht die Wespe weder Konser- 
venbüchsen, noch Salz oder sonstige Mittel, um die Nahrung, die sie 
ihrer Brut im Gehäuse von Lehm aufgespeichert hat, vor Fäulnis 
zu schützen. Wie wunderbar! Öffne die lehmerne Hütte, und es 
bewegt sich darin von Raupen, Spinnen und anderem Getier. Die 
Bewegungen sind nur schwach, aber man sieht, es wohnt noch Leben 
in dem Gewürm. Erst bei genauem Nachsehen bemerken wir die 
winzig kleine Made, für welche all dieser Lebensvorrat hinterlegt 
wurde, und die sich zu einer vollständigen Wespe entwickelt ha- 
ben wird, wenn der Vorrat verschwunden ist. Ja wunderbar ist 
die Allmacht des Allerhöchsten und preiswürdig auch in der armen 
Wespe, denn Er hat ihr den Stachel gegeben, ihre Beute zu betäu- 
ben und den Instinkt, sie nicht zu töten, damit die kleine Wespe 
in Windeln immer frische Nahrung finde. Dank Dir, Allgütiger, 
denn es war doch Deine Absicht, daß Du zwei Wespen in meinem 
Zimmer ihre Wohnung anfertigen ließest und durch ihre Arbeit 
mich wieder erinnertest an Deine Güte und Allmacht. Soll der 
arme Menschenwurm da zweifeln und verzagen, wenn es nicht regnen 
will und die Saaten verdorren. 

27. Juli. Schwarze Wolken, weißer Schnee. Der dur- 
stige Wanderer erblickt in wasserloser Wüste am Horizonte Palmen 
und Wasserquellcn. Schnell eilt er hinzu; doch er sieht sich 
getäuscht; was er geschaut, war nur eine Fata Morgana. — Schwarz 
sehen wir die Wolken am Himmel hängen, und doch senden sie 
uns den blendend weissen Schnee. Unser Auge läßt sich leicht 
täuschen und trügen, darum vertrauen wir uns am besten der Obhut 
Dessen an, Der jedes Ding durchschaut in seinem wahren Werte und 
Dem offen liegen die geheimsten Palten des Menschenherzens. 

28. Juli. Eine Weide auf dem Grabe. Heute mittag, 

als ich von Kuentsch'öng nach Puoly zurückkehrte, erblickte ich in- 
mitte des Feldes auf einsamen Grabe eine alte Weide mit tief her- 
abhängenden Zweigen, auf denen ich vierzehn Raben zählte, die dort 
wie in stiller Betrachtung saßen, weit den Schnabel geöffnet, denn 
die Luft glühte, als sei sie dem Backofen entströmt. Das Bild regte 
mich zum Nachdenken an. Mittagsschwüle und Mittagsruhe: hoch 



— 400 — 

im Räume die Wuchter des Toten, der schon viele viele Jahro dort 
im einsamen Felde fern von <l<*n Seinen geruht. Wahrscheinlich int 
es ein Vater gewesen oder eine Mutter, und der sc h merzerfüllte 
Sohn hat beim Abschiede vom Urabe dort eine Weidenrute einge- 
steckt. Sie hat Wurzeln gefaßt, ist gewachsen und hat Nahrung 
gesogen von dem Toten drunten in der Knie, und jetzt hat der 
Baum Hchon seihst die Höhe meines Lehens überstunden und reckt 
dürr gewordene Äste in die Luft, während sich andere traurig zu 
Hoden Henken. 

30. Juli. Durstige Tiere. Das unvernünftige Tier hört auf 
zu trinken, wenn sein Durst gestillt ist, während der vernünftige 
Mensch noch Durst zu verspüren glaubt, wenn seine Vernunft schon 
längst umnehelt ist. Aher Durst muh das liehe Vieh nicht selten 
leiden, hrennenden Durst, weil die Sonne so glühend brennt. Und 
nicht als wenn das Tier Ansprüche machte auf einen Krug Bier oder 
«»ine Kanne Kaffee: nein, nur Wasser will es haben, ganz gewöhn- 
liches, aus dein Brunnen oder Teiche; aber es kann nicht sprechen, 
kann nicht bitten, und der unvernünftige Mensch ist denkfaul genug, 
dafür zu sorgen, daß der armen Kreatur bescheidenes Verlangen 
gestillt werde. Fast regelmäßg muß ich meinen Fuhrmann daran 
erinnern, daß er halten bleibt irgendwo im Dorfe bei einem Brun- 
nen, und es kommt mir voi wie eine (Juttat, die ich geübt, wenn 
ich dann das Pferd oder den Maulesel mit so vielem Wohlbehagen 
trinken sehe»; dem armen Schlucker aber, der den Eimer geholt 
und das Wasser geschöpft aus dem Brunnen, verabreiche ich dafür 
2 -3 Käsch mehr; davon will aber der Fuhrmann nichts wissen. Man 
dürfe die Regel nicht verderben, sagt er; die Kegel aber diktiert 
2- -3 Käsch, und das sei genug. Als wir gestern auf das Schiff 
stiegen, um über den Huangho zu setzen, sah ich es meinem Pferde 
an, wie es so gerne Wasser gesoffen, aber es wagte sich nicht 
an den Rand des Flusses. Als es dann auf die Fähre gesprungen, 
ließ es den Kopf traurig hängen. Das Übersetzen über die Flüsse 
bedeutet für die Tiere immer einen Ruhepunkt in ihrem rastlosen 
Arbeiten. Das ist auch wohl der Grund, daß sie im allgemeinen 
nicht gerne den halsbrecherischen Sprung machen, um auf die 
Fähre zu kommen. Ein europäisches Tier würde sich kaum dazu 
verstehen, und man begreift nie so recht, wie es zugeht, daß bei 
diesem Springturnen nicht mehr Unglück vorkommt. 

15. August. Hoffen und Bangen. Der chinesische Land- 
mann lebt in beständigem Hoffen und Bangen. Die Natur gibt sich 



— 401 — 

hier nur im großen. Setzt Trockenheit ein, so sieht man kein Ende. 
Wochen- ja monatelang sehnt sich alles nach Regen. Aber es ist, 
als ob ein Schirm ausgebreitet sei unter dem hohen Firmamente. 
Die Wolken ziehen trocken vorüber, und alle Regenzeichen sind 
unzuverlässig geworden. Schließlich beschleicht das Gemüt stum- 
me Resignation, man fügt sich in das Unvermeidliche. Und fällt 
dann endlich das langersehnte Naß, so ist es, als wolle keine rechte 
Freude mehr emporkommen ob all des vergeblichen Hoffens. Erst 
wenn die Natur wieder neu belebt wird und fröhlich ergrünt, freut 
man sich doch, und ist dankbar für die Gabe Gottes. Kein Jahr 
geht vorüber, das nicht unter dem Zeichen der Hoffnung stände 
und der stillen Befürchtung. Naturgemäß bleiben solche Eindrücke 
auch mehr oder minder im Gemüte haften, zumal wenn es recht 
empfänglich ist. Ein Kind der Natur ist aber jede denkende Men- 
schenseele. Wie die Trockenheit die Fluren ausdörrt und den Schmelz 
auf Blättern und Blüten verwischt, so verliert auch der Mensch von sei- 
ner Frische, wenn er ständig unter solchen Naturverhältnissen lebt. 
Wochenlang lechzt die Saat nach Regen ; kommt er dann endlich, ist 
es oft zu spät, oder er verwandelt sich in Ströme und Seen, welche die 
Saat im nassen Grabe ersäufen. Dann allerdings muß man sich am 
meisten über die stoische Ruhe des chinesischen Bauern wundern, 
wie er sich sonder Murren in sein hartes Schicksal ergibt, wieder 
— hoffend auf ein besseres Jahr. 

19. August. Philipp am Sterben. Heute nachmittag starb 
der elfjährige Philipp des Tschang-tjen-tu. Noch wenige Stunden 
vorher war ich bei ihm gewesen und hatte ihm die heilige Ölung 
gegeben und ihn getröstet und ihm auch aufgetragen, er möge im 
Himmel Fürsprecher für mich sein und für seine Eltern und für die 
ganze Gemeinde Puoly. Er versprach, für uns alle zu beten und 
war ganz zufrieden, daß ihn der liebe Gott so früh zu Sich nehme. 
Ich schickte ihm dann ein wenig zartes Fleisch, das er auch mit 
Appetit verzehrte, ebenso aß er noch eine Viertelstunde vor seinem 
Tode ein Stück Wassermelone. Es ist, als ob sich das frische 
Leben bis zum letzten Augenblicke sträube, von der jugendlichen 
Leibesbehausung Abschied zu nehmen, und während schon die 
Wände in Trümmer sinken, wird noch gleichsam eine Kelle Kalk 
angeschmiert, die gleich mit zugrunde geht. Schon des öfteren habe 
ich bei den Chinesen, besonders bei jugendlichen Personen die Beob- 
achtung gemacht, daß sie bis zur letzten Stunde noch Appetit nach 
Sachen verspüren, die sie in ihrem Leben nur höchst selten oder gar 



— 4*rJ — 

iiii ht zu -« hui'"« k'-n l»--k- *Mi?fi*-ri li iIm-h. Man möchte meinen v der welke 
I --- 1 *• -Ai.llt- di«- - lj«-i«l--:*-l-- >.-i-|.- fj-M }i dundi i-ini-n gufr'n Bi«*-en n 
•*t-A i- l.'iii^-!*-in \ •ta-:!- ri jnl'H K'-ir. \"i«-ll»-:--Sii i-t ••• aur-h die See]*-. 

■*•■!• h«- «li»- L-il :mi:- it.-vk.-ji ij...}i /a k-»-H'ii. <i;i in Bälde die 

Z»*it •!••- Iv« i«t--fj- und <i'iii';»«-!i- •••nm-i i-t. 

I* r k!»-ii»«- I'liiiij'ji Aar i-in h: i ■••■.» Jijii^*. uohl der Ifc— v- tob 
nh-u -•-Hi-ii •■•-•;h"AJ»i«-fii. Kr-t kürz!;- h hin»- »t -i*di darauf gefreut. 
ImMuu Altar«* di»-n»-n /n ■ 1 jj f f- - Fi . >--iih-«T -i«li uüi-in-t gefreut habend 
\" M-il»-i< IjT dar? • ■! j*-r/? '»«»hj J I i : i i n.-l iu- h*-iiii fi*-ili^*-n Mpfi-r die* De« 
und -A»'ili aN kl*-:n—r KüiT'-l i"*;:u Altar»- uml liilft »einen kleinen 

Kam*-rad-n uri-ji-Liii-ir-T W.-i-.«. A-nn «ii al- Meüdiener tätig find. 

!• h li.it t»* ilmi /-Ai-j Tai:»- Y«if »••;iit-!n T«nlf rJi«* »-r-te hl. Koniiuv- 
fj i- 'ii il- \V.-^/.»lifurn' i r '-ti:ai|]t. und -.-in»* Mn-» liüler beteten <üu 
I mt j ui Zimni-r. ah d i- kr.ink-- Kind \a'j. «li#- Ilankgehef. Leb wohL 
kl»in*-r ]'fii!i]i]i. '•••!j iit" un- K-b und bli-ilii- -t»-t- mit un* vereint! 

20. August. Ein Greis aus Kuentsch'öng. Heute \*m 

•-.'! il!«'.' M ii:ü au- y>-u*\i\»-n und hat um Aufu ihme in- (irei*ena£rL 

• ■•-!•-! i --¥ -Auril- •■: Viiii -•■!n-:i: >.!.!•■■. d-r -■■Imii -i*lh«t unter dem 
n.M,.-k'- d»-: J ihr •- ^.- : i.-u-:t ••jr:!.-r j.v^ : »r zählt»- l».-r-it- 72 Jahre, 
■Aähp-nd --in Vai'-: ■■iü lii-i- v..n *•»; .1 liir-n i-t. Armer Mann. 
•i H ht<- i« h. -A.i- ii .-: -in Aiiii :i..jit -•■.■•n all«- in deinem Leben 
al- ll*-id- -jj t -lur« 'u- :r. -•!,:. _"•! Tr«-n. l'- -k»-:»-t. y-Xil führt dich die 
V..:-.-i;ijrii' zur Mi— ".•■:.. d mii: du a:n L<-h»'n-.ibende n<x-h Den 
k»-ji!i-»j 1-rn-t. !»■■: d:i d :« L- 1 --»! :;■— -h.-iikt. und in I)e*-i.-n Hände 
«Iu •-- i-a! i wi.Mj.-r zurii"-kir--ii--ri :iiu:.-t. 

V-i?-r und S"hr: 1j:it:«-j: • ■;■..■ Ii»>- \'.n 1^ .Stunden gemacht 
ijn |ji'-r!:'-r zu j*-) an^-n : «1 r »-i Tl"* !; i t t«-ij -i»- «lazu i:»'l»raueht, was 
fü: «1-ü Ait-n j-«k-ii?aii- k. -]u*- kl-iri" L'-i-tun^ w.ir. Vom Hause 
A.tr«-!i -U- v»-riri- l M-n dur» !j *li" FIut-ti «!••• fn-lb'-n Flus-e^. der 
■!iii-n biün-n •■:n«-r !ialb-n St u !:'!■- all"- ^- raubt hatte. ^*]l^t den 
-:. , i^*-h-i , jj-:«-n W-iz-n. Mit knapper N^t li:tt»'n -ie ihr Leben 
^-i.-it'-t ujjii -tand«'ji dann hr«^tl-#- und r-ttl*»s auf dem rlubufer und 

• ih-n iJi- -iiir::j-iiil»:ii Klut'-n »i— Flu dahin- liaunu-n. der sie zu 

]j'-ttl»-rn ^e;n ä':ht lütte. Ji-h li i!m- d-:n Alt»*n wi-nisr^ten« vorläufig 
' »tjd.i'h L'*rAährr im ^rn-i-'-n a-yl. S«. wepl«-n di»- Wa— er der TrütaaL, 
dit* fib«-r ihn h»-:«'in^«-bp»-li»-n. auch dazu di«*n»*n. lim durch die 
Wa— i-r d-r hi-ili^-n Tauf»' zu -in^:n Kind«- Outte- umzugestalten 
und iim sfM'-klich zu njd«h"n für <-in- K'^i^k'-it. 

22. August. Chinesischer Bauernstand. Traurig, daß 

g'-nde d*-r Bauern -t and. d-m chy.h jeder andere Stand so riel zu 



— 403 — 



verdanken bat, kämpfen muß um seine Existenz und sein Fortkom- 
men, wie sonst kaum ein ander! In Europa braucht man nur die 
Klagen der Bauern zu hören, nicht wie sie in den Kneipen (dorthin 
geht überhaupt kein ordentlicher Bauer) oder hinter dem Bierkruge 
oder der Schnapsflasche geführt werden, sondern wie sie der nüch- 
terne, aufrichtig denkende und handelnde Landmann voll der Le- 
benserfahrung mit schwerbewegtem Herzen unterbreitet und nur 
düster in die Zukunft schaut, da — wie er sagt — es für ihn kaum 
mehr^einen Ausweg gibt. Getroste dich, mein Freund : Es gibt anders- 




Ein chinesischer Bauer beim Pflügen. 

wo Genossen die einen noch härteren und erbitterten Kampf um 
ihre Lebensexistenz zu führen gezwungen sind, als du. Es sind die 
Bauern-Kollegen in China. Willst du ihr Elend erfahren, so komm 
abends her und wache die Nacht hindurch; dann hörst du keine 
Bierbankpolitik zum besten geben, noch auch schwere Anklagen 
gegen die Regierung oder Volksvertretung, die den Bauer auf 
keinen grünen Zweig kommen läßt. Du hörst schießen aus allen 
Himmelsgegenden, und es ist, als ob die ganze Windrose mit Sol- 
daten besetzt sei. Wer führt den erbitterten Kampf? Der chine- 
sische Bauer gegen die Räuber, die im Dunkel der Nacht die 
Erzeugnisse seines Schweißes, seines Ackers stehlen oder gar rauben 
wollen. Bei Tage muß Frau oder Kind Wache halten, er aber muß 
hart arbeiten. Willst du tauschen mit dem chinesischen Bauer? 
Und Steuer muß der chinesische Bauer zahlen, einerlei ob 
das Land Erzeugnisse geliefert oder nicht; ob dieselben vertrocknet, 
vom Wasser überflutet, von Hagelschlossen vernichtet oder von Die- 
ben gestohlen sind. Wer hat die meiste Ursache zu klagen; der 
Bauer im Reiche der Mitte oder der Bauer anderswo auf dieser 



— 404 — 

elenden Erde? Zu bemerken i-t aber, cl.ili der chinesische Bauer 
gar nicht klagt, -« »iifi«-rn -ich in Jim!»-. Geschick fügen kann, selbst 
wenn i*r in einer Nacht /.um Itettler wird, weil ihm alle* geraubt 
oder vnii dem Wa— er de* Gelben Flu— es fortgeschwemmt i>U 

23. August. Chinesische Selbstmörder. Wer nimmt sich 

in China da- Lehen 'r I)er Hazatd-picler. weil er das letzte Tausend 
eingesetzt und jetzt aim geworden wie ein StralJenbettler und nicht 
den Mut hat. sein Leid zu trafen, da« er doch selber verschuldet? 
Nein! Audi der < 'Innere verspielt hi-w eilen alles was er hat; ja 
-ogar -ein Hemd, das er tragt. Hat er aber nii-liN mehr zu ver- 
-pi«-li-ri. dann zieht er M>i:ar -ein Hemd au- und geht als Bettler 
auf «Mi» Stralie und d<*nkt. ich habe es gewollt und leide nun, 
w.h ich -elher ver-dmldete. 

Oder nimmt >idi -elhst da- Leben der Familienvater, weil er 
keinen Ausweg mehr sieht für sich und die Seinen? Und da er 
auch die Seinen nicht in Elend wi— en will, legt er gar die frevelnde 
Hand an Frau und Kind, die letzte Kugel für sich aufbewahrend? 
Nein! Solch** Familien- Dramen gibt es im heidnischen China nicht. 
Lieber hungern, frieren und betteln, ja verhungern und verelenden, 
al- sich und den Seinen da- Teuerste zu nehmen, das Leben. Wer 
in China Hand an -ich -eiber legt, tut e- meistens aus Rache, uin 
seinen Gegner in- Elend zu -türzen. und für ndi selbst ein nobles 
Begräbnis damit heruu-zu-chlagen. So tun es mit Vorliebe junge 
Frauen, denen die Schwiegermutter das Leben verbittert hat. 

24. August. Chinesen-Beten. Di«' Gründe des Christwer- 
dens eiit-tammen bei vielen Chinesen nicht aus dem Geiste und 
der Wahrheit, darum beten -ie audi nicht im Geiste und in der 
Wahrheit: sondern ihr Gebet ist vielfach nur ein Lippengebet, eine 
Korperarbeit, wobei der Gei-t gar nicht oder doch nur sehr wenig 
beschäftigt i>t. l'nd gebetet wird vielfach nur. nicht um des lieben 
Herrgotts halber, >ondern weil es einmal so Sitte ist, oder dem 
Missionar zugefallen, auf dessen Unterstützung man hofft. Hoffartige 
Seelen beten auch wohl, und gerne recht laut und anhaltend, um 
ihre schone Stimme hören zu lassen, um »ich selber zu hören, und 
statt, dali der Geist dann bei Gott weile, weilt er bei sich, streut 
sich selber Weihrauch: und auch ein solches Gebet wird nicht im 
Geiste und in der Wahrheit verrichtet und ist nichts als eitel Lip- 
pengetön und Zungengekrachze. 

4. September. Jonas-Atmosphäre. Wenn es heißt Reisen 
machen, muli ich wohl so etwas wie Jonas- Atmosphäre um mich 



— 405 — 

verbreiten. Nicht ohne Ursache nennt man mich den Pechvogel, 
aber das Pech faßt nicht immer mich allein, sondern auch bisweilen 
meine Umgebung. Kaum hatte ich mich heute zu Pferde gesetzt 
und war zum Tor hinausgeritten, kam das Tier zu Fall, wobei mich 
Mutter Erde bald in den Armen hielt. Zum Glück kam ich mit 
einer kleinen Verstauchung am großen Zehen davon. Ist mir selber 
das Glück hold, und bleibe ich unbehelligt von allerlei Mißbill, dann 
können sich meine Reisegefährten darauf gefaßt machen. Ein Laien- 
bruder, der kürzlich einen kleinen Abstecher mit mir machte in 
einen anderen Missionsbezirk, wurde unterwegs vom Typhus befallen. 
Ein Mitbruder, mit dem ich voriges Jahr einige Tage auf dem Kai- 
serkanal herumsegelte, wurde von der Malaria arg mitgenommen. 

9. September. Scherben. Vergeblich hatten wir uns heute 
nach einer Herberge umgesehen. Bis zum nächsten Dorfe muß- 
ten wir noch fast zwei Stunden machen, und es war schon Mittag. 
Die Tiere waren müde und hungrig, und dabei war es recht heiß, 
als ob die Herbstsonne zeigen wollte, ihre Herrschaft habe noch 
lange kein Ende. 

Gott behüte dich du guter Mann, der du den herrlichen 
Akazienbaum gepflanzt hast hart am Rande des Weges. Schon so 
manchem Wanderer hat er Kühle gespendet in der heißen Sommer- 
zeit, und auch uns ladet er ein, ein wenig auszuruhen unter den 
dicht belaubten Zweigen, die sich über unserem Haupte ausbreiten. 
Meine Leute knobern am harten Brode, das wir so eben im Dorfe 
gekauft, unsere Pferde grasen am Wege; zwar ist es nicht viel, 
was dort steht, aber geduldig nehmen sie auch mit dem wenigen 
vorlieb. Ich setze mich auf einen Stein und lehne mit dem Rücken 
gegen den dicken Baumstamm. Vor meinen Füßen liegt eine Scherbe. 
Eine Schüssel ist es wohl ehemals gewesen, d. h. in Verbindung 
mit den anderen Scherben, die, weiß Gott, anderswo liegen. Eine 
blaue Blumenzeichnung hat ihr ehemals zum Schmuck gedient; an 
der Scherbe zu meinen Füßen ist nur eine halbe Blumenknospe 
mehr übrig. Und die schaut mich so bedächtig an, als hätte sie 
recht viel zu erzählen aus der „guten alten Zeit*. So komm denn, 
du alte Scherbe, in meine Hand und berichte, was du erlebt; es 
ist stille um uns her, und keiner wird dein Geflüster stören. 

Hier den Weg, den du Wanderer heute gemacht, habe auch 
ich einstens gemacht, vor hundert Jahren. Zu vielen Genossen 
waren wir zusammen gepfergt und mit Stroh festgebunden auf einem 
Karren, und schon drei Tage lang hatten wir darauf ausgeharrt, ehe 



— um — 

wir hierher gelangten. l T nsi»r Srhicher ruht«» auch unter dorn Bau- 
me liier au*, der damaN iimli ein junges Sräinrii<*luMi war und Kom- 
plimente machte vor jedem Winde-diauch. Noch wurden wir eine 
Stunde weit ges« hohen, dann harrte unser die Krlösung. Man be- 
freite uns von den Strohfe-ocln, -teilte uns auf einem Murktplatze 
in Keih und (Mied auf, und lange muhten wir so dastehen, ehe wir 
weiter wandern konnten, lud all die treuen Gefährten huIi ich 
allmählich scheiden, einen mich dem andern. Und als unser nur 
mehr seehse übrig waren, kaufte uns ein Hauer, dessen Junge uns 
im kleinen Körhrhen narh Hause trug, Ich und mein nächster 
Kamerad muhten alUofort in Dienst treten, während die anderen 
vier heiseite gebellt wurden unten in den alten Schrank. Keinen Tag 
blichen wir heide da mehr verschont, und so oft es /um Essen oder 
'Flinken ging, muhten wir antreten. Kinmal aber, und das war mein 
Verhängnis, überschüttete man mich mit einem Mcdizingcbruu, da« 
den kranken Hauer wieder heilen sollte. Oh es ihn aber geheilt 
hat, weih ich nicht, denn kaum hatte er mich niedergestellt an den 
Hand fies Tisches, da kam die Katze he (angesprungen, die schon 
so oft von meinem Inhalte gemischt ; ihr Sprung aber kostete mir 
das Leben. Ich fiel zu Hoden und bisher eint 1 Schüssel wurden 
wir fünf Scherben. Wäre der Hauer nicht gar so krank gewesen, 
er hätte sicher gräulieh geflucht; statt seiner tat es denn die 
Häuerin, als sie hereinkam und das l'nglück sah, das mir pas- 
siert war. Die Katze, der du* Fluchen galt, hörte es nicht mehr, 
denn sie war längst ins Freie geeilt ; es war nicht das erste Mal, daß 
sie eine Schüssel zerbrochen, und weil sie dann jedesmal eine Tracht 
Schläge bekommen, war sie dir>mal wohlweislich der Gefahr entron- 
nen. Die Häueriu legte uns Scherben zusammen unter den nämli- 
chen Schrank, in dem ehedem die anderen Gefährten gestanden, 
die aber auch schon längst ins tätige Leben übergegangen waren. 
Jetzt hatten wir Zeit zum Ausruhen; doch tat die Ruhe nicht gut, 
da der feuchte Hoden, auf dem wir lagen, uns recht zusetzte. Ein 
Glück, dah bald ein Kleiu>chmied ins Dorf gezogen kam; er sollte 
uns wieder die alte Facon geben und zu einer Schüssel umgestalten, 
wie wir ehedem gewesen. Freilich muhten wir es uns gefallen lassen, 
dah man uns Löcher in das Fleisch bohrte und dann mit messingenen 
Klammern verband; und wo wir nicht mehr rcwht zusammen paßten, 
wurde Kitt in die Wunden eingelassen, und so aufgeputzt ging es 
wieder in (hm alten Dienst. Ja, mein«; Bestimmung war fürderhin 
noch eine vorteilhaftere; ich wurde nur mehr als Teetasse benutzt, 
und es ist nicht zu sagen, wie viel edles Xah man über meinem 



— 407 — 

Rand geschlürft, besonders zur Sommerzeit und wenn Gäste 
kamen. Ich bekam darob allmählich einen braunen Habit, aber 
das machte mich meinem Prinzipal nur noch lieber. Einmal, 
als eine Klammer nicht mehr zusammenhielt, wurde eine neue 
eingefügt, allmählich aber fingen auch die anderen Klammern 
an locker zu werden, und weil man es unterließ sie zu erneuern, 
nahmen sie eines guten Tages Reisaus. Ich war eben mit Tee 
gefüllt; ein Gast wollte mich zum Munde führen — da erreichte ihn 
das Geschick: statt daß der Tee seinen Durst stillte, schüttete er 
seinen Schoß damit voll; aber auch mein Geschick war nunmehr 
beschlossen: Da die Klammern ihren Dienst versagt, fielen wir fünf 
Scherben wieder auseinander und am Boden waren unser doppelt so 
viele. An eine Aufbesserung war nun nicht mehr zu denken; 
wir Scherben lagen da am Boden wie ein Häufchen Elend im Naß 
des vergossenen Tees, und unser Hausherr war zornentbrannt, denn 
es war ihm unangenehm wegen des Gastes, der seine Kleider voll- 
geschüttet. Unter Fluchworten wurden wir mit einem Besen zu- 
sammengefegt. Diesmal galten die Fluchworte dem Tassenflicker, 
weil er seine Sache nicht besser gemacht; und so mußten wir unter 
Schimpf und Schande Abschied nehmen aus dem ungastlichen Heim, 
in dem wir mehr als zehn Jahre im Dienste gestanden. Hätten 
wir wenigstens jetzt noch eine ehrenvolle Ruhestätte gefunden! Aber 
nein, man warf uns auf den Auskehrichthaufen, von wo wir bald 
in die Düngergrube wanderten und von dort aufs Feld, hier auf 
den Acker nebenan. All meine Gefährtinnen, die verschiedenen 
Tassenscherben, wanderten auseinander, und viele Jahre lagen wir 
still im Acker begraben. Nur hie und da legte uns die Pflugschar 
auf die andere Seite oder ritzte die Egge über unsere Rücken. 
Noch lange hätten wir da ausruhen können, wenn dem Bauer nicht 
beigefallen wäre, auf seinem Acker es auch mal mit Erdnüssen zu 
versuchen. Als die nun im Herbste reif geworden, wurde die oberste 
Bodenschicht durch ein Sieb geworfen; die Ackerkrumen gingen 
durch das Sieb, die Nüsse aber und wir Scherben blieben darin. 
Da zeigte es sich denn auch, eine wie große Menge Scherben im 
Acker vergraben lagen, und es war mir sogar vergönnt, zwei meiner 
Genossinnen wiederzutreffen. Man trennte uns von den Nüssen; diese 
wanderten in den Sack, wir Scherben aber wurden hier beisammen 
unter den Baum geschüttet. Da liegen wir nun, werden zertreten 
und allerhand Unbilden ausgesetzt. Alljährlich sehe ich auf dem 
Acker hier den Bauer arbeiten, dessen Ur-Urgroßvater Tee aus mir 
geschlürft, da ich noch Tasse wai\ Dieser Bauer da würdigt mich 



— 408 — 

keines Blickes mehr, und auch selten, daß mich jemand betrachtend 
zur Hand nimmt, wie du, Wandersmann, es heute getan. Habe 
Dank dafür; habe dir jetzt auch genug erzählt, nur muß ich noch 
erwähnen, daß zwei meiner Gefährtinnen auch von hier Abschied 
nahmen. Eine hob ein Altertumsforscher auf, weil sie einen 
Stempel trug, der eine Rarität bildet; und die andere sammelte 
ein Apotheker, welcher dieselbe zermalmen wird, um das Pulver 
auf Brandwunden zu streuen. — 

„Habt Ihr Euer Brot verzehrt ? u „Steigen wir auf, haben jetzt 
genug gerastet \ u Du Scherbe aber sollst es fortan besser haben; 
werde dich zu Hause auf die Fensterbank legen; dort ruhe dann 
weiter aus, und harre der Geschicke, die deiner noch warten. 

15. September. Letzter Tag der Exerzitien. „Ecce, colu- 

mnam ferream dedi te. u „Siehe, ich mache Dich zu einer ehernen 
Säule. u Der liebe Gott hat uns Priester, uns Missionare zu Säulen 
gemacht. Auf unseren Schultern soll das Heil vieler ruhen, auf 
unsern Schultarn will er gleichsam den Bau seiner heiligen Kirche 
weiterführen. Eine Säule aber hat eine wichtige Aufgabe: sie trägt; 
und fängt sie zu wanken an, so wankt vielleicht der ganze 
Bau und fällt in Trümmer, zumal, wenn sie einen hervorragen- 
den Platz einnimmt in der Konstruktion des Ganzen. Eine Säule 
aber, die stetig allerlei Witterungseinflüssen ausgesetzt ist, wird 
allmählich anfangen, zu bröckeln oder morsch zu werden und somit 
sich und den Bau, der auf ihr ruht, in Gefahr bringen. Was muß 
da geschehen ? Sie muß alljährlich einen neuen Anstrich bekommen, 
alljährlich neu gcfirnist werden. — In den heiligen Übungen nun, 
soll auch unsere Seele gleichsam einen neuen Anstrich bekommen, 
neu gefirnist werden, damit die Witterung keine verderblichen Ein- 
flüsse ausüben kann. Aber die Seele da drinnen in der Behausung 
des Leibes, von allen Seiten sorgfältig verschlossen: zu der hat 
doch weder ein Sonnenstrahl noch ein Regentropfen, ja nicht ein- 
mal der Mark und Bein durchfahrende Nord Zulaß und Einkehr. 
Ja und doch: Die Witterungseinflüsse, welche auf unsere Seele 
eindringen, sind geistiger Natur, und die Seele kann sich wohl da- 
gegen schützen, nicht aber völlig absperren. Und mag sich die 
Seele auch noch so sorgsam bergen, sie wird es nicht verhindern 
können, daß sie bald den Schnupfen im Kopfe oder die Gicht in 
den Beinen hat. Ich rede in Bildern; jeder aber wird das Bild ver- 
stehen, wird auch begreifen, von welchen Witterungseinflüssen ich 
spreche, die die Seele angreifen. Die Versuchungen, welche die drei 



— 409 — 

Feinde uns bereiten, das sind die verderblichen Witterungseinflüsse, 
welche das Wohlergehen der Seele gefährden. Und wer hält sich 
da frei, wer bleibt unbehelligt? 

21. September. Buchweizen. Einen ungemein winterlich 
traurigen, demütig bescheidenen Anblick gewährt das Feld mit blühen- 
dem Buchweizen. Nur das Gesumme der Bienen« erinnert daran, 
daß es nicht Schnee ist, was das Auge erblickt, sondern unzählige 
kleine Blüten, aus denen sich ebensoviclo Körner bilden, eine Speise 
für die Armen. Stolz wogt das Roggen- und Weizenfeld unter dem 
Hauche des Windes, der darüber hinwegstreicht, und die Ähren 
flüstern und neigen die Köpfe gegeneinander, wie schwatzende Wei- 
ber, die sich Geheimnisse erzählen. Der demütige Buchweizen 
spendet Nektar der emsigen Biene, Nahrung dem frommen Klausner 
auf Bergeshöh oder dem weltentlegenen Ansiedler, der dort wohnt, 
wo der Reiche nicht wohnen, und der Weizen nicht wachsen will. 

22. September. Kriechendes Elend. Das Tier geht auf 

vier Beinen und ist in dieser Stellung unvermögend, sein Haupt 
emporzuheben zu seinem Schöpfer. Heute sah ich eine Menschen- 
kreatur, die infolge eines physischen Fehlers auf den Knieen und 
Händen über den Boden kroch, wobei die Fußspitzen als stützende 
Schieber dienten und den Anschein gaben, als gehe der Mann auf 
sechsen. Der Mensch, für den Himmel geschaffen und so nahe der 
Erde, dachte ich mir, und nicht einmal imstande, sein Haupt em- 
porzurichten zu seinem Herrn und Schöpfer, den er auch nicht 
kennt, denn der Arme war ein Heide. Vielleicht stirbt er als solcher, 
und was wartet dann seiner in der Ewigkeit? Ist denn sein Los 
hinnieden viel besser gewesen wie das des elenden Wurmes, der 
am Boden kriecht, und sollte man nicht wünschen, daß nach seinem 
Tode es ihm auch ergehen möchte wie dem stummen Wurme, der 
da stirbt im Staube und damit aufgehört hat zu leben? — Herr du 
Allmächtiger, wir danken Dir, daß Du uns Dein Antlitz geoffenbart 
hast, daß wir Dich kennen : möchten wir Dich auch wahrhaft lieben, 
damit wir würdig sind, Dich ewig zu loben und zu preisen in einer 
glücklichen Ewigkeit. Im übrigen aber bekennen wir von ganzem 
Herzen: Recht sind Deine Urteile und unerforschlich Deine Wege! 

23. September. Das wetterwendische Füllen. Auf meiner 

Reise nach Tsi-ning ritt ich ein Pferd, das besondere Anziehungs- 
kraft für ein Mauleselfüllen zu haben schien. Eben bestellte ein 
Bauer seinen Acker, und als Gespann hatte er vor dem Pfluge eine,, 
dickbeinige Kuh und eine altershchwächliche Rossinante, deren letzter 

H. Pieper, .Nene Bändel*. 27 



- 410 — 

Sprosse übermütig und lebenslustig im Felde herumtrollte. Sobald 
das Füllen mein Pferd gesehen, lief es hinter ihm her, bisweilen 
eilte es auch mal voraus und gab sich alle erdenkliche Mühe, 
meinem Schimmel seine Anhänglichkeit zu bezeigen und ihm Auf- 
wartung zu machen. Der Schimmel allerdings schien wenig Ver- 
ständnis dafür zu haben; ruhig ging er seines Weges weiter und 
war stumm und* taub gegen alle Komplimente, die das junge Tier 
von vorne und hinten machte. Der Bauer geriet in halbe Verzweif- 
lung, als er das Füllen uns nachlaufen sah. Mein Begleiter suchte 
es umzutreiben, aber vergeblich; ich ließ es meine Peitsche fühlen, 
aber dann lief es vornauf nur um so schneller. Der Bauer rief 
und lockte immer lauter und eindringlicher, aber auch daraus machte 
sich das Füllen nichts. Dann ließ er seinen Pflug mitsamt dem 
Gespann stehen und eilte uns nach; aber er begriff bald, daß er 
mit seinen alten Beinen uns nicht einholen werde. Schließlich sahen 
wir nichts mehr vom Bauer, hörten auch , seine Lockrufe nicht 
mehr, das flegelhafte Tier aber lief immer weiter voran. Mehrere 
Leute, die uns begegneten, baten wir, es umzutreiben, doch brachte 
es keiner fertig. Als wir schon wohl einen Weg von l ! / 2 Stunde 
zurückgelegt haben mochten, blieb es plötzlich stehen und begann 
zu wiehern; dann sah es sich in die Runde um und machte in wildem 
Galopp Kehrt. Die alte Mutterliebe war plötzlich von neuem er- 
wacht, der Reiz des Neuen war verschwunden. 

„Wenn die Heiden doch auch so gerne Christ werden möchten 
als das Füllen uns nachläuft", meinte mein Begleiter. Ich antwortete 
ihm nichts darauf. Als das Tier wieder Kehrt gemacht und in 
hellem Galopp davon lief, sagte ich ihm: „Schau da: So ein Christ- 
werden hätte wenig Zweck." 

29. September. Steinsärge bei Tung-ngO-hien im Hohl- 
wege. Der Weg von Tung-ngo-hien nach Tung-p' ing-t&chou führt 
durch Berge. Viele Jahrhunderte wird derselbe benutzt sein, denn 
stellenweise ragen zu beiden Seiten haushohe Wandungen empor, 
und nur das Stück Himmel über dem Haupte gewährt Fern- und 
Aussicht. Begegnen sich in solcher Wegesschlucht zwei Gefährte, 
dann muß eines wieder umkehren, aber keines von beiden mag sich 
dazu bequemen, und es bedarf vieler Auseinandersetzungen, Schimp- 
fereien und bisweilen sogar Keilereien, ehe man sich über diesen 
Punkt geeinigt hat. Um solche unliebsame Begegnisse zu vermei- 
den, schreien die Fuhrleute aus Leibeskräften, sobald sie in den 
Hohlweg eingebogen sind, um den Ankömmling zeitig zu warnen. 



— 411 — 

Vielfach erblickt man ain Rande des Wege« Steinplatten aus 
dem Boden ragen, die sargartig aufeinander gelegt sind. Und in 
der Tat handelt es sich um Tote, die dort begraben sind. Schon 
Jahrhunderte, vielleicht gar Jahrtausende haben sie dort geruht, 
und ihr Staub hat sich längst mit der Erde vereinigt, die in dem 
steinernen Behälter liegt. Aus welcher Zeit diese Art der Beerdi- 
gung stammt, wissen die Chinesen selber nicht zu sagen. Heutzutage 
ist sie nicht mehr gebräuchlich. Die Steinplatten aber rufen dem 
Wanderer im Hohlwege ein stummes Memento mori entgegen, 
aber die Tausende, so da vorübergehen, hören es nicht und haben 
keine Zeit und Lust, an den Tod zu denken, bis auch sie vom 
Sensenmann erfaßt sind, und der ewige Richter das furchtbare 
„Rcddo rationein* „Gib Rechenschaft" ihnen entgegenruft. 

1. Oktober. Ein Kind, das den Vater schlug. „Kind 

mache einmal das Kreuz", sagte ich heute zu einem kleinen Mädchen, 
das an der Hand seines Vaters geführt zu mir ins Zimmer kam. Es 
geniert sich, meinte der Vater; ich muß ihm das sagen, dann wird 
es sicher ein Kreuz machen und auch beten, denn es kann schon 
eine Reihe Gebete. „Anna mache das Kreuz", befahl er dem Kinde. 
Aber auch die Worte des Vaters blieben unbeachtet und das Kind 
wandte den Kopf weg. „Mache doch das Kreuz ", wiederholte der 
Vater. Statt nun sein Händchen zu erheben und zur Stirne zu 
führen, holte es aus und schlug den Vater auf die Wangen. Dieser 
neigte verlegen seinen Kopf zur Seite, das kleine Geschöpf aber 
hatte seinen Willen erreicht. — Wer nicht hören will, muß fühlen, 
dachte ich ; das Sprichwort gilt in jeder Beziehung. Wer die Kin- 
der nicht zum Gehorsam erzieht auch dann schon, wenn sie klein 
sind, wird beizeiten fühlen müssen, daß er nicht seine Pflicht 
getan. Wo er das Gefühl des Kindes in unverständiger Liebe 
schonen zu sollen glaubte, wird er selber dereinstens bittere 
Reue empfinden und am eigenen Leibe oder im Herzen die 
Schläge fühlen müssen, die er dem lieben Kinde absparen wollte. 
In ernsten Worten machte ich das dem Vater klar, und er gab 
mir recht. 

15. Oktober. Elstern, Raben und Spatzen. Elstern und 

Raben und Spatzen sind die treuen Genossen der Chinesen im Win- 
ter. Auch im Frühling und Sommer ist China recht arm an Sing- 
vögeln. Freilich auch der Chinese hat Gefallen an dem Gezwitscher 
der befiederten Sänger, und wo er nur kann, verschafft er sich ein 
Privat-Konzert derselben, indem er auf eigene Kosten sich ein 

27* 



— 412 — 

Kanarienvogelchen oder einen Beiling halt — mancher nimmt sogar 
mit einem Spatzen vorlieb — denn da draußen gibt es weder Wald 
noch Busch, und deshalb finden die Vögel kein Unterkommen oder 
doch nur ein sehr dürftiges, und haben deshalb auch keine Freude 
an dem prosaischen China. Nur die Lerche trillert wohlgemut ihr 
Morgcnlicd im Ackerfelde, aber auch sie sucht der Chinese in seinen 
Käfig zu sperren, wie auch sonst kein Vögle in vor ihm sicher ist. 
Seine standigen Genoasen freilich, die Raben, Elstern und Spatzen 
erfreuen sich gemeiniglich eines ungestörten Daseins; ja man findet 
in Städten oft Bäume, in denen mehrere Dutzend Raben ihre Be- 
hausung gebaut haben, ohne «laß es dem verwegensten Buben ein- 
fiele, auch nur einen Stein nach ihnen zu werfen. Und wenn gegen 
Abend das krächzende Volk aufzieht, um im alten Stadtgemäuer 
oder in Pagoden sein Nachtquartier aufzusuchen, kann man sie 
oft zu Tausenden zählen und noch weit mehr, so daß man sich 
unwillkürlich sagt: „Wo hat das liebe Vieh heute doch nur seinen 
Tisch godeckt bekommen?" Die heilige Schrift gibt uns Antwort: 
Lobet, den Herrn, der . . . dem jungen Raben seine Speise gibt. (Ps. 
14.) Oic Kistern sieht man nur mehr vereinzelt; aber sie haben 
in ihrem Auftreten, in Gang und Bewegung nichts weniger als das 
Bescheidene eines stillen Klausners, vielmehr das trittsichere Stol- 
zieren einer selbstgefälligen Stadtdame, die sich vom großen Pöbel 
trennt und in Selbstbewunderung ihre einsamen Spaziergänge macht. 

19. Oktober. Allerhand Aussatz. Die heilige Schrift spricht 
im Buche Leciticux (14, 3. 5. etc.) von einem Aussatze der Häuser 
und gibt Verhaltungsmaßregeln, wenn der Aussatz irgend ein Gebäude 
ergriffen hat. Mit solchem Aussatze behaftete Wohnungen findet 
man hier in Menge. Es ist dieses der Salpeter, welcher bei trockener 
Witterung aus dem Boden hinaufsteigt und alles Gestein, das nicht 
ganz fest ist, allmählich zerfrißt. Zuerst und am leichtesten bemäch- 
tigt er sich der Wände, die aus Lehm oder Erde sind. Solche 
Wände fallen unter seiner Einwirkung in wenigen Jahren zusammen. 
An den Bauten aus Backsteinen zerfrißt er zunächst die nicht ganz 
durchbackenen Steine, welche dann allmählich in Staub zerbröckeln 
und im Gemäuer allerhand Höhlungen entstehen lassen. Ein von 
solchem Aussätze behaftetes Haus macht in der Tat einen kranken 
Eindruck und hat viele Ähnlichkeit mit dem Armen, den der wahre 
Aussatz ergriffen. Wenn der Boden einmal durch und durch ver- 
salpetert ist, gibt es kein anderes Mittel, das Emporsteigen des 
Aussatzes u zu verhüten, als daß man eine Isolierschicht auf den 



- 413 - 

Grundmauern anbringt. Es sind dafür feste Bruchsteine geeignet; 
das gewöhnliche Volk aber benutzt für seine Lehmhütten eine Schicht 
Schilf oder auch dünne Bretter. Im Winter aber, wenn der Salpeter 
stark an die Oberfläche tritt, wird er mit einem Besen abgefegt, 
gekocht und gereinigt und dann verkauft. Arme Leute verdienen 
sich auf diese Weise einen kargen Unterhalt. Oft findet man weite 
Strecken Landes von Salpeter verseucht, und wo er die Oberhand 
gewinnt, wächst kein Getreide mehr, und die Gegend sieht wüsten- 
artig öde aus. Wo man seiner aber Herr werden kann, wird die 
aufsteigende Salpeterschicht immer von neuem abgefegt, oder man 
häuft die oberste Erdschicht wallartig um den Acker an und pflanzt 
(jinliu) Tamarisken darauf, die sich um so besser entwickeln, je mehr 
der Boden Salpeter enthält. Jeden Herbst werden dieselben abge- 
hauen und liefern dann ein gutes Brennmaterial. Im Sommer macht 
so ein von Tamariskenstauden umstandener Acker mit seinen zarten 
rosaroten Blüten und dem krausen Grün einen ungemein hübschen, 
wohltuenden Eindruck. Aber' ebenso öde und trostlos sieht er im 
Winter aus. Die dünne Schicht Salpeter, welche sich dann hier und 
da an der Oberfläche zeigt, ähnelt dem Schnee; aber er glitzert 
nicht in der Sonne. Es kommt ein zerlumpter Armer heran mit 
Korb und Besen und fegt den Boden ab. Eben da er seine Mütze 
lüftet, sehen wir seinen Kopf — ein treues Abbild des versalpeter- 
ten Bodens, den er fegt. Nur hier und da noch ein spärlicher 
Haarbüschel, sonst ist der ganze Kopf bedeckt von einer weißen 
Schicht, und gegen solchen „ Aussatz u bringen die chinesischen 
Ärzte vergebens ihre Quacksalbereien in Anwendung. Wer einmal 
mit diesen Kopfschinnen, oder wie die Kranheit heißen mag, behaftet 
ist, behält sie meistens das ganze Leben, und selbst wenn alle Haare 
verschwunden sind, bleibt die Haut noch von einer weißen schup- 
pigen Schicht bedeckt. Hat der Arme seine Arbeit getan, geht er 
heim. Folgen wir ihm nun, zu sehen wo er bleibt. Eine armselige 
Hütte aus Erde ist seine Behausung, und auch diese ist vom Sal- 
peter-Aussatze behaftet, wie sein Kopf und der Acker, den er so 
eben gefegt. Der schlimmste Aussatz aber hat seine Seele erfaßt: 
er ist Heide und Sünder und kennt den himmlischen Seelenarzt 
noch nicht, der da gekommen ist, auch ihn zu retten. 

22. Oktober. Alles vergeht, und auch die Erde hat 

keinen ewigen Bestand. „ Woher stammt die Erde mit allem 
was darauf ist, Lebendem und Totem und der Himmel über uns mit 
der Sonne, dem Monde und den unzähligen Sternen, die uns in 



— 414 — 

stiller Nacht entgegonfunkeln wie blinzelnde Augen, aus denen eine 
Seele spricht?* — „Das ist immer so gewesen", meinte der Heide, 
an den ich meine Frage gerichtet. — „Wird es denn auch immer 
so bleiben, auch dann noch, wenn tausend und viele Millionen Jahre 
verflossen sind?" — „0 ganz gewiß", behauptete der Heide, „wie 
sollte es überhaupt anders werden können?" Wir saßen unter einer 
alten Weide, während wir mit einander sprachen. Es war ein stiller 
schöner Mittag; die herbstliche Sonne schien warm und freundlich 
wie zum Abschiede. Von den Zweigen der Weide lösten sich hier 
und da Blättchen ab und schwebten sachte zur Erde. Eben fiel 
mir eines in den Schoß. Ich nahm es zur Hand, und es führte 
mich auf einen Gedanken, der die Fortsetzung unseres Gespräches 
bilden sollte. „Die Weide ist wohl schon sehr alt und hat sicher 
schon manchen Sturm erlebt und viele Herbste." — „Sicher wohl, 
denn ich habe sie immer so gekannt, und auch in den Tagen 
meiner Jugend hatte sie das nämliche Aussehen." — „Ob sie denn 
wohl immer so bleiben wird, auch nach Verlauf von 100 und 1000 
Jahren?" — „Das ist nicht möglich; früh oder spät wird sie einmal 
absterben, wenn sie unterdes nicht gefällt wird." — „Recht, mein 
lieber Freund. Nichts in der Natur hat ewigen Bestand. Die Le- 
bensdauer des Einzelwesens ist freilich verschieden ; dieses Blättchen 
hat nur 6 bis 8 Monate gelebt, und jetzt stößt der Baum es von sich, 
und es verendet im Staube am Wege. Und auch wir Sterbliche 
sind schließlich nichts anderes, als Blätter auf dem großen Baume 
der Menschheit. Sollte nun der Baum ewig bestehen, nachdem 
sich die Blätter jahrtausendelang abgewechselt haben im Entstehen 
und Vergehen? Die Spatzen, die über uns in den Zweigen des 
Baumes zwitschern, bekommen alle Jahre neue Federn, schließlich 
aber geht auch der Spatz zu gründe, nachdem er, weiß Gott wie 
oft, seinen Rock gewechselt hat. Dort der Bettler sitzt im warmen 
Sonnenschein und reinigt seine Kleider von Insekten. Den Tierchen, 
die auf seiner Haut groß gewachsen, ist eine kurze Lebensdauer 
beschieden, aber auch der Bettler selber muß dereinstens sterben, 
wie wir Menschen alle hienieden. Und was ist schließlich der Ein- 
zelne anders, als ein Insekt auf dem Leibe der Mutter Erde, die 
uns alle ernährt. Sieh, mein Freund, es vergeht alljährlich das Laub 
des Baumes, aber auch der Baum hat keinen ewigen Bestand. Es 
stirbt das Insekt, und das Haar fällt allmählich von unserm Haupte, 
nachdem es grau geworden oder weiß; aber auch wir selber wer- 
den früh oder spät sicherlich selber in Staub zerfallen. Und du 
meinst wirklich im Ernste, die Erde mit allem was darauf ist würde 



— 415 — 

ewig ihren Kreislauf machen? Das ist ebenso unmöglich, wie es 
unmöglich ist, daß sie von Ewigkeit her bestanden hat. Oder 
glaubst du, die Weide hier stehe da von Ewigkeit her, da du sie 
immer so gekannt hast, selbst aus den Tagen deiner Kindheit ?" 
— Der Heide mußte mir recht geben; ich hatte ihn zum Nach- 
denken veranlaßt, und das ist die erste Stufe fürs Christwerden. 

23. Oktober. Sprache des Händedrucks. Wie beredt 

ist doch die stumme Sprache eines Händedruckes, zumal wenn 
es die zitternde Rechte eines Sterbenden ist. Es heißt ja die 
Schwelle überschreiten, welche das Diesseits vom Jenseits trennt, und 
der Händedruck bedeutet ein Scheiden, nach welchem es erst ein 
Wiedersehen gibt über den Sternen. 

Komme soeben von Petrus Yansiu in Yan-tfa-kao. Der Arme 
hat heute zum ersten Male nach vielen Jahren wieder gebeichtet. 
Die Boxer hatten ihn seinerzeit eine Strecke mitgeschleppt und ihm 
mancherlei Schikane bereitet, aber anstatt Nutzen aus seinen Leiden 
zu schöpfen und sie als Christ geduldig zu ertragen, hatten sie ihm 
das Christsein einigermaßen verleidet. Doch hat der Herr noch in 
letzter Stunde Erbarmen gehabt mit dem Armen und ihn nicht um- 
sonst leiden lassen. Seine nächsten Verwandten, die noch im Hei- 
dentume leben, waren durchaus dagegen, daß man den Priester rufe. 
Alles Bitten und Weinen des Kranken war umsonst; im übrigen 
suchte man seine Wünsche zu erfüllen, aber das sehnliche Verlangen 
nach dem Missionar blieb unbeachtet. 

Zufällig kam ein Christ des Weges daher und hörte, wie eine 
Stimme aus dem Inneren jener Hütte „Schenfu, Schenfu," rief. 
Er ging hinein und sah dann den totkranken Yansiu auf seinem 
Lager liegen. Er kannte ihn von früher her und begriff nun sofort, 
daß der Kranke nach dem Priester verlange. Eben trat wieder die 
älteste Tochter des Kranken ins Zimmer; als sie hörte, daß der 
Missionar geholt werden sollte, setzte es natürlich viele Gegenrede 
ab, aber es war zu spät. Eine Stunde nachher stand ich neben 
dem Sterbenden; er ergriff meine beiden Hände und benetzte sie 
mit Tränen. In China ist es nicht gebräuchlich, die Hand zum Ab- 
schiede oder Willkomm zu bieten, noch viel weniger aber, dieselbe 
zu küssen. Doch die Sprache des Herzens ist überall dieselbe und 
wird auf der ganzen Welt verstanden. Und das Herz des guten 
Hirten hat Erbarmen mit jedem Schafe, das reuig zurückkehrt an 
Sein Gottesherz. — Yansiu beichtete, empfing die Sterbesakramente, 
und am anderen Morgen hauchte er froh und friedlich seine Seele aus. 



24. Oktober. Erhangt. Viermal hatte X. die heilige Ölung 
empfangen; aber der Tod wollte nirht koimnon und ihn erlösen 
von seinem langwierigen Leiden. Dazu kam noch eine Armut, die 
ihm jede Erleichterung unmöglich machte, ja seihst den nötigen 
Lehensunterhalt ihm fast vorenthielt. Die Frau diente bei einem 
Reichen als Nährmutter, seine beiden Kinder waren bei unseren 
Waisenkindern untergebracht. Die Frau war den kranken Maun, 
der ihr jahrelang zur Last gewesen, schon langst müde; er hatte 
sie am Morgen um ein Krötcheii gebeten, aber statt dessen hatte 
sie ihm ein saueres (tesicht gemacht und harte Worte gegeben. 
Als sie abends nach Hau*e zurückkehrte, fand sie den Kranken 
— erhaugt. 

25. Oktober. Lazarus und der Reiche. „Es war ein rei- 
cher Mann, der kleidete hcIi in Purpur und feine Leinwand und 
hielt alle Tage herrliche Mahlzeiten." (Luc. 10. 10.) Solche Reiche 
gibt es auch in unserem Zeitalter noch genug, nur mit dein Unter- 
schiede, dali sie sich noch bessere Stoffe umhängen als Purpur 
und feine Leinwand, und dal) die Frauen bei solchen Mahlzeiten 
den Vorsitz und Vorrang haben, wovon allerdings bei dein Reichen 
in der heiligen Schrift keine. J{ede ist. 

„Es war auch ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor 
des Reichen Türe." Arme giht es auch heutzutage noch genug, 
nur dürfen sie dem Reichen nicht mehr vor der Türe liegen, sonst 
treibt die Polizei sie fort, und auch die Hunde werden heutzutage 
wenig Neigung mehr verspüren, den Armen die Geschwüre zu 
lecken, dafür ist das Ifundegeschlecht zu hoch gestiegen in der 
Kultur und in der Achtung der Reichen. 

In China allerdings sind die Verhaltnisse noch mehr patriar- 
chalischer Art, ähnlich wie zur Zeit Jesu. Da darf der Bettler un- 
geniert seine Wege gehen, und mancher halt vor der Türe der 
Reichen seinen Nachtschlaf, und auch die Hunde sind hier weniger 
verwohnt. 

4. November. Herbstlich Laub. Es raschelt das dürre Laub 
vom herbstlichen Winde getrieben in die tief geschnittenen Rader- 
spuren der Wege und in die gepflügten Furchen des Landes. Dort 
sucht es sich ein Grab, und es knistert wie aufseufzend im Tode, 
wenn der Wagen darüberher fahrt. 

Sonnenaufgang. Ein machtig wirkender Anblick ist es, 
wenn in bescheidenen Umrissen feurig rot der junge Tag herauf- 
dämmert, und der Morgenstern hoch darüber flammt. Treu hält er 



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aus auf seinem Plane, wenn auch schon alle Sterne Abschied ge- 
nommen ; erst dann schwindet er, wenn die Sonne in voller Pracht 
erschienen und er, ihr schmucker Bote, ihr einen guten Tag 
gewünscht. 

Bauer — Städter. Breitschultrig, dickknochig, fest auf den 
Beinen erscheint uns der stämmige Bauer; fern von der Großstadt, 
einsam auf seinem Gehöfte waltend, ist er ein treues Abbild der 
Cypresse, die vereinzelt oder doch nur zu wenigen Paaren — am 
Wege und auf Grabhügeln steht. Der Wind kann sie von allen 
Seiten packen, aber auch von allen Seiten saugt sie Sonnenlicht 
ein und Leben. Schmächtig und schlank, mit bleichen Wangen 
und dürren Fingern ist uns das Stadtkind bekannt; ihm gleicht die 
zur Stange emporgeschossene Tanne. Sie war ja umschlossen von 
allen Seiten und stand im Gedränge großer Gesellschaft, hatte nur 
freien Ausweg nach oben und unten und mußte sich ihr Lebens- 
dasein erkämpfen. 

5. November. Des Menschen Verhältnisse. Die Ver- 
hältnisse machen den Menschen vielfach zu dem, was er ist. Der 
arme bestaubte Steinklopfer an der Straße würde vielleicht Minister 
sein, wenn er in besseren Verhältnissen gelebt, wenn er dann und 
dort geboren wäre, wo der Lebenspfad in höhere Lebensregionen 
führt. — Und der gebückte Straßenfeger könnte wo möglich statt 
seines Besens den Bischofsstab in der Hand halten, wenn ihn das 
Schicksal in Verhältnisse gebracht, wo seine Anlagen und Neigun- 
gen zur Entwickelung gelangt wären. 

Ein herrlicher Herbsttag ist heute. Kein Wölkchen am Him- 
mel ; milder Sonnenschein erwärmt die stille Luft. Er hat auch den 
bunten Schmetterling aus seinem Verstecke gelockt, der sich freudig 
im Sonnenschein herumtummelt. Er sucht nach einer Blume, aber 
die sind längst verblichen. Ich sehe ihn auf einen dürren Grashalm 
sich niedersetzen; dann fliegt er weiter und entschwindet im herbst- 
lichen Laube. einer Weide meinen Blicken. — Für so manchen Staub- 
gebornen ist das Leben ständiger Herbst; keine Blume öffnet sich 
seinem traurigen Dasein, das er als Straßenfeger oder Steinklopfer zu 
Ende lebt. — Gott sei gedankt für diesen Christentrost : Ein golde- 
ner Frühling winkt uns allen, einerlei in welche Bahnen uns 
das Schicksal gelenkt. Es kommt nur darauf an, daß jeder seinem 
Ziele treu entgegensteuert, der eine mit dem Hammer oder 
Besen; der andere mit dem Bischofsstabe, alle aber zur größe- 
ren Ehre Gottes. 



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6. November. Die Sorgenlinien haben sich geglättet. 

„Die Sorgenlinien haben sich geglättet", ^souuin chin k'älio" das ist 
in China der stereotype Ausdruck, um zu bezeichnen, daß es mit 
dem Kranken zu Ende geht. Also begleitet die Sorge den Sterb- 
lichen hienieden bis zum Abende seines Erdenwallens und verläßt 
ihn nicht eher, bis der Tod seine kalte Hand gelegt auf die in 
Schweiß gebadete Stirne. Die Sorge schreibt überall auf der Welt 
ihre Runen in das Antlitz des Erdenpilgers, bald mit dem harten 
Griffel der Not und Entbehrung, bald mit dem sammetweichen 
Pinsel der Sünde und des Lasters. Der Tod glättet dann als milder 
Freund die sorgenvolle Stirne, und der kalte Angstschweiß verwischt 
die letzten Spuren: es ist überstanden. 

7. November. Wolkengebilde. Der Allmächtige zerlöst 
nicht minder leicht die hochgetürmten festen Massen der Gebirge 
in Erz und Stein, denn die luftigen Gebilde der Wolkenberge am 
hohen Himmelsgewölbe. Sieh die Ameise, die wir Mensch nennen, 
im Staube wühlend und Berge bauen und Türme, die zum Him- 
mel reichen: Ein Hauch aus Seinem Munde; und alles ist vernichtet 
als ob es eitel Wolkengebilde gewesen. 

9. November. Kleine Statur. Große Bauten, große Reparatu- 
ren. Wohnt die Seele in einem hochstöckigen Turme, bietet der- 
selbe viele Angriffspunkte für die Außenwelt, und geht es ans 
Reparieren, muß immer mehr Mörtel und Material gebraucht wer- 
den, als wenn die Seele mit einer kleinen bescheidenen Wohnung 
vorlieb nimmt. Es ist auch, als ob sie darin besser Herr im Hause 
bliebe. So ein großer Menschenturm repräsentiert sich mehr als 
Materie, und es muß schon eine große Seele darin hausen, mit 
vieler Willenskraft und Energie, wenn ihn das fleischliche Element 
nicht unterkriegen soll. Und dann erst die vielen täglichen Repara- 
turen, die sich so ein Goliath zulegen muß in Speise und Trank, 
damit er nicht baufällig werde ! Da will es mir scheinen ein kleiner 
Mensch oder höchstens einer von gut normaler Eörperlänge sei 
besser bestellt, als jene aus dem Geschlechte der Riesen. Man 
findet deshalb auch nicht selten, daß große Männer dem Körper 
nach klein waren. Und was die „Japaner-Zwerge* vermocht, davon 
wissen die „Russen-Riesen" zu erzählen. 

15. November. Kastenstolz. Heute beobachtete ich ein 
anmutiges Bild vom Lande. Ein blutjunger, armer Leute Köter, strup- 
pig und abgemagert wie er war, freute sich doch seines Lebens und 
zumal seiner Jugend, indem er mit zwei Zicklein seine Neckereien 



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trieb. Das Ziegenpaar war Mutter und Tochter, und offenbar gehörte 
es besser situierten Leuten an, als es der Eigentümer des Hundes 
war. Wie ich die Tiere ihre Spielereien treiben sah, kam mir so 
recht zum Bewußtsein, daß selbst die vierbeinige Jugend nichts 
von Kastenstolz und vornehmem Eigendünkel weiß. Und bei der 
Menschenjugend ist es gerade so, es sei denn, die sehr zivilisierten 
Eltern haben sie schon beizeiten aufgeklärt, und der kleine Fleisch- 
protz wisse bereits, daß der Herr Papa ein fetter Geldprotz ist. 
Dann freilich will er nichts von armen Kindern wissen und fängt 
sich zu ekeln an und mag mit Kindern vom gewöhnlichen Schlage 
nicht mehr spielen. So ist's daheim in Europa und in China des- 
gleichen, denn „Menschen sind die Menschenkinder aller Zeiten 
aller Zonen." 

19. November. Briefschreiben. Das echte Briefschreiben 
ist in unserem Zeitalter viel seltener und weniger bedeutsam gewor- 
den wie ehedem, wo so ein Bricflein oft tage- ja wochenlang un- 
terwegs sein mußte, ehe es seinen Adressaten fand. Wir fernab 
in China fühlen es besser, was es auf sich hat* mit einem guten, 
von Herzen geschriebenen Briefe, dem man ansieht, der Schreiber 
hat sich die Zeit zum Schreiben genommen. Gewiß, einen guten 
Brief zu schreiben, kostet meistens etwas Überwindung, und über- 
winden tut man sich nicht gerne. Zudem hat man ja Karten, auf 
die nicht viel zu schreiben ist, und um den Raum noch beschränkter 
zu machen, ist ein Bild darauf gedruckt, so daß höchstens mehr 
ein Gruß Platz drauf findet. Und neuerdings gebraucht man gerne 
gedruckte Mitteilungszettcl, um ja nicht in den Verdacht zu kom- 
men, man habe einen Brief schreiben wollen. Zudem geht der 
Gedankenaustausch durch Telephon und Telegraph viel schneller 
von statten und so kommt es, daß das Briefschreiben immer mehr 
verlernt wird. 

4. Dezember. Menschliche Natur verdorben. Die Ver- 
derbtheit der menschlichen Natur zeigt sich auch besonders darin, 
daß wir bisweilen so etwas wie Selbstbefriedigung empfinden, wenn 
über einen andern, der uns weniger angenehm ist, mißbilligend 
gesprochen wird, und wir in der Neigung dann auch unser Ja und 
Amen zunicken.